Seine faustische Periode hat
Kierkegaard einiges gekostet, existenziell wie finanziell. Aus dem in Wolle
gezwängten Jüngling, den die Schulkameraden Socken-Sören nannten, entwickelte
sich damals ein eitler Dandy, der wie maßgeschneidert zur Spätromantik passte.
Mit Hilfe von Darlehen und Krediten und ganz im Gegensatz zur herrnhutischen
Genügsamkeit im Elternhaus hat er sich ungeheure extravagante Marotten
angewöhnt. Da gab es einen immensen Konsum an Theatervorstellungen, an
philosophischer und ästhetischer Literatur, Cafébesuchen, extravaganten Mänteln
(der rotkohlfarbene wird durch einen zitronengelben ersetzt), Hüten, Fiakern,
Speisen, Weinen, kistenweise Zigarren der Marken Las tres Coronas und La Paloma
mit zugehörigen Futteralen sowie monatlich 500 Gramm Pfeifentabak der
venezulanischen Variante Varinas, eine echte, reine und erstklassige Ware, die
in Packungen à 6 Rollen in Binsenkörben gestapelt waren. Darüber hinaus
figurieren Spazierstöcke, Seidenschals, Handschuhe und anderer Lebensbedarf,
darunter etliche Flaschen Eau de Cologne, auf den Rechnungen.
Ende
Oktober hatte ein gewisser Herr Sager dem verschwenderischen Studenten ein
Wochendarlehen von 60 Reichstalern vorstrecken müssen, und der Vorstand der
Studentenvereinigung kann Ende des Jahres mitteilen, dass Kierkegaard jetzt mit
dem Kontingent vier Monate im Verzug sei und dass ihm folglich der Zugang zu den
Räumen der Vereinigung verwehrt werde, wenn er den schuldigen Betrag nicht
baldigst entrichte. Die Kreditwürdigkeit des allzu spendablen Dandys wird
allmählich überschaubar und somit das Aufnehmen neuer Darlehen
peinlich.
"Meine Situation, als ich von Rask Geld lieh und Monrad
hinzukam", berichtet das Tagebuch denn auch voller Scham im Juni 1836, als
Kierkegaard das Pech hatte, sich gleichzeitig in der Gesellschaft zweier seiner
Gläubiger zu befinden. Am 5. September 1837 musste der Theologiestudent zu
Kreuze kriechen und den Vater um Hilfe bitten. Allein im Laufe des Jahres 1836
hat er Schulden von 1262 Reichstalern angehäuft, von denen 381 an Buchhändler
Reitzel in der Köbmagergade, 280 an Schneider Künitzer in Vimmelskaftet, 235 an
verschiedene Konditoreien und 44 an den Tabakhändler M.C. Freys in der Östergade
gehen sollen. Und was sonst noch so anfällt.
Schuld an der zittrigen Hand,
mit der der Vater "Sören" auf das kleine Schreibheft schreibt, das im
darauffolgenden Jahr als Rechnungsbuch über bezahlte Schulden dient, ist nicht
nur, dass er in die Jahre gekommen war. Er war ganz einfach erschüttert, was gut
zu verstehen ist: die 1262 Reichstaler, die der Sohn verpulvert hatte, waren
mehr, als ein Professor im Jahr verdiente. An Verlockungen fehlte es bestimmt
nicht. Ströget hieß damals "die Route", wo man sich traf, um zu sehen und
gesehen zu werden, wo man exaltiert Freunde begrüßte und demonstrativ Feinden
die kalte Schulter zeigte. Die alten Gasthöfe und Speisegaststätten waren nach
ausländischem Vorbild modernisiert worden, sie hießen jetzt "Conditoreien" und
trugen exotische Namen wie Apitz, Capritz, Capozzi, Ferrini, Lardelli,
Monigatti, Pedrin und Sechi. Einer der erfolgreichsten Einwanderer war Josty,
der 1817 im Hause Östergade 53 seine Konditorei auf Schweizer Art eröffnet hatte
und der 1824 eine Filiale im Frederiksberg Have dazu bekam. Am Anfang der
Östergade fand man Gianellis Konditorei mit ihren hohen Fenstern, Pleisch lag am
Amager Torv mit Aussicht auf Höjbro, während Mini, das heutige à Porta, an der
Ecke Kongens Nytorv/Lille Kongensgade residierte. Mini war das beste in der
Stadt, "ein Kaffeehaus für galante Herrschaften, auf französische und
italienische Art eingerichtet, wo eine jede anständige und gut gekleidete Person
zu jeder Tageszeit Tee,
Kaffee,
Schokolade
und besonders feine Liköre erhalten kann". Hatte man spät abends Lust auf
Kegelspiel, Billard und Tabak, nahm man Kurs auf Knirsch' Hotel, das heutige
Hotel d’Angleterre. Obwohl die vielen Geldforderungen ihre eigene
klatschsüchtige Sprache über das Treiben von Kierkegaard jun. sprechen, gibt es
natürlich nicht für alle Ausgaben Belege. An den verrufenen Ecken bekommt man
keine Quittung, und die immer entgegenkommenden Mädchen im Peder Madsens Gang,
der damals in der "Route" endete, beschäftigten sich jedenfalls nicht mit
Schreibkram, ihre Leistungen waren handfest, ebenso wie die Rechnungen dafür.
Damit war das Kapitel erledigt.
Man konnte auch andere Örtlichkeiten
goutieren, wenn man in unanständiger Stimmung war. Die Store- und Lille
Bröndstræde oder die Ulkegade, wo die Freudenmädchen am Ende der Straße, die in
die Lille Kongensgade mündete, herumlungerten. Seeleute, ausgelassene Studenten
und ehemüde Bürgersleute wuselten in diesen Finsternissen, aber auch König
Frederik VI. verstand sich in dieser Kunst und ließ sich Sonntag nachmittags in
seinem offenen Wagen in die Stadt fahren, um ein paar intensive Stunden bei der
Gräfin Dänischmann zu verbringen, worüber die ihm angetraute Königin wie auch
die Kopenhagener Bevölkerung großzügig hinwegsahen. Deftiger ging es in dem
Gefängnis Blauer Turm an der Langebro zu, wo Männer und Frauen zusammen
gefangengehalten wurden. Die Bewachung war schlecht, und der äußerst begabte
Mörder Ole Kolleröd vermittelt ein atemberaubendes Bild von den Verhältnissen in
dem phallischen Gefängnisturm: "Ja, die Mannsleut gingen auf den Gang und
hängten die Zellentüre der Frauenzimmer aus und lagen dann drauf und hurten mit
denen, bis sie sich selbst und die Mädchen fertig zu Tod gehurt hatten. Ja, das
Mädchen, das sich nicht brauchen lassen wollte, das nahm' sie mit Macht ohne
weitres Gered. Ja, da saß ein [eine] Mallermesterfrau, die so gebraucht wurde,
dass ich in meinem Bett ligge und sie höre konnte, wie sie sich dem hingebe, der
sie brauchte. Ja, ihr eigener Wille war es woll, da es der dicke Pferdedieb
Brunn war, der sie brauchte. Aber damit genug."
Ja, genug davon. Inwieweit
und gegebenenfalls wie oft und mit welchem Erfolg Kierkegaard bei den Mädchen im
Peder Madsens Gang oder anderswo vorbeigeschaut hat, bleibt in historischem
Dunkel. Die eigentliche Grundlage für die Rekonstruktion der Ereignisse ist
beschämend bescheiden und beläuft sich im wesentlichen auf ein paar zerfetzte
Aufzeichnungen, von denen die erste, vermutlich vom Juni 1836, in voller Länge
lautet: "Wunderliche Ängstlichkeit, jedesmal, da ich am Morgen erwachte, nachdem
ich zuviel getrunken hatte, ging endlich in Erfüllung." Man bemerke die seltsame
Formulierung, dass eine Ängstlichkeit in Erfüllung geht, und fragt sich, ob sie
wohl die furchtdurchsetzte Wonne bezeichnet, die damit verbunden ist, die Tugend
schließlich verloren zu haben? Keiner weiß es. Vom 8. November desselben Jahres
liegt eine fragmentarische Aufzeichnung vor: "Mein Gott, mein Gott [...]",
gefolgt von dem genauso unvollständigen: "Das tierische Kichern [...]". Die
eckigen Klammern benutzte H.P. Barfod, der Herausgeber von Kierkegaards
Tagebüchern, der in seinem Verzeichnis die Einleitung zu den Aufzeichnungen als
eine Art Stichwort angeführt hat; die Originalmanuskripte sind jedoch
unglücklicherweise seither verschwunden. Wenn Barfod Kierkegaard, weil dessen
Aufzeichnungen zu entlarvend gewesen waren, einen anständigen Nachruhm sichern
wollte, indem er sie verschwinden ließ, dann hat er genau das Gegenteil
erreicht. Das Fragment lädt ja geradezu dazu ein, das Verschwundene in seiner
vermutlichen Gestalt rekonstruieren zu versuchen; fast ein kleines Heer
fantasievoller Forscher hat denn auch im Laufe der Zeit die pikantesten Theorien
präsentiert, die diese Forscher auf abenteuerlichste Mutmaßungen aufbauten. Das
tierische Kichern gehört zu einem Bordell, in dem ein sturzbetrunkener
Kierkegaard nicht - wie es ehrbar heißt - praestere praestanda konnte und
deshalb in großer Scham den Schwanz hatte einziehen müssen. Andere dagegen
meinen wohl, dass Kierkegaard Erfolg hatte, dass er sich aber bei dem Akt eine
Syphilis oder etwas anderes Unerfreuliches zugezogen hat, so auch eine
unerwünschte Vaterschaft, während wieder andere das Problem resolut an jener
Wurzel packen, um Volumen und Form des Zeugungsorgans zu ergründen, so z.B. ob
Kierkegaard vielleicht mit einem gekrümmten Penis ausgestattet gewesen sein
sollte, dessen vaginale Manövrierfähigkeit vermutlich etwas reduziert gewesen
ist.
Hält man sich an das Quellenmaterial, dann gibt die Bordellgeschichte nicht
viel her. Erstens ist es bei Barfod nicht besonders selten, dass sich eine Aufzeichnung
in Luft auflösen kann, das geschieht wie gesagt recht oft, weshalb sich das
Verschwinden der Aufzeichnungen vermutlich eher aus normaler Unachtachtsamkeit
als aus Rücksicht auf Kierkegaards Nachruhm erklärt. Zweitens hat Barfod die
Aufzeichnung über das tierische Kichern mit den beiden folgenden Aufzeichnungen
- beide behandeln Szenen aus der dänischen Bearbeitung des Don Juan - in seinem
Verzeichnis mit einer deutlichen Klammer verbunden. Außerhalb seiner Klammer
hat er durch die Notiz
"Don Juan"
markiert, dass die drei Aufzeichnungen zusammengehören. Und drittens schließlich
berichtet Barfod in der Einleitung zu seinem Verzeichnis, dass er alles, "was
in fernster Weise angesehen werden könnte, als könne es das persönlichere Leben
oder die Lebensführung des Verstorbenen vielleicht sogar nur im engsten Sinne
berühren oder vielleicht sogar nur andeuten", doppelt unterstrichen hat; in
den hier genannten Aufzeichnungen fehlt nämlich ein solches doppeltes Unterstreichen.
Der schriftliche Beleg für Hypothesen über praestanda und Krummsäbel und anderweitige
Ausrüstung scheint fortgefallen zu sein.
Es würde Kierkegaard auch kaum ähneln, sich in seinen Tagebüchern über eine
Nacht im Bordell zu äußern, denn zu seinen sexuellen Neigungen hatte er nicht
nur in seiner Jugend, sondern das ganze Leben lang ein zugeknöpftes Verhältnis.
Nie hätte es ihm, wie etwa
Hans Christian Andersen, einfallen können, die
Nachwelt mit Aufzeichnungen über seine schmerzenden Testikel zu belästigen,
im Kalender ein Kreuz für jeden Onanietag zu setzen oder gar wie Strindberg
sorgfältig sein erigiertes Glied mit einem Lineal zu messen und beim Arzt anzufragen,
ob 16 Zentimeter über oder unter dem Durchschnitt lägen. Diesem heiklen Thema
kommt Kierkegaard in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1843 am nächsten, in der
er bekennt, dass der einzige, mit dem er "jemals liederlich geredet hat", ein
74jähriger "China-Captain" sei, der als Stammgast im Café Mini gesessen und
mit all den Mädchen geprahlt habe, die er im Laufe der Zeit zwischen Manila
und London flachgelegt hätte. Er habe ihnen gerne ein "Glas Grog" ausgegeben,
denn das hätten sie gemocht. Kierkegaard glaubt ihm nicht ganz, "denn es ist
eine Reinheit in ihm, die für ihn spricht", sein "Ausdruck ist deshalb eher
humoristisch als liederlich". Ungewiss ist auch, ob liederliche Reden gehalten
worden sind, als Kierkegaard Mitte April 1836 mit dem Polizeikommissar Jörgen
Jörgensen zusammen war, dessen Trunksucht deutlich an den "Rändern der Lippen"
zu erkennen war und der hinter einer Batterie von Flaschen bitter-sentimental
verkündet hatte, dass das halbe Leben "dazu da sei, um zu leben, und das zweite
halbe, um zu bereuen".
Man hat den Eindruck, dass der junge Theologiestudent
eher Betrachter als Teilnehmer ist und selbst nicht soviel zu bereuen hat; man
kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass, während es den Vater ob
seiner Jugendsünden, die er bitter bereut hat, gereute, der Sohn bereute, dass
er niemals irgend etwas begangen habe, das zu bereuen sich lohnte. In der
klassischen dänischen
Literatur, in der man sonst so ungemein viel tratscht, gibt es niemanden,
der irgend etwas erwähnt, was auch nur Schemen eines ausschweifenden Kierkegaard
andeutet.
(Aus der Biografie "Sören Kierkegaard"
von Joakim Garff.
Aus dem Dänischen von Hermann Schmid und Herbert
Zeichner.)
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Ergänzender Buchtipp:
Hrsg. Tim Hagemann: "Soren
Kierkegaard. Geheime Papiere"
"Man befürchtet im Augenblick nichts mehr
als den totalen Bankerott, dem Europa entgegengeht, und vergisst darüber die
weit gefährlichere Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Tür
steht."
Das schreibt Kierkegaard 1836 in seinem Tagebuch, und er beginnt,
gegen diesen Konkurs anzuschreiben. Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund.
Nirgends hat der Philosoph sich radikaler geäußert als in diesen Notizen, die
nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Es sind seine Überlegungen zur
Gesellschafts- und Kulturkritik, die hier in einer durchgängig kommentierten
Auswahl vorgelegt werden.
Dass er sich im Vormärz als Reaktionär zeigt, nimmt
seiner Diagnose nichts von ihrer Tiefenschärfe - im Gegenteil. Hellsichtig
analysiert er das anbrechende Medienzeitalter, liefert eine schneidende Kritik
des Journalismus, und nimmt, ganz im Widerstreit zu den landläufigen Positionen
der Konservativen, das Bildungsbürgertum und die Unredlichkeit des akademischen
Milieus aufs Korn.
Hagemanns Kommentar ist wissenschaftlich fundiert, doch
versteht er sich eher als Begleittext, der das Tagebuch in den Kontext des
Gesamtwerks stellt und dabei en passant ein Panorama von Kierkegaards Kopenhagen
entwirft.
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