(...) "Verzeihen Sie, Herr Swammerdam, ich möchte Ihnen nur kurz eine Frage stellen, obwohl ich Sie eigentlich sehr viel zu fragen hätte. - Was Sie vorhin über Hysterie gesagt haben und über die Kraft, die in den Namen verborgen liegt, hat mich wirklich tief berührt - aber andrerseits -"
"Darf ich Ihnen einen Rat geben, Mejufrouw?" - Swammerdam blieb stehen und sah ihr ernst in die Augen. - "Ich begreife sehr wohl, daß das, was sie vorhin mitangehört haben, Sie nur verwirren muß. Dennoch können Sie großen Nutzen daraus ziehen, wenn Sie es als erste Lehre auffassen und geistige Unterweisung nicht bei anderen suchen, sondern in sich selbst. Nur die Belehrungen, die der eigene Geist uns schickt, kommen zur rechten Zeit und für sie sind wir reif. Für die Offenbarungen an andern müssen Sie taub und blind werden. Der Pfad zum ewigen Leben ist schmal wie die Schärfe eines Messers; Sie können andern weder helfen, wenn Sie sie taumeln sehen, noch dürfen Sie Hilfe von ihnen erwarten. Wer auf andere schaut, verliert das Gleichgewicht und stürzt ab. Hier gibt´s kein gemeinsames Vorwärtsschreiten wie in der Welt, und so unbedingt nötig auch ein Führer ist: er muß aus dem Reich des Geistes zu Ihnen kommen. Nur in irdischen Dingen kann ein Mensch Ihnen als Führer dienen und seine Handlungsweise eine Richtschnur sein, um ihn zu beurteilen. Alles, was nicht aus dem Geist kommt, ist tote Erde, und wir wollen zu keinem andern Gott beten als zu dem, der sich in unsrer eignen Seele offenbart."
"Wenn sich aber kein Gott in mir offenbart?", fragte Eva verzweifelt.
"Dann müssen Sie in einer stillen Stunde nach ihm rufen mit Aufgebot aller Sehnsucht, deren Sie fähig sind."
"Und dann, glauben Sie, wird er kommen? Wie leicht wäre das!"
"Er wird kommen! Aber - entsetzen Sie sich nicht: - zuerst als Rächer Ihrer früheren Taten, als der furchtbare Gott des Alten Testamentes, der gesagt hat: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er wird sich offenbaren in plötzlichen Veränderungen Ihres äußeren Lebens. Alles müssen Sie zuerst verlieren, sogar -" Swammerdam sagte es leise, als fürchte er sich, sie könne es hören - "sogar Gott, wenn Sie ihn immer von neuem finden wollen. - Erst, wenn Ihre Vorstellungen von ihm - gereinigt von Gesalt und jeglichem Begriff von Außen und Innen, Schöpfer und Geschöpf, Geist und Stoff, werden Sie ihn -"
"Sehen?"
"Nein. Niemals. Aber mit seinen Augen werden Sie sich sehen. Dann sind Sie frei von der Erde, denn Ihr Leben ist in Seines eingegangen und Ihr Bewußtsein ist nicht mehr vom Leibe abhängig, der wie ein wesenloser Schatten dem Grab entgegengeht."
"Welchen Zweck haben aber dann die Schläge des äußeren Lebens, von denen Sie sprechen? Sind sie eine Prüfung oder eine Strafe?"
"Es gibt weder Prüfungen noch Strafen. Das äußere Leben mit seinen Schicksalen ist nichts als ein Heilungsprozeß, für den einen mehr, für den andern weniger schmerzhaft, je nachdem der Betreffende krank ist an seiner Erkenntnis."
"Und Sie glauben, wenn ich Gott rufe, wie Sie sagen, wird sich mein Schicksal verändern?"
"Sofort! Nur wird es sich nicht 'verändern', es wird werden wie ein galoppierendes Pferd, das bis dahin im Schritt gegangen ist."
"Ist Ihr Schicksal denn so im Sturm abgelaufen? Sie verzeihen die Frage, aber nach dem, was ich über Sie gehört habe -"
"Ist es sehr eintönig dahingeflossen, meinen Sie, Mejufrouw", ergänzte Swammerdam lächelnd. "Erinnern Sie sich, was ich Ihnen vorhin gesagt habe?: 'Blicken Sie nie auf andere.' - Der eine erlebt eine Welt, und dem andern erscheint´s eine Nußschale. Wenn Sie im Ernst wollen, daß Ihr Schicksal galoppiert, müssen Sie - ich warne Sie davor und rate es Ihnen zugleich, denn es sit das einzige, was der Mensch tun soll, und gleichzeitig das schwerste Opfer, das er bringen kann! - müssen Sie Ihren innersten Wesenskern, den Wesenskern, ohne den Sie eine Leiche wären (und sogar nicht einmal das), anrufen und ihm - befehlen, daß Er Sie den kürzesten Weg zu dem großen Ziel führt - dem einzigen, das des Erstrebens wert ist, so wenig Sie es jetzt auch erkennen -, erbarmungslos, ohne Rast, durch Krankheit, Leiden, Tod und Schlaf hindurch, durch Ehren, Reichtum und Freude hindurch, immer hindurch und hindurch wie ein rasendes Pferd, das einen Wagen vorwärts reißt über Äcker und Steine hinweg und an Blumen und blühenden Hainen vorbei! Das nenne ich: Gott rufen. Es muß sein wie ein Gelöbnis vor einem rauschenden Ohr!"
"Aber wenn das Schicksal kommt, Meister, und ich werde schwach und - will umkehren?"
"Umkehren kann nur der auf dem geistigen Weg - nein, nicht einmal umkehren, nur stehen bleiben, sich umsehen und zur Salzsäule werden -, der kein Gelöbnis abgelegt hat! Ein Gelöbnis in geistigen Dingen ist wie ein Befehl, und Gott ist der - Diener des Menschen in diesem Fall, um ihn auszuführen. Entsetzen Sie sich nicht, Mejufrouw, es ist keine Lästerung! Im Gegenteil! (....)"


(aus "Das grüne Gesicht" von Gustav Meyrink; 1868-1932)