Marduk
Assyrische
Burg-Novelette
(Auszug)
Lautlos war die Nacht. - Und alle
Sterne des Himmels funkelten hoch über der großen Stadt Ninive. Auf dem
Marktplatz standen viele Bogenschützen und blickten zum Himmel empor und sahen
nach einem Stern, der heller funkelte als die andern - sie sahen zum Stern
Marduk (Anm.: hierzulande als "Jupiter" bekannt; Red.) hin mit
hochgezogenen Augenbrauen.
Und der Eunuch Zirukin sprach leise zu den
Bogenschützen, die ihn umstanden:
"Ihr könnt mir's glauben: der große
Planet dort oben steht in der günstigsten Stellung im Sternbilde der Widder.
Große Dinge bereiten sich vor. Ihr werdet Glück haben, wenn ihr nach Babylon
kommt. Ihr werdet siegreich sein und viel erobern. Das sagen alle Priester in
den Tempeln. Ich hab's gehört mit meinen Ohren."
Und mit starren Augen
zog der Eunuch Zirukin geheimnisvolle Kreise mit dem rechten Zeigefinger durch
die Luft.
"Ihr werdet", fuhr er fort, "unserm großen König Sargon dem
Zweiten Sieg bringen. Geht mit Marduk. Reitet mit Marduk, dem Herrn der Götter,
durch die dunkle Nacht."
"Sieg!" murmelten die Bogenschützen.
Und
"Sieg!" riefen dann alle siebenmal. Und auch die Fernerstehenden riefen "Sieg!"
- es klang dumpf. Auch die Krieger, die die Pferde hielten, riefen "Sieg!" - und
dabei starrten alle den großen Planeten Marduk an.
Dann hörte man vom
Westtore her wildes Rossegetrappel. Andere Reiter kamen mit Fackeln. In ihrer
Mitte der Oberfeldherr Nadinaplu.
Die Bogenschützen sprangen auf ihre
Pferde und ritten dem Oberfeldherrn Nadinaplu entgegen.
Danach sprengten
alle zusammen - an die dreitausend Mann - durchs Osttor von Ninive hinaus
in die Sternennacht.
Babylon
Währenddem saß in Babylon der
Oberpriester Nabuseto auf der obersten Dachterrasse des Marduktempels. Und neben
ihm saß der König von Babylon, der große Mardukbaliddin. Der König rollte mit
den Augen nach rechts und nach links, daß das Weiße neben dem Augapfel im
dunklen Gesicht hell aufleuchtete. Mit der Rechten kraulte sich der König im
schwarzen, feingekräuselten Vollbart. Tiefe Falten waren zwischen den buschigen
Augenbrauen.
"Ich bin Marduk", sagte er düster, "der große Gott Babylons.
Und ich kämpfe schon neun Jahre gegen diesen Mann aus Ninive. Das Gold wird mir
knapp. Die Babylonier sind schlaff und helfen mir nicht, trotzdem ich's schon
durch meinen Namen so deutlich gesagt habe, daß ich der Gott Marduk
bin."
"Du hast es", erwiderte Nabuseto, "eben zu deutlich gesagt. Das
wirkt nicht. Du hast unsre Gegner unterschätzt. Wir waren gleich dagegen. Der
Mann aus Ninive hat genauer auf die Worte seiner Priester geachtet und war nicht
so deutlich; er nannte sich Sargon - Sargon der Zweite! Und jeder denkt dabei an
den großen König Sargon von Agade. Der lebte vor zwei Jahrtausenden und war
selbstverständlich auch Gott Marduk. Aber beachte: es ist das nicht so deutlich
gesagt, daß sich Sargon der Zweite auch in erster Linie für den Gott Marduk
hält. Man empfindet diese Zurückhaltung wohltuend. Und - er hat viel Gold und
kann alle seine Leute reich beschenken. Laß deine Priester für dich sorgen,
traue ihnen mehr zu. Wir sind hier im Tempel des Marduk, und ich bin der
Oberpriester des Tempels. Vergiß nicht, den großen Gott, dessen Ebenbild du
bist, anzubeten. Dort oben am Himmel steht sein Stern."
Da warfen sich
die beiden auf den Fliesenboden und berührten siebenmal mit der Stirn die
Fliesen und beteten lange zu Marduk, dem großen Herrn der Götter.
Die
Sargonsburg
Zwei Meilen nordöstlich von Ninive, am Fuße des Gebirges
Musri, lag die große Sargonsburg, in der der König Sargon residierte. Mächtige
Wälle umgaben die Burg. Und hinter den Wällen ragten viele Tempel hoch empor.
Und viele Paläste lagen neben den Tempeln. Und viele glasierte Ziegel glänzten
von den Tempeln und Palästen in den Farben der fünf Planeten - im Goldtone der
Sonne und im Silbertone des Mondes.
Auf einem Hügel in der Mitte des
weiten Burghofes stand das kolossale Standbild des Isdubar - viereinhalb Meter
hoch - in der Linken hielt er einen zappelnden Löwen - wie eine Mutter ein
ungezogenes Kind hält - in der Rechten hielt er ein großes Schwert. Sein Bart
war fein gekräuselt - wie's Sitte ist in Ninive und Babylon.
Der ganze
Burghof war mit glasierten Ziegeln belegt. Und die waren bunt wie Teppiche. Auf
den Dachterrassen standen viele Hofbeamte, Eunuchen und Priester.
Unten
ging's treppauf und treppab. Und viele Krieger mit Harnisch und Helm gingen da
umher. Auch Rosse wurden herumgeführt.
Und Haremsdamen
wurden in Sänften schnell von den Sklaven vorübergetragen - treppauf und treppab.
Von der Dachterrasse des königlichen Palastes aus konnte man den
Tigris in der Ferne sehen.
Und von der Dachterrasse des Assurtempels aus
konnte man das Wasser des großen Zab sehen, der ein Nebenfluß des Tigris
ist.
Vom Tempel des Nebo aus sah man nur die umliegenden
Baulichkeiten.
Vom Tempel des Marduk aus sah man nur den großen Himmel
mit den ewigen Sternen.
Das Frühstück
Kurz vor
Sonnenaufgang lag der König Sargon der Zweite in dem größten seiner Paläste auf
einem breiten Diwan und ließ sich die schwarzen Bart- und Haupthaare kräuseln.
Der Eunuch Zirukin tat das eigenhändig mit Eifer und Sorgfalt; fünf Sklaven
machten ihm die Brennscheren heiß, rieben die Pomaden in kupfernen Tiegeln und
schärften die großen Scheren auf kleinen Schleifsteinen.
Der König lag in
einem großen Sommerhause, das sich auf einer Dachterrasse befand. Nur nach Osten
war das Haus offen. Aber diese offene Seite war von einem dichten Fadennetz
überspannt, so daß Fliegen und Bienen nicht hinein konnten. Diese schwärmten
über einem kleinen Rosengarten, der vor dem Sommerhause einen wundervollen Duft
zum Himmel ausströmte.
Und der König blickte ins weite Land gen
Osten.
Alles war still. Zirukin gab seinen
Sklaven nur durch
Fingerzeichen die Befehle.
Und im Hintergrunde des Gemachs rösteten die Küchensklaven frisches Lammfleisch.
Ein
kleines Stück wurde auf eine kleine Goldschale gelegt und dem König an langer
Stange feierlich dargereicht. Der König spießte das Fleisch mit einem
Knochendolch auf und führte es vorsichtig pustend zum Munde, während Zirukin die
Stirnlocke kräuselte. Am Griff des Knochendolches saßen fünf Türkise - in
verschiedener Größe und ausgezackt - die Planeten darstellend.
Die Sonne
ging auf.
Die Rosen dufteten.
Die
Bienen summten.
Und ein
Sklave brachte eine Tontafel mit Keilschrift.
Es war ein Bericht des
Oberfeldherrn Nadinaplu, der in Babylonien die Dörfer in Schrecken setzte und
die Umgegend von Babylon ausplünderte. Drei Zentner reines Gold sandte der
Oberfeldherr in die Sargonsburg.
Der König sagte leise:
"Ein
größeres Stück Lammfleisch."
Geheimnisvoller
Briefwechsel
Kaufleute kamen aus Babylon zur Sargonsburg und brachten
Wein in Schläuchen und Lapislazuli in ledernen Beuteln. Einer von diesen
Kaufleuten sprach lange mit Zirukin, dem Haarkräusler des Königs.
Und
während die beiden sprachen, drückte der Kaufmann dem Zirukin ein Stück Ton in
die Hand, das geformt war wie ein Stück Seife. Auf diesem Ton stand in
Keilschrift:
"König Mardukbaliddin sprach zu seinem Schatzmeister: Nimm
alles Gold, das du in meinen
Palästen findest, und bring's nach Theben im
Ägypterlande. Dort wird man dir das Gold für mich verwahren. Der König von
Ägypten ist mein Freund. In Babylon ist kein Gold mehr. Sargon, der König, der
mich fortwährend bedrängt, möge mit Ägypten Krieg führen, wenn er immer noch
nach dem babylonischen Golde lüstern ist."
Kein Siegel war unter diesem
Schreiben. Zirukin las es in seiner Felsgrotte vor seinem großen Dachgarten. Er
wußte: das Schreiben kam von seinem Onkel - dem Oberpriester Nabuseto. Der
Eunuch nahm sofort ein Stück feuchten Ton und ritzte darauf in Keilschrift
folgende Sätze:
"Dreihundert Zentner Gold hat Nadinaplu erbeutet. Der
Schatzmeister des Königs Mardukbaliddin ist also mit seinem Golde nicht bis
Theben durchgedrungen. In der Sargonsburg werden alle Tempel
vergoldet."
Dieses Schreiben ließ der Eunuch rasch brennen und gab's dem
Kaufmann schweigend mit einem Goldstück für Nabuseto, seinen Oheim - den
Oberpriester des Marduktempels zu Babylon.
Nabuseto schüttelte, als er
das las, den Kopf und sagte zum König:
"Dreihundert Zentner
Gold soll
Nadinaplu in den Dörfern vor Babylon erbeutet haben. Nicht dreißig Zentner sind
da zu finden. Sollte der Assyrer geheime Fundstätten entdeckt
haben?"
Geflügelte Sonnen
Zirukin hatte seinem König
Sargon dem Zweiten schon zweimal das Leben in der Schlacht gerettet. Und er war
seinem Könige treu ergeben und unterhielt nur mit seinem Oheim den
geheimnisvollen Briefwechsel, um zu wissen, was die Feinde taten und welcher Art
die Gefahren sein könnten, die seinen König bedrohten.
Nabuseto in
Babylon wußte, daß sein Neffe in der Sargonsburg auch nicht so eifrig bemüht
war, die Wahrheit zu reden. Das tat an den Höfen und in den Tempeln keiner. Und
doch erfuhr man auch durch Lügenberichte, wenn man sie korrigieren konnte,
immerhin etwas.
Und so nahm Nabuseto doch an, daß Nadinaplu sehr wohl
eine größere Masse Goldes erbeutet haben konnte; schon dreißig Zentner
erschienen dem Oberpriester ungeheuerlich viel. Nach Ägypten war natürlich
niemals Gold gesandt. Aber der Oberpriester leitete jetzt die Politik, und er
bediente sich dabei vieler Spione. Einige von diesen sollten in der Umgegend von
Babylon nachforschen nach neuen Fundstätten. Überall, wo gegraben wurde, sollten
sie dabei sein.
Zur Sargonsburg sandte der Oberpriester abermals eine
Karawane, unter denen zwei Leute zu Zirukin gehen mußten mit neuen
Tontafeln.
Nabuseto war neugierig.
Zirukin aber war schlauer als
sein Oheim; er sagte ruhig zu den Spionen:
"Seht ihr dort am Assurtempel
auf den blau glasierten Ziegeln geflügelte Sonnen? Zählt sie! Es sind siebenmal
sieben Sonnen. Und alle sind jetzt neu vergoldet. Das erzählt meinem
Oheim."
Als das der Oheim in Babylon hörte, glaubte er fest daran, daß
Nadinaplu mindestens hundert Zentner in einer geheimen Fundstätte erbeutet
habe.
Der König in der Sänfte
Bald danach stand in der Sargonsburg, als die Sonne grade unterging mit
roten Wolken, der Bildhauer Samasdan neben dem Oberpriester Balatu. Sie standen
auf einer Terrasse hinter einem
Lorbeergebüsch.
Samasdan,
auch ein Priester des Marduktempels, war drei Jahre in Ägypten gewesen und
soeben zurückgekehrt. Er sagte leise:
"Die großen Pyramiden haben fünf
Spitzen und fünf Flächen, da wir fünf Planeten am Himmel sehen. Die geflügelte
Sonne ist Symbol des Gottes Horus, bei uns Symbol Assurs. Der herrschende
Priester und König im Ägypterlande sitzt und klemmt die Knie aneinander - er
will den Geist der Massen beherrschen."
"Der König kommt!" sagte leise
Balatu.
Und beide blickten hinunter auf den großen Platz vor dem
Königspalaste, der mit rot-, blau- und grünglasierten Ziegeln belegt war - wie
mit einem Teppich. Und von zwanzig Sklaven wurde der König in einer Sänfte
vorübergetragen.
Aber König Sargon der Zweite stand in der
Sänfte.
Ausschreitend stand der König da.
"Ah", sagte der
Bildhauer Samasdan, "das ist nicht Ägypten. Aber wie der König steht! Das ist
auch beherrschend - die Masse beherrschend durch den niedertretenden Schritt.
Das ist assyrische Majestät."
"Er fühlt", sagte Balatu, "den Gott Marduk
in sich mächtig. Diese Majestät kommt von dem großen Gott Marduk - wird in
Sargon immer lebendiger werden."
Der König stand auf einer Holzplatte,
die dicht über dem Boden gehalten wurde. Die Tragstangen befanden sich höher,
hielten das Mittelgestell rechtwinklig.
Die Sklaven standen plötzlich
still.
Die Sonne ging unter.
Der König stieg rasch von der
Holzplatte auf den glasierten Ziegelboden und ging, weit ausschreitend, durch
die Eingangspforte seines Palastes.
Der Thronfolger und die
Skulptur
Als König Sargon wieder mal auf der Jagd war - im Gebirge
Musri, da brachte der Thronfolger eines Morgens die ganze Sargonsburg in
Bewegung.
Zu des Königs Vezier Beletir rief er in sehr befehlshaberischem
Tone:
"Ich weiß sehr wohl, daß es in der Nähe von Ninive noch mehr
Skulpturen gibt als auf der Sargonsburg. Der Vater ist im Gebirge und kommt erst
nach einigen Tagen wieder. Ich bin ja erst zwölf Jahre alt, aber ich weiß auch,
daß ich Sinacherib, der Thronfolger, bin. Beletir, widersprich mir nicht! Laß
zwanzig Streitwagen rüsten. Von der Palastwache sollen mich hundert Mann zu
Pferde begleiten. Bring mir den Bildhauer Samasdan. Ich will mit dir, Beletir,
in einer Stunde abreisen - über Ninive zum Südwestpalast, wo die alten Könige
Assyriens thronten. Dort - die Skulpturen! Samasdan herbringen!"
Beletir
murmelte zwischen den Zähnen:
"Diese Kinderwarterei! Ich habe die
Verantwortung und darf mich nicht widersetzen. Passiert was, verlier' ich den
Kopf."
Aber es geschah alles - wie Sinacherib wünschte.
Nach einer
Stunde rasten die Streitwagen nach Ninive - durch die Stadt durch und dann nach
Südwest - in den alten halbverfallenen Palast - Samasdan immer neben Sinacherib;
der Bildhauer erzählte von Ägypten und erklärte die alten assyrischen
Skulpturen, die eigentlich nur von
Jagd und Krieg erzählten.
Der Vezier
Beletir war immer hinter dem Thronfolger und hütete ihn wie seinen Augapfel.
Sinacherib sprach:
"Diese Löwenjagden in den Stein gemeißelt - erinnern
mich an unsern großen Isdubar in der Sargonsburg. Aber - hier ist alles viel
lebendiger und anschaulicher. Wir müssen öfters hierher, Samasdan! Du erklärst
gut. Immer - wenn der Vater auf der Jagd ist - dann hierher! Hier ist es
kühl."
Und der Thronfolger streichelte Samasdans rechten
Arm.
Balatus Politik
In heißer Sommernacht saß der
Oberpriester des Marduktempels, der gewaltige Balatu, neben Samasdan, dem
Bildhauer. "Es gefällt mir", sagte er zu diesem, "daß du Günstling des
Thronfolgers bist. Aber gestatte, daß ich dir einige Ratschläge gebe. Man erhält
sich seine Stellung an den Höfen der Könige nur dadurch, daß man sich stets
zurückzieht, so oft man kann - dadurch, daß man sich suchen läßt - dadurch, daß
man harmlos tut und alle Machtgelüste nie an die offenen Türen gelangen läßt.
Selbst Könige dürfen mit dem, was ihnen das Heiligste ist, nicht vor den Leuten
freundlich tun. Deswegen riet ich dem Könige, daß er in seinem Namen nicht
Marduk, den Gott des Himmels, erwähne - obschon er doch Marduk ist - der
Retter."
"Glaubt er ganz fest daran?" fragte Samasdan.
"Ja",
erwiderte der Oberpriester, "ich will dir Gelegenheit geben, uns zu belauschen.
Er hat mir sagen lassen, er käme noch in dieser Nacht zu mir - ohne Gefolge -
ganz allein. Du kannst dort drüben in mein Zimmer gehen. Rege dich da
nicht."
"Ich danke dir!" sagte der
Bildhauer.
Und der große Balatu
fuhr fort:
"Vergiß nicht, daß Marduk eigentlich der Gott von Babylon ist.
Wir müssen eben, das ist meine feste Überzeugung, Babylon auch geistig erobern.
Nun werden hier aber die Priester des Assurtempels immer darauf bedacht sein,
Assur in den Vordergrund zu schieben. Wir tun deshalb gut, sie öffentlich nie
daran zu hindern. Wir müssen immer öffentlich Assur an erster Stelle nennen und
öffentlich im Hintergrunde bleiben - wenn wir die Geschicke Assyriens, das ein
Spiegelbild des großen Himmels ist, so leiten wollen, wie es unser Gott Marduk
wünscht. Doch - der König kommt."
Samasdan küßte dem Oberpriester
ehrfurchtsvoll die Hand und ging, rückwärts schreitend, mit gebeugtem Rücken
davon. (...)
(von Paul Scheerbart; 1863-1915.)