Leseprobe aus "Die Welt des Juan Carlos Onetti"
von Mario Vargas Llosa
Eine
Reise in die Imagination
Begeben wir uns zurück in eine Welt, die so alt ist,
daß die Wissenschaft sie
noch nicht erfaßt, oder wenn, nicht überzeugend
erfaßt, weil ihre Thesen und
Spekulationen so willkürlich und vage sind wie Phantasie und
Imagination.
Man könnte sagen, die Zeit existiert hier noch nicht. Es gibt
noch keinen der
Bezüge, die ihren Verlauf markieren, und die Lebewesen haben
kein Bewußtsein
von ihrem Vergehen, von Vergangenheit und Zukunft, nicht einmal vom
Tod, so
gefangen sind sie in einer ewigen Gegenwart, die sie daran hindert, das
Vorher
und Nachher zu sehen. Die Gegenwart absorbiert sie so vollkommen mit
ihrer
Notwendigkeit, in der Weite der Welt zu überleben,
daß das Jetzt, der
augenblickliche Moment, ihr Dasein ganz und gar einnimmt. Der Mensch
ist kein
Tier mehr, aber es wäre übertrieben, ihn schon
menschlich zu nennen. Er steht
aufrecht auf seinen hinteren Extremitäten und hat begonnen,
Laute von sich zu
geben, zu grummeln, zu pfeifen, zu jaulen, und dazu zu gestikulieren
und
Grimassen zu ziehen, womit die Basis für eine Kommunikation
innerhalb der Horde
gegeben ist, der er angehört, hervorgegangen aus jenem
animalischen Instinkt,
der ihn momentan noch das Wichtigste lehrt, was er wissen
muß: Das, was
unverzichtbar ist für ein Überleben inmitten der
unzähligen Bedrohungen und
Gefahren in dieser Welt, in der alles - wilde Tiere, Blitz, Wasser,
Dürre,
Schlangen, Insekten, die Nacht, Hunger, Krankheit und andere Zweibeiner
wie er -
verschworen scheint, um ihm den Garaus zu machen.
Sein Überlebensinstinkt hat ihn dazu gebracht, sich der Horde
anzuschließen,
in der er sich besser verteidigen kann, als wäre er sich
selbst überlassen.
Aber diese Horde ist keine Gesellschaft, sie gleicht noch eher einer
Herde,
Meute, einem Bienenschwarm als dem, was wir Jahrhunderte
später eine
menschliche Gemeinschaft nennen werden.
Nackt oder, wenn die Unbilden des Klimas es erfordern, in Pelze
gehüllt,
befinden sich diese Rudel von Protomenschen in ständiger
Bewegung, ziehen zum
Jagen und Sammeln unablässig umher auf der Suche nach
unberührten
Landstrichen, um Nahrung zu finden, die sie der Natur entnehmen, ohne
sie zu
ersetzen, wie es die Tiere tun, diese große Gemeinschaft, der
sie immer noch
angehören, von der sie sich erst langsam abzulösen
beginnen.
Nebeneinander zu leben heißt noch nicht, zusammenzuleben.
Letzteres setzt ein
ausgefeiltes Kommunikationssystem voraus, ein kollektives, geteiltes
Schicksal,
das auf gemeinsamen Nennern wie Sprache,
Glauben, Riten, Körperverzierungen und Bräuchen
basiert. Nichts von all dem
existiert bislang - noch haben wir es mit dem nackten
Überleben zu tun, mit
Impulsen und Affekten, die der Logik vorangehen und diese halben Tiere
dazu
gebracht haben, anstatt ihrer fehlenden Krallen,
Reißzähne, Hörner oder
Giftdrüsen und anderen Verteidigungsmechanismen, über
die die übrigen
Lebewesen verfügen, nach Schiefern oder Kieseln zu greifen, in
der Gruppe zu
jagen, zu schlafen und den Ort zu wechseln, um sich gegenseitig zu
beschützen
und die Angst zu nehmen.
Denn zweifellos hat die tägliche Erfahrung bewirkt,
daß sich in diesem ersten
Menschen von allen noch schlummernden Emotionen, Begierden, Instinkten
und
Leidenschaften beim Erwachen ins Dasein als erstes die Angst
entwickelte.
Die Panik vor dem Unbekannten, und so gut wie alles ihn Umgebende ist
unbekannt,
das Rätsel der Dunkelheit und das Rätsel des Lichts,
und ob die Himmelskörper,
die dort oben am Firmament schweben, nicht geflügelte,
mörderische Bestien
sind, die plötzlich über ihn herfallen
könnten. Welche Gefahren birgt der
schwarze Schlund der Höhle, in die er gern vor dem
Regenguß flüchten würde,
oder die tiefen Gewässer der Lagune, über die er sich
zum Trinken beugt, oder
der Wald, in den er sich auf der Suche nach Nahrung und einem
Schlupfwinkel
begibt? Die Welt ist voller Überraschungen, und für
ihn sind fast alle Überraschungen
tödlich: der Biß einer Klapperschlange, die sich im
Gras an seine Füße
geschlängelt hat, der Blitz, der das Gewitter erhellt und
Bäume in Brand
setzt, oder die plötzlich zu beben beginnende Erde, die sich
dröhnend in Klüfte
spaltet und ihn zu verschlingen droht. Mißtrauen,
Unsicherheit, Argwohn gegen
alles und jeden ist seine natürliche Grundhaltung, von der ihn
nur für kurze
Momente seine Instinkte befreien, die er mit Schlaf, Koitus, Essen oder
Defäkieren
befriedigt. Träumt er bereits? Wenn, dann dürften
seine Träume so wild und
primitiv sein wie sein Leben, die unaufhörliche
Geschäftigkeit spiegeln, mit
der er sich Nahrung beschafft und tötet, um nicht selbst
getötet zu werden.
Für die Anthropologen besteht das wichtigste
Bedürfnis des primitiven Menschen
nach der Nahrungszufuhr darin,
sich zu schmücken. Die
Körperverzierung ist in
diesem Stadium der menschlichen Evolution eine andere Form der
Selbstverteidigung, Schutz und Signal, eine Beschwörung, ein
magischer Zauber,
um den sichtbaren oder unsichtbaren Feind zu vertreiben und seine
Kräfte zu
bannen, um sich als Teil des Stammes zu fühlen, sich Mut zu
verleihen und gegen
die urwüchsige Angst zu impfen, die ihn wie sein Schatten Tag
und Nacht
verfolgt.
Der entscheidende Schritt in diesem Prozeß der
Ablösung vom Tier, die
eigentliche Geburtsurkunde des Menschen, ist das Auftauchen der
Sprache. Obwohl
der Begriff "Auftauchen" in diesem Zusammenhang irreführend
ist, da
es eine Entwicklung, die vermutlich Jahrhunderte dauerte, auf eine
plötzliche
Tatsache, einen wundersamen Augenblick reduziert. Aber es steht
außer Frage,
daß, als in diesen primitiven Stammesgruppierungen
Gesichtsausdrücke, Grummeln
und Gebärden durch verständliche Laute ersetzt
wurden, als mit Wörtern Bilder
ausgedrückt wurden, die ihrerseits Objekte,
Gemütszustände, Emotionen und Gefühle
wiedergaben, eine Grenze überschritten wurde, die
unüberwindbare Kluft
zwischen Tier und Mensch. Die Intelligenz hat begonnen, den Instinkt
als
zentrales Instrument zur Erfassung der Welt und der anderen zu
ersetzen, und
wird dem menschlichen Wesen eine unvorstellbare Macht über
alles Existierende
verleihen. Die Sprache ist eine Abstraktion, ein komplexer mentaler
Prozeß, der
die Welt klassifiziert und definiert, indem er sie mit Namen versieht,
die
ihrerseits aus Lauten bestehen - Buchstaben, Silben, Wörtern -
und die im
Bewußtsein desjenigen, der sie zu Gehör bekommt, das
von den Wortklängen
beschworene Bild hervorrufen. Die Sprache macht den Menschen zum
Menschen und
die primitive Horde zur Gesellschaft, einer Gemeinschaft von
menschlichen
Lebewesen, die des Wortes und damit auch des Denkens mächtig
sind.
Wir befinden uns an der Schwelle zur Zivilisation, haben sie aber noch
nicht überschritten.
Die Menschen sprechen, kommunizieren, und diese durch die Sprache
geschaffene
Verbundenheit macht sie stärker, das heißt besser
gerüstet für Verteidigung
und Angriff. Doch mir fällt es noch schwer, von einer
voranschreitenden
Zivilisation zu sprechen bei der Vorstellung dieser halbnackten,
tätowierten
und perforierten, mit Amuletten behangenen Männer und Frauen,
die im Wald ihre
Fallen aufstellen und mit vergifteten Pfeilen andere Stämme
dezimieren, deren
Bewohner sie ihren barbarischen Gottheiten opfern oder verspeisen, um
sich ihres
Verstandes, ihrer Magie und ihrer Kraft zu bemächtigen.
Für mich ruft der Gedanke einer sich formenden Zivilisation
eher das Bild einer
Zeremonie hervor, abgehalten in einer Höhle oder Waldlichtung,
bei der Männer
und Frauen des Stammes um ein Lagerfeuer sitzen oder hocken, das
Insekten und böse
Geister verscheucht, und aufmerksam, gefangen, gespannt, in einem
Zustand, den
man ohne Übertreibung religiöse Trance nennen kann,
in einer Art Wachtraum den
beschwörenden Worten lauschen, die aus dem Mund eines Mannes
oder einer Frau
kommen, deren richtige, wenn auch unzulängliche Bezeichnung
wohl Zauberer,
Schamane, Heiler wäre, was sie in gewisser Weise auch sind,
aber im Grunde
handelt es sich schlicht um Individuen, die ebenfalls träumen
und ihre Träume
mit den anderen teilen - Geschichtenerzähler.
Die dort Versammelten, ganz im Bann des Erzählten, lassen ihre
Phantasie
schweifen und werden ihren kargen Existenzen enthoben, um ein anderes
Leben zu
leben - ein Leben aus Lügen, das sie in stummer
Komplizenschaft mit dem Mann
oder der Frau erschaffen, die in der Mitte der Szene laut fabulieren -,
und
widmen sich, ohne es zumerken, einer der bezeichnendsten menschlichen
Tätigkeiten,
die ganz besonders charakteristisch ist für die zu jener Zeit
noch im Entstehen
begriffene menschliche Natur und sie einzigartig macht: Mittels der
Phantasie
lassen sie sich selbst und das reale Leben hinter sich, um ein paar
Minuten oder
Stunden in einem Ersatz für die Realität zu leben,
die wir nicht wählen, in
die uns das Schicksal hineingeboren hat, die wir früher oder
später als ein
Joch, ein Gefängnis empfinden, aus dem wir auszubrechen
versuchen. Die dort
sitzen und den Geschichtenerzählern zuhören, von den
Bildern gefesselt, die
ihre Worte ihnen eröffnen, haben schon vorher dem wirklichen
Leben für Momente
oder frenetische Sequenzen abgeschworen, indem sie phantasierten und
träumten.
Dies jedoch in eine kollektive Aktivität innerhalb der
Gesellschaft zu
verwandeln, sie zu institutionalisieren, ist ein entscheidender Schritt
im
Prozeß der Menschwerdung, ein Anstoß für
das geistige Leben des primitiven
Menschen, der Beginn der Kultur, des langen Weges der Zivilisation.
Geschichten zu erfinden und sie anderen so eloquent zu
erzählen, daß sie Teil
ihrer selbst, ihrer Erinnerung - und damit ihres Lebens - werden, ist
vor allem
eine diskrete, scheinbar harmlose Form, sich gegen die
Realität aufzulehnen.
Warum sollte man ihr sonst eine fiktive Wirklichkeit entgegensetzen,
hinzufügen?
Es handelt sich um einen Zeitvertreib, natürlich, vielleicht
den einzigen für
diese Urmenschen mit ihrer animalischen Routine aus Nahrungssuche und
Überlebenskampf.
Aber sich ein anderes Leben vorzustellen und diesen Traum mit anderen
zu teilen
ist im Grunde nie eine unschuldige Beschäftigung. Denn sie
beflügelt die
Phantasie und setzt
Sehnsüchte frei,
vergrößert die Kluft zwischen dem, was
wir sind, und dem, was wir gern wären, zwischen dem, was wir
haben, und dem,
was wir gern hätten, wonach wir uns sehnen. Dieser Diskrepanz
zwischen unserem
tatsächlichen Leben und dem Leben, das wir uns auszudenken und
in dessen Lüge
wir zu leben vermögen, entspringt eine andere zentrale
Charakteristik des
menschlichen Daseins, nämlich die Dissonanz, die
Unzufriedenheit, die
Auflehnung, der Wagemut, sich dem Leben, wie es ist, zu widersetzen,
und der
Wille, dafür zu kämpfen, es zu verändern und
jenem anderen anzunähern, das
wir in unserer Imagination erschaffen.
Als die Geschichtenerzähler in der Menschensippe auftauchen -
und sie tauchen
immer, ohne Ausnahme, in den primitiven Gemeinschaften auf, die
später zu
Kulturen und Zivilisationen werden -, beginnt diese gerade ihre
unaufhaltsame
Entwicklung - alle möglichen Hindernisse überwindend,
ihre Kenntnisse und
Techniken bereichernd -, wobei sie, ohne es zu wissen, von jenen
Illusionisten
stimuliert wird, die ihre untätigen Abende oder
Nächte mit erfundenen
Geschichten bevölkern.
Wer waren diese ersten namenlosen, fernen Geschichtenerzähler,
beinahe so alt
wie die von ihnen mitgeprägten Sprachen, denen sie ihre
Existenz verdankten?
Welche Geschichten erzählten diese prähistorischen
Kollegen, Embryonen oder
Wegmarken der künftigen Romanciers? Und was bedeuteten in den
Leben dieser Männer
und Frauen zu Anbeginn der Zeit jene ersten Geschichten und
Erzählungen, die
seither neben dem realen Leben ein anderes, paralleles Leben schufen,
unsichtbar
zwar, aus Lügen und Worten bestehend, aber reich, vielseitig
und intensiv und -
läßt sich auch schwer bestimmen, in welchem
Maße - verstrickt und
verschmolzen mit ersterem, mit dem wirklichen Leben, das dadurch auf
subtile und
geheimnisvolle Weise angesteckt, infiziert, korrigiert, gelenkt und
ergänzt,
bunter gemacht und widerlegt wurde?
Seit August 1958 und dank eines Erlebnisses, dessen Bedeutung
für mein Leben
ich damals noch nicht erahnte, habe ich mir diese Fragen immer wieder
gestellt
und mir mögliche Antworten überlegt, habe sogar einen
Roman geschrieben, der
mich zwei Jahre lang völlig absorbierte, Der
Geschichtenerzähler, eine imaginäre
Erforschung dieser Anfänge der Zivilisation, als mit den
Geschichtenerzählern
der Keim dessen auftauchte, was wir heute, Jahrhunderte
später, Literatur
nennen.
Besagte Begebenheit trug sich in einer großen Hütte
am Yarinacocha-See in der
Region von Pucallpa zu, im peruanischen Amazonasgebiet. Ich war
Mitglied einer
kleinen Expedition, die von der Universität San Marcos und dem
Summer Institut
of Linguistics für Dr. Juan Comas organisiert worden war,
einen mexikanischen
Anthropologen spanischer Abstammung, der sich zu den Stämmen
des Alto Marañón
begeben wollte. Die Expedition sollte am nächsten Tag von
Yarinacocha
aufbrechen, der Zentrale des Summer Institut of Linguistics,
wo dessen Gründer
William Townsend, Freund und Biograph von Lázaro
Cárdenas, den Abend mit uns
verbrachte. Wir fanden uns nach einem frühen Abendessen
zusammen. Ich erinnere
mich, daß mehrere Linguisten - Linguisten, die gleichzeitig
Missionare waren,
da das Summer Institute es sich neben dem Erlernen der
Eingeborenensprachen und
der Erstellung von Grammatiken und Wörterbüchern zur
Aufgabe gesetzt hatte,
die Bibel in die verschiedenen Sprachen zu übersetzen - uns
Vorträge über die
Gemeinschaften der Aguaruna, Huambisa und Shapra hielten, die wir auf
unserer
Reise besuchen sollten. Doch all das ist mir nur noch vage in
Erinnerung, denn
der bewegende unvergeßliche Moment dieser Nacht ereignete
sich für mich am
Ende der Zusammenkunft, als das Ehepaar Wayne und Betty Snell das Wort
ergriff.
Diese beiden, damals noch jungen Linguisten lebten bereits mehrere
Jahre - er
seit 1951, sie seit 1952 - in einer kleinen Gemeinschaft der
Machiguenga, in dem
von den Flüssen Urubamba, Paucartambo und Mishagua begrenzten
Gebiet, das bis
zur Ankunft des Paares keinerlei Kontakt mit der "Zivilisation" gehabt
hatte.
Betty und Wayne Snell erzählten uns von der behutsamen
Strategie, die sie
angewandt hatten, um das Mißtrauen der Machiguengua zu
besiegen - so hatten sie
sich nackt ihren Hütten genähert, ihnen Geschenke
hingelegt und sich dann
wieder zurückgezogen, um zu verstehen zu geben, daß
sie in friedlicher Absicht
kamen -, bis sie von ihnen akzeptiert und aufgenommen wurden. Und von
dem anfänglich
schwierigen Zusammenleben in ihrer neuen Wohnstätte, von dem
Enthusiasmus, mit
dem sie langsam die Bräuche und Riten ihrer Gastgeber
kennenlernten und deren
Sprache erlernten.
Aber die lebhafteste, faszinierendste Erinnerung jener Nacht, die mich
nie
wieder loslassen, nichts von ihrer magischen Anziehung verlieren
sollte, war
eine Begebenheit, die Wayne Snell uns irgendwann erzählte. Er
war allein bei
den Machiguenga geblieben, da Betty unterwegs war,
möglicherweise in die
Zentrale von Yarinacocha. Plötzlich merkte er, daß
eine ungewöhnliche
Aufregung in der Gemeinschaft herrschte. Was war los? Warum waren alle,
Männer,
Frauen, Junge und Alte, in so fieberhafter Unruhe? Sie
erklärten ihm, "der
Geschichtenerzähler" werde kommen. (Wayne Snell verwendete ein
Machiguenga-Wort und sagte, übersetzt bedeute dies etwa
"Geschichtenerzähler".)
Die Machiguenga luden ihn ein, sich ihnen anzuschließen und
ihm zuzuhören. Das
ist der Teil der Geschichte, der mir viele Nächte den Schlaf
rauben sollte, den
ich mir Hunderte Male ins Gedächtnis rufen, einer krankhaften
Analyse
unterziehen sollte und den ich mir, indem ich nur die Augen
schloß, in den
darauffolgenden Monaten und Jahren auf tausenderlei Arten vorstellte.
Wayne
Snell konnte sich nicht mehr genau an die ganze - ja, die ganze - Nacht
erinnern, die er, umringt von allen Machiguenga der Gemeinschaft, in
einer
Waldlichtung auf dem Boden sitzend zugebracht und dem
Geschichtenerzähler
gelauscht hatte. Woran er sich vor allem erinnerte, war die Inbrunst
und der
Eifer, mit dem alle diesem zuhörten, wie begierig sie seine
Worte in sich
aufnahmen und wie das Erzählte sie freudig oder traurig
stimmte, sie bewegte
oder zum Lachen brachte. Doch was war es, was der
Geschichtenerzähler ihnen erzählte?
Wayne Snell beherrschte die Sprache bereits, verstand aber nicht alles,
was der
Mann sagte. Immerhin genug, um mitzubekommen, daß sein
Monolog ein wahres
Potpourri aus den verschiedensten Ingredienzien war: Anekdoten von
seinen Reisen
durch den Urwald
und von den Dörfern und Familien, die er besuchte, Klatsch und
Neuigkeiten von
den übrigen Machiguenga, die in dem riesigen Amazonasgebiet
verstreut lebten,
Mythen, Legenden, Gerüchte, von ihm selbst oder anderen
erfunden, und das alles
in einem wirren Durcheinander, was seine Zuhörer
nicht im geringsten zu
stören schien, die jene lange Nacht - im Unterschied zu Wayne
Snell, dem in der
unbequemen Position alle Knochen weh taten, der aber mit
Rücksicht auf die übrigen
Zuhörer nicht fortzugehen wagte - in einem Zustand geistiger
Ekstase verlebten.
Nachdem der Geschichtenerzähler weitergezogen war, blieb sein
Besuch noch viele
Tage Gesprächsthema in der Gemeinschaft, wurde wiederholt und
in Erinnerung
gerufen, was er erzählt hatte.
Wie es mir mit beinahe allen eigenen Erlebnissen erging, die sich in
Rohmaterial
für meine Romane oder Theaterstücke verwandelten,
prägte sich mir auch das,
was ich in jener Augustnacht 1958 in einem Bungalow am Ufer des
Yarinacocha-Sees
aus dem Munde des Ehepaars Snell hörte, tief ins
Gedächtnis, und in den
darauffolgenden Monaten und Jahren, in Madrid, während ich
meinen ersten Roman
schrieb, in Paris, wo ich den zweiten schrieb, in Lima, London oder den
Vereinigten Staaten, neben dem Verfassen des dritten und vierten
Romans, in
Barcelona, Brasilien und erneut Lima, während ich Geschichten
schrieb und die
Jahre vergingen, stellte sich diese Erinnerung ein ums andere Mal
wieder ein,
immer eindringlicher und immer drängender, und ab irgendeinem
Zeitpunkt, den
ich nicht mehr genau benennen könnte, wurde sie begleitet von
der Absicht, aus
den Bildern, die mir von meiner ersten Reise in den Amazonas und dem
Ehepaar
Snell im Gedächtnis geblieben waren, einen Roman zu machen.
Häufig weiß ich nicht, warum bestimmte Erlebnisse in
mir so einen Drang,
beinahe einen Zwang entwickeln, in eine Geschichte verwandelt zu
werden. Doch im
Fall des "Geschichtenerzählers" der Machiguenga glaube ich zu
wissen,
warum mich das Bild dieser kleinen, der Vorgeschichte gerade erst
entstiegenen
Gemeinschaft, die eine ganze Nacht lang von den Geschichten eines
fahrenden Erzählers
gefesselt wurde, so berührte. Denn dieser Mann, der zwischen
den Dörfern und
Familien der Machiguenga durch den Urwald zog, war der
Überlebende einer
uralten Welt, der Botschafter unserer entferntesten Ahnen und der
greifbare
Beweis, daß es bereits damals, in den so unvorstellbar weit
zurückliegenden
Ursprüngen der menschlichen Geschichte, bevor die Geschichte
überhaupt begann,
menschliche Wesen gab, die betrieben, was ich meinem Leben zum Ziel
gesetzt
hatte: das Erfinden und Erzählen von Geschichten; und
darüber hinaus waren der
Geschichtenerzähler und seine besondere Beziehung zu seiner
Gemeinschaft ein
Beweis für die überaus wichtige Funktion, die das
Imaginäre - dieses von den
Geschichtenerzählern erträumte und erdachte Leben aus
Lügen - in einer
primitiven Gemeinschaft ohne Kontakt zur sogenannten "Zivilisation"
innehatte. Es gab keinen Zweifel: Diese Begebenheit war weit mehr als
ein reiner
Zeitvertreib, stellte es für die Machiguenga
natürlich auch den Gipfel der
Unterhaltung dar, dem Geschichtenerzähler zuzuhören,
dessen Darbietung sie
bezauberte und ein reicheres, vielseitigeres Dasein leben
ließ, als ihr banaler
Alltag es ihnen bot. Dank ihren Geschichtenerzählern waren die
über ein weites
Gebiet in winzige Gemeinschaften zerstreuten Machiguenga, die so gut
wie keinen
Kontakt untereinander hatten, sich ihrer gemeinsamen Kultur
bewußt, dank dieser
Erzählungen hielten sie ihre Vergangenheit, Geschichte,
Mythologie, Tradition
lebendig, denn aus Wayne Snells Bericht ging klar hervor, daß
all dies den
Vortrag des Geschichtenerzählers ausmachte, wie ein bunter
Flickenteppich.
Erst 1985 machte ich mich daran, systematisch an dem Romanprojekt zu
arbeiten.
Inzwischen hatte ich alle Artikel und ethnologischen, soziologischen
und
folkloristisch orientierten Arbeiten über die Machiguenga
gelesen, derer ich
habhaft werden konnte. Doch ich widmete mich dem Thema erst ab diesem
Zeitpunkt
vollständig und verbrachte etliche Stunden in Bibliotheken und
mit der
Befragung von Anthropologen oder Missionaren der Dominikaner (die
verschiedene
Missionen im Gebiet der Machiguenga hatten und immer noch haben). Als
ich eine
erste Version des Romans geschrieben hatte, machte ich
außerdem eine Reise ins
Amazonasgebiet, in Begleitung von Vicente und Lorenzo de Szyszlo und
dem
Anthropologen Luis Román, der seit geraumer Zeit in
Gemeinschaften der
Machiguenga des Alto und Medio Urubamba und seinen
Nebenflüssen Sozialarbeit
und ethnologische Forschungen verband. Ich besuchte einige dieser
Gemeinschaften
und konnte mich mit den Eingeborenen unterhalten sowie mit
Einheimischen und
Missionaren der Region. Bereits 1981 hatte ich mit der
Unterstützung des Summer
Institute of Linguistics die ersten Machiguenga-Dörfer der
Geschichte besucht:
Nueva Luz und Nuevo Mundo, wo ich zu meiner großen Freude das
Ehepaar Snell
wiedertraf, dem ich seit jener Augustnacht 1958 nicht mehr begegnet
war. Ich
erinnere mich noch an die verblüfften Gesichter der beiden,
als ich ihnen
sagte, während wir Kräutertee tranken und die
Moskitos über meine Knöchel
herfielen, daß mich dreiundzwanzig Jahre begleitet hatte, was
ich von ihnen über
die Machiguenga und vor allem über den
Geschichtenerzähler erfahren hatte, und
daß ich dabei war, einen Roman zu schreiben, der sich an
dieser Figur
inspirierte. (...)
Mario
Vargas Llosa: "Die Welt des Juan
Carlos Onetti"
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp, 2009. 220 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Mario
Vargas Llosa gehört zu den frühen Lesern Onettis;
bereits 1967 hat er emphatisch auf ihn als den "eigentlichen
Meister" hingewiesen. Seine lebenslange Faszination hat er in
diesem Essay mit der ihm eigenen Klarheit dargelegt, als Gang durch
Leben und Werk des großen Autors
aus Lateinamerika.
Er schreibt über Onettis Erzählkosmos Santa
María, sein Verhältnis zu Roberto Arlt, den
Einfluss von Faulkner und
Céline,
die ambivalenten Bezüge zwischen der Literatur
Borges'
und Onettis. Vargas Llosa taucht ein in das Werk Onettis und zeigt, auf
welch subtile und zugleich kraftvolle Weise dort die parallele Welt
dargestellt wird, die die Menschen sich neben dem faktischen Leben
schaffen.
Seine Bewunderung resümiert Vargas Llosa so: "Das
ist das Geheimnis des geglückten künstlerischen
Werkes: Wir genießen: leidend, werden verführt und
bezaubert, während es uns eintaucht in das Böse, das
Grauen. Diese paradoxe Metamorphose ist den wahren Schöpfern
vorbehalten, deren Werke sich über Zeit und Raum ihres
Entstehens hinwegsetzen. Onetti war einer von ihnen."