Leseprobe aus "Die Welt des Juan Carlos Onetti"
von Mario Vargas Llosa


Eine Reise in die Imagination

Begeben wir uns zurück in eine Welt, die so alt ist, daß die Wissenschaft sie noch nicht erfaßt, oder wenn, nicht überzeugend erfaßt, weil ihre Thesen und Spekulationen so willkürlich und vage sind wie Phantasie und Imagination.
Man könnte sagen, die Zeit existiert hier noch nicht. Es gibt noch keinen der Bezüge, die ihren Verlauf markieren, und die Lebewesen haben kein Bewußtsein von ihrem Vergehen, von Vergangenheit und Zukunft, nicht einmal vom Tod, so gefangen sind sie in einer ewigen Gegenwart, die sie daran hindert, das Vorher und Nachher zu sehen. Die Gegenwart absorbiert sie so vollkommen mit ihrer Notwendigkeit, in der Weite der Welt zu überleben, daß das Jetzt, der augenblickliche Moment, ihr Dasein ganz und gar einnimmt. Der Mensch ist kein Tier mehr, aber es wäre übertrieben, ihn schon menschlich zu nennen. Er steht aufrecht auf seinen hinteren Extremitäten und hat begonnen, Laute von sich zu geben, zu grummeln, zu pfeifen, zu jaulen, und dazu zu gestikulieren und Grimassen zu ziehen, womit die Basis für eine Kommunikation innerhalb der Horde gegeben ist, der er angehört, hervorgegangen aus jenem animalischen Instinkt, der ihn momentan noch das Wichtigste lehrt, was er wissen muß: Das, was unverzichtbar ist für ein Überleben inmitten der unzähligen Bedrohungen und Gefahren in dieser Welt, in der alles - wilde Tiere, Blitz, Wasser, Dürre, Schlangen, Insekten, die Nacht, Hunger, Krankheit und andere Zweibeiner wie er - verschworen scheint, um ihm den Garaus zu machen.
Sein Überlebensinstinkt hat ihn dazu gebracht, sich der Horde anzuschließen, in der er sich besser verteidigen kann, als wäre er sich selbst überlassen. Aber diese Horde ist keine Gesellschaft, sie gleicht noch eher einer Herde, Meute, einem Bienenschwarm als dem, was wir Jahrhunderte später eine menschliche Gemeinschaft nennen werden.
Nackt oder, wenn die Unbilden des Klimas es erfordern, in Pelze gehüllt, befinden sich diese Rudel von Protomenschen in ständiger Bewegung, ziehen zum Jagen und Sammeln unablässig umher auf der Suche nach unberührten Landstrichen, um Nahrung zu finden, die sie der Natur entnehmen, ohne sie zu ersetzen, wie es die Tiere tun, diese große Gemeinschaft, der sie immer noch angehören, von der sie sich erst langsam abzulösen beginnen.
Nebeneinander zu leben heißt noch nicht, zusammenzuleben. Letzteres setzt ein ausgefeiltes Kommunikationssystem voraus, ein kollektives, geteiltes Schicksal, das auf gemeinsamen Nennern wie Sprache, Glauben, Riten, Körperverzierungen und Bräuchen basiert. Nichts von all dem existiert bislang - noch haben wir es mit dem nackten Überleben zu tun, mit Impulsen und Affekten, die der Logik vorangehen und diese halben Tiere dazu gebracht haben, anstatt ihrer fehlenden Krallen, Reißzähne, Hörner oder Giftdrüsen und anderen Verteidigungsmechanismen, über die die übrigen Lebewesen verfügen, nach Schiefern oder Kieseln zu greifen, in der Gruppe zu jagen, zu schlafen und den Ort zu wechseln, um sich gegenseitig zu beschützen und die Angst zu nehmen.
Denn zweifellos hat die tägliche Erfahrung bewirkt, daß sich in diesem ersten Menschen von allen noch schlummernden Emotionen, Begierden, Instinkten und Leidenschaften beim Erwachen ins Dasein als erstes die Angst entwickelte.
Die Panik vor dem Unbekannten, und so gut wie alles ihn Umgebende ist unbekannt, das Rätsel der Dunkelheit und das Rätsel des Lichts, und ob die Himmelskörper, die dort oben am Firmament schweben, nicht geflügelte, mörderische Bestien sind, die plötzlich über ihn herfallen könnten. Welche Gefahren birgt der schwarze Schlund der Höhle, in die er gern vor dem Regenguß flüchten würde, oder die tiefen Gewässer der Lagune, über die er sich zum Trinken beugt, oder der Wald, in den er sich auf der Suche nach Nahrung und einem Schlupfwinkel begibt? Die Welt ist voller Überraschungen, und für ihn sind fast alle Überraschungen tödlich: der Biß einer Klapperschlange, die sich im Gras an seine Füße geschlängelt hat, der Blitz, der das Gewitter erhellt und Bäume in Brand setzt, oder die plötzlich zu beben beginnende Erde, die sich dröhnend in Klüfte spaltet und ihn zu verschlingen droht. Mißtrauen, Unsicherheit, Argwohn gegen alles und jeden ist seine natürliche Grundhaltung, von der ihn nur für kurze Momente seine Instinkte befreien, die er mit Schlaf, Koitus, Essen oder Defäkieren befriedigt. Träumt er bereits? Wenn, dann dürften seine Träume so wild und primitiv sein wie sein Leben, die unaufhörliche Geschäftigkeit spiegeln, mit der er sich Nahrung beschafft und tötet, um nicht selbst getötet zu werden.
Für die Anthropologen besteht das wichtigste Bedürfnis des primitiven Menschen nach der Nahrungszufuhr darin, sich zu schmücken. Die Körperverzierung ist in diesem Stadium der menschlichen Evolution eine andere Form der Selbstverteidigung, Schutz und Signal, eine Beschwörung, ein magischer Zauber, um den sichtbaren oder unsichtbaren Feind zu vertreiben und seine Kräfte zu bannen, um sich als Teil des Stammes zu fühlen, sich Mut zu verleihen und gegen die urwüchsige Angst zu impfen, die ihn wie sein Schatten Tag und Nacht verfolgt.
Der entscheidende Schritt in diesem Prozeß der Ablösung vom Tier, die eigentliche Geburtsurkunde des Menschen, ist das Auftauchen der Sprache. Obwohl der Begriff "Auftauchen" in diesem Zusammenhang irreführend ist, da es eine Entwicklung, die vermutlich Jahrhunderte dauerte, auf eine plötzliche Tatsache, einen wundersamen Augenblick reduziert. Aber es steht außer Frage, daß, als in diesen primitiven Stammesgruppierungen Gesichtsausdrücke, Grummeln und Gebärden durch verständliche Laute ersetzt wurden, als mit Wörtern Bilder ausgedrückt wurden, die ihrerseits Objekte, Gemütszustände, Emotionen und Gefühle wiedergaben, eine Grenze überschritten wurde, die unüberwindbare Kluft zwischen Tier und Mensch. Die Intelligenz hat begonnen, den Instinkt als zentrales Instrument zur Erfassung der Welt und der anderen zu ersetzen, und wird dem menschlichen Wesen eine unvorstellbare Macht über alles Existierende verleihen. Die Sprache ist eine Abstraktion, ein komplexer mentaler Prozeß, der die Welt klassifiziert und definiert, indem er sie mit Namen versieht, die ihrerseits aus Lauten bestehen - Buchstaben, Silben, Wörtern - und die im Bewußtsein desjenigen, der sie zu Gehör bekommt, das von den Wortklängen beschworene Bild hervorrufen. Die Sprache macht den Menschen zum Menschen und die primitive Horde zur Gesellschaft, einer Gemeinschaft von menschlichen Lebewesen, die des Wortes und damit auch des Denkens mächtig sind.
Wir befinden uns an der Schwelle zur Zivilisation, haben sie aber noch nicht überschritten. Die Menschen sprechen, kommunizieren, und diese durch die Sprache geschaffene Verbundenheit macht sie stärker, das heißt besser gerüstet für Verteidigung und Angriff. Doch mir fällt es noch schwer, von einer voranschreitenden Zivilisation zu sprechen bei der Vorstellung dieser halbnackten, tätowierten und perforierten, mit Amuletten behangenen Männer und Frauen, die im Wald ihre Fallen aufstellen und mit vergifteten Pfeilen andere Stämme dezimieren, deren Bewohner sie ihren barbarischen Gottheiten opfern oder verspeisen, um sich ihres Verstandes, ihrer Magie und ihrer Kraft zu bemächtigen.
Für mich ruft der Gedanke einer sich formenden Zivilisation eher das Bild einer Zeremonie hervor, abgehalten in einer Höhle oder Waldlichtung, bei der Männer und Frauen des Stammes um ein Lagerfeuer sitzen oder hocken, das Insekten und böse Geister verscheucht, und aufmerksam, gefangen, gespannt, in einem Zustand, den man ohne Übertreibung religiöse Trance nennen kann, in einer Art Wachtraum den beschwörenden Worten lauschen, die aus dem Mund eines Mannes oder einer Frau kommen, deren richtige, wenn auch unzulängliche Bezeichnung wohl Zauberer, Schamane, Heiler wäre, was sie in gewisser Weise auch sind, aber im Grunde handelt es sich schlicht um Individuen, die ebenfalls träumen und ihre Träume mit den anderen teilen - Geschichtenerzähler.
Die dort Versammelten, ganz im Bann des Erzählten, lassen ihre Phantasie schweifen und werden ihren kargen Existenzen enthoben, um ein anderes Leben zu leben - ein Leben aus Lügen, das sie in stummer Komplizenschaft mit dem Mann oder der Frau erschaffen, die in der Mitte der Szene laut fabulieren -, und widmen sich, ohne es zumerken, einer der bezeichnendsten menschlichen Tätigkeiten, die ganz besonders charakteristisch ist für die zu jener Zeit noch im Entstehen begriffene menschliche Natur und sie einzigartig macht: Mittels der Phantasie lassen sie sich selbst und das reale Leben hinter sich, um ein paar Minuten oder Stunden in einem Ersatz für die Realität zu leben, die wir nicht wählen, in die uns das Schicksal hineingeboren hat, die wir früher oder später als ein Joch, ein Gefängnis empfinden, aus dem wir auszubrechen versuchen. Die dort sitzen und den Geschichtenerzählern zuhören, von den Bildern gefesselt, die ihre Worte ihnen eröffnen, haben schon vorher dem wirklichen Leben für Momente oder frenetische Sequenzen abgeschworen, indem sie phantasierten und träumten. Dies jedoch in eine kollektive Aktivität innerhalb der Gesellschaft zu verwandeln, sie zu institutionalisieren, ist ein entscheidender Schritt im Prozeß der Menschwerdung, ein Anstoß für das geistige Leben des primitiven Menschen, der Beginn der Kultur, des langen Weges der Zivilisation.
Geschichten zu erfinden und sie anderen so eloquent zu erzählen, daß sie Teil ihrer selbst, ihrer Erinnerung - und damit ihres Lebens - werden, ist vor allem eine diskrete, scheinbar harmlose Form, sich gegen die Realität aufzulehnen. Warum sollte man ihr sonst eine fiktive Wirklichkeit entgegensetzen, hinzufügen? Es handelt sich um einen Zeitvertreib, natürlich, vielleicht den einzigen für diese Urmenschen mit ihrer animalischen Routine aus Nahrungssuche und Überlebenskampf. Aber sich ein anderes Leben vorzustellen und diesen Traum mit anderen zu teilen ist im Grunde nie eine unschuldige Beschäftigung. Denn sie beflügelt die Phantasie und setzt Sehnsüchte frei, vergrößert die Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir gern wären, zwischen dem, was wir haben, und dem, was wir gern hätten, wonach wir uns sehnen. Dieser Diskrepanz zwischen unserem tatsächlichen Leben und dem Leben, das wir uns auszudenken und in dessen Lüge wir zu leben vermögen, entspringt eine andere zentrale Charakteristik des menschlichen Daseins, nämlich die Dissonanz, die Unzufriedenheit, die Auflehnung, der Wagemut, sich dem Leben, wie es ist, zu widersetzen, und der Wille, dafür zu kämpfen, es zu verändern und jenem anderen anzunähern, das wir in unserer Imagination erschaffen.
Als die Geschichtenerzähler in der Menschensippe auftauchen - und sie tauchen immer, ohne Ausnahme, in den primitiven Gemeinschaften auf, die später zu Kulturen und Zivilisationen werden -, beginnt diese gerade ihre unaufhaltsame Entwicklung - alle möglichen Hindernisse überwindend, ihre Kenntnisse und Techniken bereichernd -, wobei sie, ohne es zu wissen, von jenen Illusionisten stimuliert wird, die ihre untätigen Abende oder Nächte mit erfundenen Geschichten bevölkern.
Wer waren diese ersten namenlosen, fernen Geschichtenerzähler, beinahe so alt wie die von ihnen mitgeprägten Sprachen, denen sie ihre Existenz verdankten? Welche Geschichten erzählten diese prähistorischen Kollegen, Embryonen oder Wegmarken der künftigen Romanciers? Und was bedeuteten in den Leben dieser Männer und Frauen zu Anbeginn der Zeit jene ersten Geschichten und Erzählungen, die seither neben dem realen Leben ein anderes, paralleles Leben schufen, unsichtbar zwar, aus Lügen und Worten bestehend, aber reich, vielseitig und intensiv und - läßt sich auch schwer bestimmen, in welchem Maße - verstrickt und verschmolzen mit ersterem, mit dem wirklichen Leben, das dadurch auf subtile und geheimnisvolle Weise angesteckt, infiziert, korrigiert, gelenkt und ergänzt, bunter gemacht und widerlegt wurde?
Seit August 1958 und dank eines Erlebnisses, dessen Bedeutung für mein Leben ich damals noch nicht erahnte, habe ich mir diese Fragen immer wieder gestellt und mir mögliche Antworten überlegt, habe sogar einen Roman geschrieben, der mich zwei Jahre lang völlig absorbierte, Der Geschichtenerzähler, eine imaginäre Erforschung dieser Anfänge der Zivilisation, als mit den Geschichtenerzählern der Keim dessen auftauchte, was wir heute, Jahrhunderte später, Literatur nennen.
Besagte Begebenheit trug sich in einer großen Hütte am Yarinacocha-See in der Region von Pucallpa zu, im peruanischen Amazonasgebiet. Ich war Mitglied einer kleinen Expedition, die von der Universität San Marcos und dem Summer Institut of Linguistics für Dr. Juan Comas organisiert worden war, einen mexikanischen Anthropologen spanischer Abstammung, der sich zu den Stämmen des Alto Marañón begeben wollte. Die Expedition sollte am nächsten Tag von Yarinacocha aufbrechen, der Zentrale des Summer Institut of  Linguistics, wo dessen Gründer William Townsend, Freund und Biograph von Lázaro Cárdenas, den Abend mit uns verbrachte. Wir fanden uns nach einem frühen Abendessen zusammen. Ich erinnere mich, daß mehrere Linguisten - Linguisten, die gleichzeitig Missionare waren, da das Summer Institute es sich neben dem Erlernen der Eingeborenensprachen und der Erstellung von Grammatiken und Wörterbüchern zur Aufgabe gesetzt hatte, die Bibel in die verschiedenen Sprachen zu übersetzen - uns Vorträge über die Gemeinschaften der Aguaruna, Huambisa und Shapra hielten, die wir auf unserer Reise besuchen sollten. Doch all das ist mir nur noch vage in Erinnerung, denn der bewegende unvergeßliche Moment dieser Nacht ereignete sich für mich am Ende der Zusammenkunft, als das Ehepaar Wayne und Betty Snell das Wort ergriff. Diese beiden, damals noch jungen Linguisten lebten bereits mehrere Jahre - er seit 1951, sie seit 1952 - in einer kleinen Gemeinschaft der Machiguenga, in dem von den Flüssen Urubamba, Paucartambo und Mishagua begrenzten Gebiet, das bis zur Ankunft des Paares keinerlei Kontakt mit der "Zivilisation" gehabt hatte.
Betty und Wayne Snell erzählten uns von der behutsamen Strategie, die sie angewandt hatten, um das Mißtrauen der Machiguengua zu besiegen - so hatten sie sich nackt ihren Hütten genähert, ihnen Geschenke hingelegt und sich dann wieder zurückgezogen, um zu verstehen zu geben, daß sie in friedlicher Absicht kamen -, bis sie von ihnen akzeptiert und aufgenommen wurden. Und von dem anfänglich schwierigen Zusammenleben in ihrer neuen Wohnstätte, von dem Enthusiasmus, mit dem sie langsam die Bräuche und Riten ihrer Gastgeber kennenlernten und deren Sprache erlernten.
Aber die lebhafteste, faszinierendste Erinnerung jener Nacht, die mich nie wieder loslassen, nichts von ihrer magischen Anziehung verlieren sollte, war eine Begebenheit, die Wayne Snell uns irgendwann erzählte. Er war allein bei den Machiguenga geblieben, da Betty unterwegs war, möglicherweise in die Zentrale von Yarinacocha. Plötzlich merkte er, daß eine ungewöhnliche Aufregung in der Gemeinschaft herrschte. Was war los? Warum waren alle, Männer, Frauen, Junge und Alte, in so fieberhafter Unruhe? Sie erklärten ihm, "der Geschichtenerzähler" werde kommen. (Wayne Snell verwendete ein Machiguenga-Wort und sagte, übersetzt bedeute dies etwa "Geschichtenerzähler".) Die Machiguenga luden ihn ein, sich ihnen anzuschließen und ihm zuzuhören. Das ist der Teil der Geschichte, der mir viele Nächte den Schlaf rauben sollte, den ich mir Hunderte Male ins Gedächtnis rufen, einer krankhaften Analyse unterziehen sollte und den ich mir, indem ich nur die Augen schloß, in den darauffolgenden Monaten und Jahren auf tausenderlei Arten vorstellte. Wayne Snell konnte sich nicht mehr genau an die ganze - ja, die ganze - Nacht erinnern, die er, umringt von allen Machiguenga der Gemeinschaft, in einer Waldlichtung auf dem Boden sitzend zugebracht und dem Geschichtenerzähler gelauscht hatte. Woran er sich vor allem erinnerte, war die Inbrunst und der Eifer, mit dem alle diesem zuhörten, wie begierig sie seine Worte in sich aufnahmen und wie das Erzählte sie freudig oder traurig stimmte, sie bewegte oder zum Lachen brachte. Doch was war es, was der Geschichtenerzähler ihnen erzählte? Wayne Snell beherrschte die Sprache bereits, verstand aber nicht alles, was der Mann sagte. Immerhin genug, um mitzubekommen, daß sein Monolog ein wahres Potpourri aus den verschiedensten Ingredienzien war: Anekdoten von seinen Reisen durch den Urwald und von den Dörfern und Familien, die er besuchte, Klatsch und Neuigkeiten von den übrigen Machiguenga, die in dem riesigen Amazonasgebiet verstreut lebten, Mythen, Legenden, Gerüchte, von ihm selbst oder anderen erfunden, und das alles in einem wirren Durcheinander, was  seine Zuhörer nicht im geringsten zu stören schien, die jene lange Nacht - im Unterschied zu Wayne Snell, dem in der unbequemen Position alle Knochen weh taten, der aber mit Rücksicht auf die übrigen Zuhörer nicht fortzugehen wagte - in einem Zustand geistiger Ekstase verlebten. Nachdem der Geschichtenerzähler weitergezogen war, blieb sein Besuch noch viele Tage Gesprächsthema in der Gemeinschaft, wurde wiederholt und in Erinnerung gerufen, was er erzählt hatte.
Wie es mir mit beinahe allen eigenen Erlebnissen erging, die sich in Rohmaterial für meine Romane oder Theaterstücke verwandelten, prägte sich mir auch das, was ich in jener Augustnacht 1958 in einem Bungalow am Ufer des Yarinacocha-Sees aus dem Munde des Ehepaars Snell hörte, tief ins Gedächtnis, und in den darauffolgenden Monaten und Jahren, in Madrid, während ich meinen ersten Roman schrieb, in Paris, wo ich den zweiten schrieb, in Lima, London oder den Vereinigten Staaten, neben dem Verfassen des dritten und vierten Romans, in Barcelona, Brasilien und erneut Lima, während ich Geschichten schrieb und die Jahre vergingen, stellte sich diese Erinnerung ein ums andere Mal wieder ein, immer eindringlicher und immer drängender, und ab irgendeinem Zeitpunkt, den ich nicht mehr genau benennen könnte, wurde sie begleitet von der Absicht, aus den Bildern, die mir von meiner ersten Reise in den Amazonas und dem Ehepaar Snell im Gedächtnis geblieben waren, einen Roman zu machen.
Häufig weiß ich nicht, warum bestimmte Erlebnisse in mir so einen Drang, beinahe einen Zwang entwickeln, in eine Geschichte verwandelt zu werden. Doch im Fall des "Geschichtenerzählers" der Machiguenga glaube ich zu wissen, warum mich das Bild dieser kleinen, der Vorgeschichte gerade erst entstiegenen Gemeinschaft, die eine ganze Nacht lang von den Geschichten eines fahrenden Erzählers gefesselt wurde, so berührte. Denn dieser Mann, der zwischen den Dörfern und Familien der Machiguenga durch den Urwald zog, war der Überlebende einer uralten Welt, der Botschafter unserer entferntesten Ahnen und der greifbare Beweis, daß es bereits damals, in den so unvorstellbar weit zurückliegenden Ursprüngen der menschlichen Geschichte, bevor die Geschichte überhaupt begann, menschliche Wesen gab, die betrieben, was ich meinem Leben zum Ziel gesetzt hatte: das Erfinden und Erzählen von Geschichten; und darüber hinaus waren der Geschichtenerzähler und seine besondere Beziehung zu seiner Gemeinschaft ein Beweis für die überaus wichtige Funktion, die das Imaginäre - dieses von den Geschichtenerzählern erträumte und erdachte Leben aus Lügen - in einer primitiven Gemeinschaft ohne Kontakt zur sogenannten "Zivilisation" innehatte. Es gab keinen Zweifel: Diese Begebenheit war weit mehr als ein reiner Zeitvertreib, stellte es für die Machiguenga natürlich auch den Gipfel der Unterhaltung dar, dem Geschichtenerzähler zuzuhören, dessen Darbietung sie bezauberte und ein reicheres, vielseitigeres Dasein leben ließ, als ihr banaler Alltag es ihnen bot. Dank ihren Geschichtenerzählern waren die über ein weites Gebiet in winzige Gemeinschaften zerstreuten Machiguenga, die so gut wie keinen Kontakt untereinander hatten, sich ihrer gemeinsamen Kultur bewußt, dank dieser Erzählungen hielten sie ihre Vergangenheit, Geschichte, Mythologie, Tradition lebendig, denn aus Wayne Snells Bericht ging klar hervor, daß all dies den Vortrag des Geschichtenerzählers ausmachte, wie ein bunter Flickenteppich.
Erst 1985 machte ich mich daran, systematisch an dem Romanprojekt zu arbeiten. Inzwischen hatte ich alle Artikel und ethnologischen, soziologischen und folkloristisch orientierten Arbeiten über die Machiguenga gelesen, derer ich habhaft werden konnte. Doch ich widmete mich dem Thema erst ab diesem Zeitpunkt vollständig und verbrachte etliche Stunden in Bibliotheken und mit der Befragung von Anthropologen oder Missionaren der Dominikaner (die verschiedene Missionen im Gebiet der Machiguenga hatten und immer noch haben). Als ich eine erste Version des Romans geschrieben hatte, machte ich außerdem eine Reise ins Amazonasgebiet, in Begleitung von Vicente und Lorenzo de Szyszlo und dem Anthropologen Luis Román, der seit geraumer Zeit in Gemeinschaften der Machiguenga des Alto und Medio Urubamba und seinen Nebenflüssen Sozialarbeit und ethnologische Forschungen verband. Ich besuchte einige dieser Gemeinschaften und konnte mich mit den Eingeborenen unterhalten sowie mit Einheimischen und Missionaren der Region. Bereits 1981 hatte ich mit der Unterstützung des Summer Institute of Linguistics die ersten Machiguenga-Dörfer der Geschichte besucht: Nueva Luz und Nuevo Mundo, wo ich zu meiner großen Freude das Ehepaar Snell wiedertraf, dem ich seit jener Augustnacht 1958 nicht mehr begegnet war. Ich erinnere mich noch an die verblüfften Gesichter der beiden, als ich ihnen sagte, während wir Kräutertee tranken und die Moskitos über meine Knöchel herfielen, daß mich dreiundzwanzig Jahre begleitet hatte, was ich von ihnen über die Machiguenga und vor allem über den Geschichtenerzähler erfahren hatte, und daß ich dabei war, einen Roman zu schreiben, der sich an dieser Figur inspirierte. (...)


Mario Vargas Llosa: "Die Welt des Juan Carlos Onetti"
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp, 2009. 220 Seiten.
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Mario Vargas Llosa gehört zu den frühen Lesern Onettis; bereits 1967 hat er emphatisch auf ihn als den "eigentlichen Meister" hingewiesen. Seine lebenslange Faszination hat er in diesem Essay mit der ihm eigenen Klarheit dargelegt, als Gang durch Leben und Werk des großen Autors aus Lateinamerika.
Er schreibt über Onettis Erzählkosmos Santa María, sein Verhältnis zu Roberto Arlt, den Einfluss von Faulkner und Céline, die ambivalenten Bezüge zwischen der Literatur Borges' und Onettis. Vargas Llosa taucht ein in das Werk Onettis und zeigt, auf welch subtile und zugleich kraftvolle Weise dort die parallele Welt dargestellt wird, die die Menschen sich neben dem faktischen Leben schaffen. Seine Bewunderung resümiert Vargas Llosa so: "Das ist das Geheimnis des geglückten künstlerischen Werkes: Wir genießen: leidend, werden verführt und bezaubert, während es uns eintaucht in das Böse, das Grauen. Diese paradoxe Metamorphose ist den wahren Schöpfern vorbehalten, deren Werke sich über Zeit und Raum ihres Entstehens hinwegsetzen. Onetti war einer von ihnen."