Klagen um Osiris

O mein Herr Osiris! (Viermal zu sprechen.)
Großer des Himmels und der Erde! (Viermal zu sprechen.)
Du schöner Jüngling, komm zurück zu deinem Haus,
so lange haben wir dich nicht gesehen!
Du schönes Kind (Ihi), komm zurück zu deinem Haus ...
Du schöner Jüngling, der vorzeitig dahinging,
in voller Jugendblüte zur Unzeit!
Erhabenes Abbild seines Vaters (Ta)tenen,
geheimer Same, der aus
Atum hervorging;
ein Herr, ein Herr, der über seine Väter erhöht ist,
Erstgeborener im Leibe seiner Mutter!

Ach, dass du zu uns kämest in deiner früheren Gestalt,
dass wir dich umarmen, ohne dass du uns entschwindest,
du Schöngesichtiger mit großer Liebe!
Komm doch in Frieden, du unser Herr, dass wir dich sehen,
dass die beiden Schwestern deinen Leib umfangen ...
Du unser Haupt, wende dich zu uns!
Große Trauer herrscht unter den Göttern,
denn sie können den Weg nicht erfassen, den du nahmst.
Du junges Kind, dessen Zeit noch nicht war,
du sollst Himmel und Erde durchmessen in deiner einstigen Gestalt!

......

Komm in Frieden, du ältestes Kind seines Vaters,
der du in deinem Hause bleibst ohne Furcht,
(da) dein Sohn Horus dich beschützt ...
und Seth allem Übel gehört, das er getan hat.

(Isis allein:)
Wie (groß) ist mein Verlangen, dich zu sehen!
Ich bin deine Schwester Isis, die Geliebte deines Herzens,
auf der Suche nach deiner Liebe, da du fern bist.
Heute überflute ich dieses Land (mit Tränen)!

(Duett:)
Komm doch zu den beiden Witwen!
......
Große Trauer herrscht unter den Göttern,
die Neunheit senkt wegen dir den Kopf auf die Knie,
da du erhaben warst über die Götter.
Wo ist der, der die Erde betrat,
der groß war im Mutterleib, mit dem Uräus an der Stirn?
Du Seele (Ba), mögest du von neuem leben!
Die beiden Schwestern umfangen deinen Leib,
die hierher kamen vorzeiten.
Millionen trauern um dich.
......
Erhebe dich, erhebe dich - siehe, Seth ist am Strafort,
der gegen dich frevelte, er wird nicht sein!
Komm doch zu deinem Haus, Osiris,
(zu) dem Platz, wo (man) dich zu sehen wünscht!
Höre die Klage des Horus auf den Armen seiner Mutter Isis!
Aber du bist ferngehalten, zerstreut durch alle Lande -
wer deinen Leib wieder vereinigt, der erbt deinen Besitz ...

(Isis allein:)
Ich bin eine Frau, die dem Geliebten wohltut,
dein Weib, (deine) Schwester von deiner Mutter her.
Komm doch eilends zu mir,
denn ich möchte dein Gesicht wiedersehen, das ich so lange nicht sah!
Für uns ist Finsternis hier in meinem Gesicht,,
obwohl die Sonne am Himmel steht;
der Himmel ist mit der Erde vermischt,
Schatten verbreitet sich jetzt in der Welt.
Mein Herz brennt, weil du dich zu Unrecht getrennt hast;
mein Herz brennt, weil du mir den Rücken gekehrt hast,
denn keinen Tadel konntest du an mir finden!

Die Hügel sind zerfurcht und die Wege verwirrt,
und ich suche, um dich zu schauen!
Ich bin (wie) eine Stadt ohne Schutzwehr,
und ich sehne mich nach deiner Liebe zu mir!
Komm zurück! Sei nicht einsam und sei nicht fern!
Siehe, dein Sohn wird den Feind zum Richtblock treiben!
Ich verbarg mich im Dickicht, um deinen Sohn zu verstecken, damit er dich rächt;
denn es ist etwas sehr Schlimmes, fern von dir zu sein,
und es tut auch dir nicht gut.
Einsam wandere ich im Dickicht,
und viele sind voller Wut auf deinen Sohn.
......
Mein Geliebter, mein Herr, der zum Lande des Schweigens dahinging,
komm zurück zu mir, so wie du einst warst,
komm in Frieden, in Frieden!
......


Aus "Altägyptische Dichtung". Reclam. ISBN 3-15-009381-3.

Dieser Text ist die auszugsweise Übersetzung des Anfangs des sogenannten Papyrus Bremner-Rhind aus dem Jahr 312/311 v. Chr.

Die Klagenden sind Isis und Nefthys, die den vom Bruder Seth arglistig ermordeten Osiris suchen um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Der Text wird bei kultischen Handlungen von zwei Jungfrauen mit kahlrasierten Körpern, Perücken auf den Häuptern, Tamburine in den Händen, gesungen. Einer wird zuvor der Name Isis, der anderen der Name Nefthys auf den Arm gemalt.