(...)
»Jetzt, mein Bübel, jetzt werden wir bald beim Urlaubkreuz sein«, sagte der
Vater, »bei demselben siehst den zellerischen Turm.«
Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir sahen die Kapelle, die gerade vor uns
auf dem Berge stand und die Sigmundskapelle heißt. Da oben hat vor noch nicht
lange ein Einsiedler gelebt, der sich nicht für würdig gehalten, bei der Mutter
Gottes in Zell zu sein, und der doch ihr heiliges Haus hat sehen wollen jede
Stund. Ein Vöglein hätte ich mögen
sein, daß ich hätte hinauffliegen können zum Kirchlein und von dort aus Zell
etliche Minuten früher schauen als von der Straße aus.
An der Wegbiegung sah ich an einem Baumstamm ein Heiligenbild.
»Ist das schon das Urlaubkreuz?«
»Das kleine«, sagte mein Vater, »das ist erst vom Urlaubkreuz das Urlaubkreuz.
Schau, dort steht das große.«
Auf einem roten Pfahl ragte ein roter Kasten, der hatte ein grün angestrichenes
Eisengitter, hinter welchem ein Bildnis war. Wir eilten ihm zu; ich hätte laufen
mögen, aber mein Vater war ernsthaft. Als wir vor dem roten Kreuz standen, zog
er seinen Hut vom Kopf, sah aber nicht auf das Bild hin, sondern in das neu
hervorgetretene Tal hinaus und sagte mit halblauter Stimme: »Gott grüß dich,
Maria!«
Ich folgte seinem Auge und sah nun durch die Talenge her und durch die Scharte
einiger Bäume eine schwarzglänzende Nadel aufragen, an welcher kleine Zacken
und ein goldener Knauf funkelten.
»Das ist der Zellerische Turm.«
Ein klein wenig haben wir alle beide geschluchzt. Dann gingen wir wieder - einen
Schritt vorgetreten, und wir haben den Turm nicht mehr gesehen. Wir sollten
ja bald an seinem Fuße sein.
Wir stiegen die letzte Höhe hinan und hatten nun auf einmal den großen
Markt
vor uns liegen und inmitten, hoch über alles ragend und von der abendlichen
Sonne beschienen, die Wallfahrtskirche.
Die Stimmung, welche zu jener Stunde in meiner Kindesseele lag, könnte ich nicht
schildern. So, wie mir damals, muß den Auserwählten zumute sein, wenn sie in
Zion eingehen.
Wir taten wie alle andern auch: auf den Knien rutschten wir zum Gnadenbilde
hin, und ich wunderte mich nur darüber, daß der Mensch auf den Knien so gut
gehen kann, ohne daß er es gelernt hat.
Wir besahen an demselben Abend noch die Kirche und auch die Schatzkammer. An
den gold- und silberstrotzenden Schreinen hatte ich lange nicht die Freude wie
an den unzähligen Opferbildern, welche draußen in den langen Gängen hingen.
Da gab es Feuersbrünste, Überschwemmungen, Blitzschläge, Türkenmetzeleien, daß
es ein Schreck war. Es ist kaum eine Not, ein menschliches Unglück denkbar,
das in der Zellerkirche nicht zur bildlichen Darstellung gekommen wäre. Wer
hat diesen Volksbildersälen eine nähere Betrachtung gewidmet?
Wir stiegen auch auf den Turm; das war unerhört weit hinauf in den finsteren
Mauern, und wie oft mochte der Rockschoß meines Vaters hin und her geschlagen
haben, bis wir oben waren! Und endlich standen wir in einer großen Stube, in
welcher zwischen schweren Holzgerüsten riesige Glocken hingen. Ich ging zu einem
Fenster und blickte hinaus - was war das für ein
Ungeheuer?
Eine Kuppel der Nebentürme hatte ich vor Augen. Und, du heiliger Josef, wo waren
die Hausdächer? Die lagen unten auf dem Erdboden. Dort auf dem weißen Streifen
krabbelte eine Kreuzschar heran. Als der Türmer dieselbe gewahrte, hub er und
noch ein zweiter an, den Riemen einer Glocke zu ziehen. Diese kam langsam in
Bewegung, der Schwengel desgleichen, und als derselbe den Reifen berührte, da
gab es einen so gewaltigen Schall, daß ich meinte, mein Kopf springe mitten
auseinander. Ich verbarg mich wimmernd unter meinen Vater hinein, der war so
gut und hielt mir die Ohren zu, bis die Kreuzschar einzog und das Läuten zu
Ende war. Nun sah ich, wie die beiden Männer vergeblich an den Riemen zurückhielten,
um die Glocken zum Stillstand zu bringen; hilfsbereit sprang ich herbei, um
solches auch an einem dritten niederschlängelnden Riemen zu tun - da wurde ich
schier bis zu dem Gebälk emporgerissen.
»Festhalten, festhalten!« rief der Türmer mir zu. Und endlich, als die Glocke
in Ruhe und ich wieder auf dem Boden war, sagte er: »Kleiner, kannst wohl von
Glück sagen, daß du nicht beim Fenster hinausgeflogen bist!«
»Ja«, meinte mein Vater, »kunnt denn da in der Zellerkirchen auch ein Unglück
sein?«
Abends waren wir noch spät in der Kirche; und selbst als sich die meisten Wallfahrer
schon verloren hatten und es auch an dem Gnadenaltar dunkel war bis auf die
drei Ewigen Ampeln, wollte mein Vater nicht weichen. Gar seltsam aber war's,
wie er sich endlich von seinen Knien erhob und in die Gnadenkapelle hineinschlich.
Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand
hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den
Altar.
Jetzt sah ich, was es war - ein Eisenzahn von unserer Egge war es.
Und am anderen Tag gegen Abend, als wir meinten, unsere Kirchfahrt so verrichtet
zu haben, daß Maria und unser Gewissen zufrieden sein konnten, gingen wir wieder
davon. Beim Urlaubkreuz blickten wir noch einmal zurück auf die schwarze, funkelnde
Nadel, die zwischen zwei Bäumen hervorglänzte.
»Behüt dich Gott, Mariazell«, sagte mein Vater, »und wenn es Gottes Will, so
möchten wir noch einmal kommen, ehvor wir sterben.« -
Dann gingen wir bis Wegscheid, dort hielten wir nächtliche Rast. Und am nächsten
Tag überstiegen wir wieder den
Berg und wanderten durch das Veitschtal. Als
wir zu den Bauernhäusern der Niederaigen kamen, sprach mein Vater dort zu, wo
wir auf dem Hinweg zur Nacht geschlafen hatten, und überreichte der Bäuerin
ein schönbemaltes Bildchen von Mariazell.
Als wir am Abend desselben Tages heimgekommen waren und uns zur Suppe
gesetzt hatten, soll ich, den Löffel in der Hand, eingeschlafen sein.
(...)
(aus "Als ich der Waldbauernbub
war" von Peter Rosegger)
... Buch bestellen ...