Gustav Meyrink
Der weiße Dominikaner
Aus dem Tagebuch eines Unsichtbaren
Einleitung
"Herr X oder Herr Y hat
einen Roman geschrieben" -- was heißt das?
Nun, sehr einfach: "Er hat mit Hilfe seiner Phantasie Personen
geschildert, die in Wirklichkeit nicht existieren, hat ihnen Erlebnisse
angedichtet und sie miteinander verwoben." -- So ungefähr
lautet, weitläufig gefaßt, das allgemeine Urteil.
Was Phantasie ist, glaubt jedermann zu wissen, daß es aber
höchst merkwürdige Kategorien der Einbildungskraft
gibt, ahnen nur sehr wenige.
Was soll man sagen, wenn zum Beispiel die Hand, dieses scheinbar so
willfährige Werkzeug des Gehirns, sich plötzlich
weigert, den Namen des Heldens der Geschichte niederzuschreiben, den
man sich ausgedacht hat, und statt seiner hartnäckig einen
andern wählt? Muß man da nicht
unwillkürlich stutzig werden und sich fragen: "Schaffe" ich
tatsächlich oder -- ist meine Einbildungskraft am Ende nur
eine Art magischer Empfangsapparat? Etwa das, was auf dem Gebiete der
drahtlosen Telegraphie eine Antenne genannt wird?
Es hat Fälle gegeben, daß Menschen nachts im Schlaf
aufstanden und schriftliche Arbeiten, die sie abends,
übermüdet von den Anstrengungen des Tages, unfertig
hatten liegen lassen, vollendeten und Aufgaben besser lösten,
als sie es im Wachsein vermutlich imstande gewesen wären.
Dergleichen liebt man mit den Worten zu erklären: "Das
für gewöhnlich schlummernde Unterbewußtsein
ist zu Hilfe gekommen."
Geschieht so etwas in Lourdes, so heißt es: "Die Mutter
Gottes hat geholfen."
Wer weiß, vielleicht sind Unterbewußtsein und die
Mutter Gottes ein und dasselbe.
Nicht, als ob die Mutter Gottes nur das Unterbewußtsein
wäre, nein, das Unterbewußtsein ist die "Mutter" --
"Gottes".
In dem vorliegenden Roman spielt ein gewisser Christopher Taubenschlag
die Rolle eines lebenden Menschen.
Ob er jemals gelebt hat, gelang mir nicht ausfindig zu machen; meiner
Phantasie ist er sicherlich nicht entsprungen, das glaube ich fest; ich
sage das rund heraus, auf die Gefahr hin, daß man mich
für jemand halten wird, der sich interessant machen will.
Genau zu schildern, auf welche Weise das Buch zustande kam, liegt hier
kein Anlaß vor; es genügt, daß ich nur in
Streiflichtern knapp skizziere, was sich begeben hat.
Man möge entschuldigen, das dabei in einigen Sätzen
von mir selbst die Rede ist, ein Übelstand, der sich leider
nicht vermeiden läßt.
Ich hatte den Roman in allen Umrissen fertig im Kopfe und begann ihn
niederzuschreiben, da bemerkte ich -- später erst, beim
Durchlesen der Niederschrift! --, daß sich der Name
"Taubenschlag", ohne daß es mir sogleich bewußt
geworden wäre, eingeschlichen hatte.
Doch nicht genug damit: Sätze, die ich mir vorgenommen hatte,
zu Papier zu bringen, änderten sich unter der Feder und
drückten etwas ganz anderes aus, als ich sagen wollte; es
entspann sich ein Kampf zwischen mir und dem unsichtbaren "Christopher
Taubenschlag", in dem dieser schließlich die Oberhand
behielt.
Ich hatte geplant, eine kleine Stadt zu schildern, die in meinem
Gedächtnis lebt: es wurde ein völlig anderes Bild
daraus, ein Bild, das heute schärfer vor mir steht als jenes
wirklich erlebte.
Es blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als
dem Einfluß, der sich Christopher Taubenschlag nennt, seinen
Willen zu lassen, ihm, sozusagen, meine Hand zur Niederschrift zu
leihen und alles aus dem Buche zu streichen, was meinen eigenen
Einfällen entstammte.
Setzen wir den Fall: Jener Christopher Taubenschlag sei ein
unsichtbares Wesen, das auf rätselhafte Weise imstande ist,
einen Menschen bei klarem Bewußtsein zu beeindrucken und nach
seinem Willen zu lenken, so stellt sich die Frage ein: warum hat er
mich denn benutzt, um seine Lebensgeschichte zu schildern? Aus
Eitelkeit? -- Oder damit ein "Roman" zustande kommt?
Möge jeder sich selbst die Antwort geben.
Meine eigene Aussicht will ich für mich behalten.
Vielleicht steht mein Fall bald nicht mehr vereinzelt da; vielleicht
ergreift jener "Christopher Taubenschlag" morgen die Hand eines andern.
Was heute ungewöhnlich erscheint, kann morgen
alltäglich sein! Vielleicht ist die alte und doch ewig neue
Erkenntnis auf dem Wege:
"Jedwede Tat, die hier
geschieht,
Geschieht nach dem Naturgesetz;
Ich bin der Täter dieser Tat --
Ist selbstgefälliges Geschwätz."
Und die Figur des
Christopher Taubenschlag ist nur ihr Vorbote, ist ein Symbol, ist die
als Persönlichkeit sich gebärdende Maske einer gestaltlosen Kraft?
Für die Siebengescheiten, die da so überaus stolz
sind auf ihr "Hausherrentum",
mag freilich der Gedanke widerwärtig sein, daß der
Mensch nur eine Marionette ist.
Als ich von ähnlichen Empfindungen erfaßt, eines
Tages mitten im Schreiben war, kam mir plötzlich der Gedanke:
Ist dieser Christopher Taubenschlag vielleicht nur so etwas wie ein von
mir abgespaltenes Ich? Eine vorübergehende, zu
selbständigem Leben erwachte, in mir unbewußt
gezeugte und geborene Phantasiegestalt, wie es bei Leuten vorkommen
soll, die zeitweilig Erscheinungen zu sehen glauben und sich mit ihnen
sogar unterhalten?
Als hätte jener Unsichtbare in meinem
Gehirn
gelesen, unterbrach er sofort den Lauf der Erzählung und
streute, meine schreibende Hand benützend, wie in Parenthese
die sonderbare Antwort ein:
"Sind Sie" -- (es klang wie Spott, daß er mich 'Sie' und
nicht 'Du' nannte) -- "Sind Sie, wie alle Menschen, die sich gleich
Ihnen einbilden, Einzelwesen zu sein, vielleicht etwas anderes als eine
'Ichspaltung'? -- Abspaltung jenes großen Ichs, das man Gott
nennt?"
Ich
habe seitdem oft und viel über den Sinn dieses
merkwürdigen Satzes nachgedacht, denn ich hoffte in ihm den
Schlüssel zu dem Rätsel, das Christopher
Taubenschlags Daseinsbedingungen für mich umgibt, zu finden.
Einmal glaubte ich bei meinen Grübeleien bereits ein gewisses
Licht entdeckt zu haben, da verwirrte mich ein ähnlicher
"Zuruf":
"Jeder Mensch ist ein Taubenschlag, aber nicht jeder ist ein
Christopher. Die meisten Christen bilden es sich nur ein. Bei einem
echten Christen fliegen die weißen Tauben aus und ein."
Von da an gab ich die Hoffnung auf, dem Geheimnis auf die Spur zu
kommen, und verwarf gleichzeitig jede Spekulation, ich könnte
am Ende -- die antike Theorie, der Mensch verkörpere sich
mehrmals auf Erden, vorausgesetzt -- einst jener Christopher
Taubenschlag in einem früheren Leben gewesen sein!
Am liebsten wäre mir, ich dürfte glauben: jenes
Etwas, das mir die Hand führte, ist eine ewige, freie, in sich
selbst ruhende und von jeglicher Gestaltung und Form erlöste
Kraft; aber, wenn ich des Morgens nach traumlosem Schlafe erwache, sehe
ich zuweilen zwischen Augapfel und Lid das Bild eines alten,
weißhaarigen, bartlosen Mannes, hochgewachsen und jugendlich
schlank, wie eine Erinnerung der Nacht vor mir, und der Eindruck
erfüllt mich für den Tag mit dem nicht loszuwerdenden
Gefühl: das muß Christopher
Taubenschlag
sein.
Oft hat sich mir dabei der merkwürdige Gedanke zugesellt: Er
lebt jenseits von Zeit und Raum und tritt das Erbe eines Lebens an,
wenn der Tod nach dir die Hand ausstreckt. Doch wozu solche
Erwägungen, die Fremde nichts angehen!
Ich bringe nunmehr die Kundgebungen Christopher Taubenschlags, so wie
sie erfolgten, in der oft abgerissenen Form, ohne etwas
hinzuzufügen oder wegzulassen. (....)
(Beginn des Romans "Der weiße Dominikaner" von Gustav Meyrink)