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Fernando Pessoa

Autobiographie ohne Ereignisse

Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse und, wenn ich in ihnen nichts aussage, so, weil ich nichts zu sagen habe.

Fragment 12

19.3. 1930

Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum. Und weil der menschliche Geist von Natur aus dazu neigt, Kritik zu üben, weil er fühlt, und nicht, weil er denkt, wählten die meisten dieser jungen Leute die Menschheit als Ersatz für Gott. Ich gehöre jedoch zu jener Art Menschen, die immer am Rande dessen stehen, wozu sie gehören, und nicht nur die Menschenmenge sehen, deren Teil sie sind, sondern auch die großen Räume daneben. Deshalb habe ich Gott nie so weitgehend aufgegeben wie sie und niemals die Menschheit als Ersatz akzeptiert. Ich war der Ansicht, daß Gott, obgleich unbeweisbar, dennoch vorhanden sein und also auch angebetet werden könne, daß aber die Menschheit, da sie eine rein biologische Vorstellung ist und nichts anderes bedeutet als eine Gattung von Lebewesen, der Anbetung nicht würdiger sei als irgendeine andere Gattung von Lebewesen. Dieser Menschheitskult mit seinen Riten von Freiheit und Gleichheit erschien mir stets wie ein Wiederaufleben jener alten Kulte, in denen Tiere Götter waren oder die Götter Tierköpfe trugen. Da ich also weder an Gott noch an eine Summe von Lebewesen glauben konnte, verblieb ich wie andere Außenseiter in jener Distanz zu allem, die man gemeinhin Dekadenz nennt. Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewußtheit; denn die Unbewußtheit ist das Fundament des Lebens. Wenn das Herz denken könnte, stünde es still.
Was bleibt jemandem, der wie ich lebendig ist und doch kein Leben zu haben versteht – ebenso wie den wenigen Menschen meiner Art –, anderes übrig als der Verzicht als Lebensweise und die Kontemplation als Schicksal? Da wir weder wissen noch wissen können, was religiöses Leben ist, weil wir weder mit der Vernunft Glauben haben noch an die Abstraktion Mensch glauben können und nicht einmal wissen, was wir für uns selbst mit ihr anfangen sollen, blieb uns als Motiv für unsere Seele nur die ästhetische Betrachtung des Lebens. Und so ergeben wir uns, fühllos für das Feierliche aller Welten, gleichgültig gegenüber dem Göttlichen und Verächter des Menschlichen, der absichtslosen Empfindung, ohne daß dies einen Sinn hätte, und pflegen sie in einem verfeinerten Epikureertum, wie es unseren Gehirnnerven zugute kommt.
Indem wir von der Naturwissenschaft nur ihr zentrales Prinzip behalten, daß alles schicksalhaften Gesetzen unterworfen ist, auf die man nicht unabhängig reagieren kann, weil reagieren schon hieße, sie hätten unsere Reaktion bewirkt; indem wir außerdem feststellen, daß dieses Gebot mit dem anderen, älteren vom göttlichen Verhängnis der Dinge übereinstimmt, verzichten wir auf die Anstrengung wie Schwächlinge auf athletische Ertüchtigung und beugen uns über das Buch der Empfindungen mit dem großen Skrupel gefühlter Gelehrsamkeit.
Indem wir nichts ernst nehmen und unsere Empfindungen als die einzig gewisse Wirklichkeit betrachten, finden wir bei ihnen Zuflucht und erforschen sie wie große unbekannte Länder. Und wenn wir nicht nur Sorgfalt auf die ästhetische Betrachtung, sondern auch auf den Ausdruck ihrer Methoden und Ergebnisse verwenden, dann, weil die Prosa oder Verse, die wir schreiben, ohne fremdes Verständnisvermögen überzeugen oder fremden Willen bewegen zu wollen, nur wie das laute Vorsichhinsprechen eines Lesenden sind, das dazu beiträgt, dem subjektiven Genuß der Lektüre volle Objektivität zu verschaffen.
Wir wissen wohl, daß jedes Werk zwangsläufig unvollkommen und daß von unseren ästhetischen Betrachtungen die unsicherste diejenige ist, aus der heraus wir schreiben. Unvollkommen jedoch ist alles, es gibt keinen noch so schönen Sonnenuntergang, der nicht noch schöner sein könnte, keine uns Schlaf verschaffende Brise, die uns nicht einen noch ruhigeren Schlaf verschaffen könnte. Und so werden wir, gleichbleibende Betrachter von Bergen und Statuen, die Tage genießen wie die Bücher und alles vor allem zu dem Zweck erträumen, es unserer inneren Substanz anzuverwandeln und dazu Beschreibungen und Analysen erstellen, die, wenn sie erst einmal vorliegen, zu fremden Dingen werden, die wir genießen können, als stellten sie sich mit dem Verlöschen des Tages ein.
Das ist keine pessimistische Vorstellung wie die de Vignys, für den das Leben ein Gefängnis war, in dem er zum Zeitvertreib Stroh flocht. Pessimist sein heißt etwas tragisch nehmen, eine übertriebene, unbequeme Haltung. Wir besitzen, soviel steht fest, keinen Wertbegriff, den wir auf das Werk, das wir schaffen, anwenden könnten. Wir schaffen es, soviel ist sicher, um uns zu beschäftigen, aber nicht wie der Gefangene, der Stroh flicht, um sein Schicksal zu vergessen, sondern wie das junge Mädchen, das Kissen bestickt, um sich zu beschäftigen – und weiter nichts.
Ich betrachte das Leben als eine Herberge, in der ich verweilen muß, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft. Ich weiß nicht, wohin sie mich bringen wird, denn ich weiß nichts. Ich könnte diese Herberge als ein Gefängnis betrachten, weil ich gezwungen bin, in ihr zu warten; ich könnte sie auch als einen Ort der Geselligkeit ansehen, weil ich hier anderen Menschen begegne. Doch bin ich weder ungeduldig noch gewöhnlich. Ich überlasse die ihrer Neigung, die sich in ihr Zimmer einschließen, träge aufs Bett sinken und dort schlaflos warten, so wie ich auch die ihrem Treiben überlasse, die sich in den Salons unterhalten, aus denen Stimmen und Musik zu mir dringen und mich angenehm berühren. Ich setze mich an die Tür und berausche mich mit Aug und Ohr an den Farben und Tönen der Landschaft und singe langsam, für mich allein, undeutlich Lieder, die ich während des Wartens komponiere.
Für uns alle werden der Abend und die Postkutsche kommen. Ich genieße die Brise, die mir vergönnt ist, und die Seele, die man mir gab, um sie zu genießen, und ich hinterfrage nicht weiter noch suche ich. Wenn das, was ich ins Buch der Reisenden schreibe, eines Tages von anderen gelesen wird und sie während ihrer Rast unterhält, soll es gut sein. Lesen sie es aber nicht und finden kein Vergnügen daran, ist es auch gut.

 

2

Ich muß wählen, was ich verabscheue: das Träumen, das meinem Verstand verhaßt ist, oder das Handeln, das meiner Sensibilität zuwider ist; das Handeln, zu dem ich nicht geboren bin, oder das Träumen, zu dem niemand geboren ist.
Da ich beides verabscheue, wähle ich keines; weil ich aber mitunter entweder träumen oder handeln muß, vermische ich das eine mit dem anderen.

 

3

Ich liebe die Stille langer Sommerabende in der Unterstadt, und insbesondere dort, wo sie im größten Gegensatz zum lärmenden Tagesgewühl steht. Die Rua do Arsenal, die Rua da Alfândega und all die traurigen Straßen, die sich am Ende der Rua da Alfândega ostwärts ziehen, die lange, unterbrochene Linie der stillen Kais, sie alle trösten mich mit ihrer Schwermut, wenn ich mich an diesen Abenden in ihr Labyrinth der Einsamkeit begebe. Ich erlebe dann eine Zeit vor der meinen; genieße es, mich als Zeitgenosse Cesário Verdes' zu fühlen und in mir nicht nur andere Verse als die seinen zu tragen, sondern auch genau jenen Stoff, aus dem sie entstanden. Und gehe ich dort, bis es dunkel wird, begleitet mich ein Lebensgefühl, ähnlich dem dieser Straßen. Bei Tage sind sie erfüllt von einem Treiben, das nichts besagt; bei Nacht sind sie erfüllt von einem fehlenden Treiben, das ebenfalls nichts besagt. Bei Tage bin ich nichts, bei Nacht bin ich ich selbst. Es besteht kein Unterschied zwischen mir und den Straßen in der Umgebung der Alfândega, abgesehen davon, daß sie Straßen sind und ich Seele, was in Anbetracht des Wesens der Dinge vielleicht unwesentlich ist. Es gibt ein gleiches, weil abstraktes Schicksal für Menschen und Dinge – eine gleichermaßen gleichgültige Bezeichnung in der Algebra des Geheimnisses.
Doch da ist auch noch etwas anderes ... In diesen langsamen, leeren Stunden steigt die Traurigkeit meines gesamten Seins von meiner Seele auf in meinen Geist, das bittere Bewußtsein, daß alles eine Empfindung von mir und zugleich etwas Äußerliches ist, das zu verändern nicht in meiner Macht steht. Ach, wie oft entstehen meine eigenen Träume nur als Dinge, nicht um mir die Wirklichkeit zu ersetzen, sondern um mir zu sagen, wie sehr sie ihr gleichen, da ich sie ebenfalls ablehne und sie außerhalb von mir erscheinen, wie die Elektrische, die gerade um die Kurve am Ende der Straße biegt, oder die Stimme des öffentlichen Ausrufers, der ich weiß nicht was in den Abend verkündet, das sich gegen die Monotonie der Dämmerung abhebt wie ein arabischer Gesang, wie ein plötzlicher Fontänenstrahl.

Künftige Paare schlendern vorbei, Näherinnen gehen zwei und zwei vorüber, junge Männer eilen zu irgendeinem Vergnügen, von allem befreite Ruheständler rauchen auf ihrem täglichen Spaziergang, vor der einen oder anderen Tür stehen gedankenverloren und müßig die Ladenbesitzer.
Langsam nachtwandeln Rekruten – kräftige und schmächtige Burschen – in bald lautstarken, bald mehr als lärmenden Gruppen. Zuweilen erscheinen auch ganz normale Leute. Automobile sind hier zu dieser Tageszeit selten, klingen für mich wie Musik. In meinem Herzen herrscht ein beklemmender Friede, und meine Ruhe ist Resignation.
All dies geschieht, und nichts von alledem sagt mir etwas, alles ist meinem Schicksal fremd und sogar dem Schicksal selbst – Unbewußtheit, Flüche ohne Sinn und Verstand, als werfe der Zufall Steine, Echos unbekannter Stimmen – kollektiver Salat des Lebens.
(Veröffentlicht in der Zeitschrift Solução Editora 2 und 4, 1929)

 

4

...und bei der Erhabenheit all meiner Träume, Hilfsbuchhalter in Lissabon! Doch der Gegensatz zerreibt mich nicht – er befreit mich; und die Ironie, die in ihm liegt, ist mein Lebenssaft. Was mich herabsetzen sollte, hisse ich als mein Banner; und das Lachen, mit dem ich über mich lachen sollte, ist ein Fanfarensignal, mit dem ich eine Morgenröte, in der ich mich selbst erfinde, erschaffe und grüße.
Die nächtliche Seligkeit, groß zu sein, ohne etwas zu sein! Die ernste Herrlichkeit des unbekannten Glanzes ... Und mit einem Mal spüre ich die Erhabenheit des Mönchs in der Einsamkeit, des Eremiten in der Einöde, der weiß, daß Christus in den Steinen anwesend ist und in weltabgeschiedenen Höhlen.
Und an meinem Tisch in diesem absurden, schäbigen Zimmer schreibe ich namenloser kleiner Angestellter Worte, die die Rettung meiner Seele sind, und vergolde mich mit dem unmöglichen Sonnenuntergang über hohen, weiten, fernen Bergen, mit meiner Statue, dem Ersatz für die Freuden des Lebens, und meinem Ring des Verzichts, unerschütterliches Juwel ekstatischer Verachtung, an meinem Apostelfinger.

 

5

Vor mir, auf der Schräge des alten Schreibpults, liegen aufgeschlagen die beiden großen Seiten des schweren Hauptbuches, von dem ich mit müden Augen und einer noch müderen Seele aufblicke. Jenseits dieser Nichtigkeit reiht das Geschäft bis zur Rua dos Douradores die regelmäßigen Regale, die regelmäßigen Angestellten, die menschliche Ordnung und die Ruhe des Alltags. Das Geräusch des Vielfältigen brandet an die Fensterscheibe, und dieses vielfältige Geräusch ist ebenso alltäglich wie die Stille neben den Regalen.
Mit neuen Augen sehe ich die beiden weißen Seiten vor mir, in die meine sorgfältigen Zahlen die Bilanzen der Firma eingetragen haben. Und insgeheim lächelnd, denke ich, daß das Leben, das diese Seiten mit ihren Stoffbezeichnungen und Geldbeträgen beinhalten, mit ihren leeren Stellen und ihren mit dem Lineal und in Schönschrift ausgeführten Strichen auch die großen Seefahrer, die großen Heiligen, die Dichter aller Epochen mit einschließt, lauter Leute ohne Buchführung, die weitläufige, verstoßene Nachkommenschaft all derer, die den Wert der Welt ausmachen.
Wenn ich einen Stoff eintrage, von dem ich nicht weiß, wie er beschaffen ist, öffnen sich mir die Tore des Indus und Samarkands, und die Dichtung Persiens, die weder mit dem einen noch mit dem anderen Ort zu tun hat, ist mir mit ihren Vierzeilern, deren dritter Vers reimlos ist, eine ferne Stütze für meine Unruhe. Doch mir unterläuft kein Fehler, ich schreibe, addiere, die Buchhaltung wird fortgeführt und von einem Angestellten dieses Büros brav zum Abschluß gebracht.
(Veröffentlicht in der Zeitschrift Solução Editora Nr. 4, 1929)

 

6

Ich habe so wenig vom Leben erbeten, und selbst dieses wenige hat das Leben mir versagt. Einen Streif Sonnenlicht, eine Zeit auf dem Land, ein bißchen Ruhe und einen Bissen Brot, daß mich die Erkenntnis meiner Existenz nicht zu sehr belaste, daß ich nichts von den anderen erwarte, noch sie von mir. Selbst dies wurde mir verweigert, so als verweigere jemand ein Almosen, nicht weil er kein gutes Herz hätte, sondern um den Mantel nicht aufknöpfen zu müssen.

Traurig schreibe ich in meinem stillen Zimmer, allein, wie ich immer gewesen bin, allein, wie ich immer sein werde. Und ich frage mich, ob meine offenbar so unbedeutende Stimme nicht die Substanz Tausender Stimmen verkörpert, den Hunger Tausender Leben, sich mitzuteilen, die Geduld von Millionen Seelen, wie die meine dem alltäglichen Schicksal unterworfen, dem unnützen Traum, der aussichtslosen Hoffnung. In solchen Augenblicken schlägt mein Herz schneller, denn ich bin mir seiner bewußt. Ich lebe mehr, denn ich lebe größer. Ich spüre in meiner Person eine religiöse Kraft, eine Art Gebet, etwas, das einer Wehklage gleicht. Doch der Widerspruch steigt herab aus meinem Verstand … Ich sehe mich im vierten Stock in der Rua dos Douradores, bin müde bei mir und nicht bei mir; betrachte auf dem halbbeschriebenen Blatt das Leben ohne Fülle und Schönheit und den schlechten, aber erschwinglichen Zigarettentabak auf dem fleckigen Löschpapier. Ich hier, in diesem vierten Stock, und das Leben befragen!, sagen, was die Seelen der anderen fühlen!, Prosa schreiben wie Genies und Berühmtheiten! Ich, hier, – so! ...


aus "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" von Fernando Pessoa
Leinen mit zwei Lesebändchen
Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel
Längst gehört Das Buch der Unruhe zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß nun weitere 280 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut die Hälfte erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung. Fernando Pessoas Buch der Unruhe bildet damit den Ausgangspunkt für die "definitive Edition" seiner Werke im Ammann Verlag. In den nächsten Jahren werden sämtliche Werke des Portugiesen in erweiterten Fassungen und neu übersetzt herausgegeben. (Ammann)
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