(...) Salîm As´ad hat
mich gelehrt, was Freiheit bedeutet.
Ich war gerade mit den Franzosen befaßt, als er auf seinen Kopf zeigend von
seiner Kindheit erzählte und schließlich auf das Shampoo zu sprechen kam. Sobald
die Farbe ausgewaschen und sein Haar wieder weiß war, führte Salîm vor der Moschee,
die nun eine Grabstätte ist, ein Spektakel vor. Er wusch sich öffentlich den
Kopf und gaukelte seinen Zuschauern dabei ein Wunder vor.
»Der Greis wird wieder jung«,
rief er.
Und schon drängten sich Scharen von Menschen um ihn. Es war keine Zauberei oder
etwas Unerwartetes im Spiel. Alle wußten, daß am Ende das weiße Haar tiefschwarz
und der Greis vor ihnen ein junger Mann sein würde. Jeden ersten Donnerstag
im Monat um fünf Uhr nachmittags gab Salîm die gleiche Vorstellung. Mit gekrümmtem
Rücken, zittrigen Beinen und erstickter Stimme lockte er die Passanten. Er bat
einen der Zuschauer, Hand anzulegen und ihm Wasser über den Kopf zu gießen.
Keuchend holte der Greis dann sein Shampoo hervor, massierte es sich kräftig
ins Haar und ließ sich den Schaum von seinem Gehilfen ausspülen. Auf einmal
sprang er als junger Mann aus dem Wasser. Die Beine zitterten nicht mehr, das
Haar war tiefschwarz, und er rief mit energischer Stimme: »Der Greis hat seine
Jugend zurückerlangt. Shampoo für den ganzen Körper. Ich bin der Greis, der
die Jugend zurückerlangt hat. Welches Körperteil ihr damit auch einseift, es
wird wieder jung. Probiert es aus! Bereuen werdet ihr es nicht.« Zum Abschluß
verteilte er die Fläschchen an Interessierte und kassierte sein Geld.
Frauen, Männer, alte Leute, Kinder, alle strömten zu dem Platz vor der Moschee,
um die wundersame Verwandlung des alten Mannes in einen Jüngling zu erleben.
Wie du siehst, ist nichts Besonderes an der Geschichte, außer daß es ein albernes
Schauspiel ist, hervorgegangen aus dem Massaker.
Doch dann habe ich es mit eigenen Augen gesehen.
Ich ging zur Moschee, um mir das Stück anzuschauen. Es war reine Neugier, sonst
nichts. Ich ließ Angst und Einsamkeit hinter mir und machte mich auf zum Platz.
Und dort zog mich dieser Junge, der seine Rolle überwältigend spielte, in seinen
Bann.
Den Rücken zum Buckel gerundet trat er auf. Schwer atmend drehte er sich um
sich selbst und um die Schaulustigen. Dann zog er einen unsichtbaren Kreis,
in dem er fortan blieb. Unermüdlich und immer in Bewegung. Und als schließlich
genug Menschen zusammengekommen waren, begann er seine Vorstellung.
Die Stimme röchelnd, der Rücken krumm und buckelig, und dazu dieses Gesicht.
Das Gesicht war genial. Die Lippen in den Mund gezogen und zusammengepreßt verschluckte
er das Gesicht förmlich, so daß es wie zu einer Fratze wurde. Er sah aus, als
hätte er sich die Maske des Alters aufgesetzt. Die Augen fielen ein, und der
zahnlose Mund ging in die Breite. Keuchend und mit zittrigen Beine taumelte
er umher, strauchelte, fiel beinahe hin, fing sich im letzten Moment aber wieder.
»Liebe Kinder, liebe Kinder«, stammelte er leise, »euer alter Vater wird bald
sterben. Kommt her, meine lieben Kinder.« Wie um zu betteln streckte er die
Hand aus und bat um Hilfe. Unverzüglich meldete sich ein junger Mann aus dem
Publikum, der gleich die Anweisung erhielt, den Wassereimer zu holen. Indessen
beugte sich der Alte vor, so tief, daß sein Kopf fast den Boden berührte. Und
unter der Wucht des Wassers, das ihm sein Gehilfe über das Haar goß, brach er
fast zusammen. Dann
griff er in die Tasche, holte ein kleines Fläschchen heraus, drückte sich ein
wenig von der grünen Flüssigkeit auf die Handfläche. Nachdem er dem Publikum
zur Ansicht die Hand in die Luft gehalten hatte, rieb er sich das Mittel schwer
keuchend und zitternd in die Haare. Erneut verlangte er nach Wasser. Er öffnete
und schloß den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Offenbar suchte er Hilfe. Sogleich sprang eine Frau hinzu und gab ihm Wasser
aus ihrer Flasche zu trinken. Im Nu hatte er sich verschluckt und bekam einen
heftigen Hustenanfall, der in Schluchzen ausartete. Dann hob er die Arme als
Zeichen, daß sein Gehilfe ihm den Kopf spülen soll. Von einem Schwall Wasser
übergossen sank der Alte auf die Knie und krabbelte auf allen vieren durch die
immer größer werdende Pfütze, sich unablässig im Kreis drehend. Und auf einmal,
wie aus heiterem Himmel, sprang er auf, wieder ein junger Mann, und rief mit
kräftiger Stimme: »Der Greis hat seine Jugend zurückerlangt und ist wieder auf
der Höhe seiner Potenz. Kommt her, Leute, für tausend Lira bekommt ihr eure
Jugend zurück. Shampoo für den ganzen Körper, und besonders, besonders«, lockte
er und griff sich zwischen die Beine. »Kommt, Leute, kommt her, zur ewigen Jugend.«
Und er verteilte die kleinen Flaschen an die Zuschauer. Erheitert klatschten
die Menschen Beifall und scharten sich zum Kaufen um ihn.
Schade, daß die französische Theatertruppe nicht gekommen ist und miterlebt
hat, wie der Greis seine Jugend wiedererlangt. Das ist ein Schauspiel infolge
des Massakers, hätte ich dann Catherine erläutert, hätte sie an meiner Seite
verfolgt, wie Salîm sich von einem jungen Mann in einen Greis und zurück in
einen jungen Mann verwandelt, so als erkaufe er sich sein Leben,
indem er es darstellt.
Belustigt trat ich an ihn heran und kaufte ihm eine Flasche ab. Nachdem die
Menschenmenge sich aufgelöst und er dem Mann mit dem Eimer und der Frau mit
der Flasche ihren Anteil ausgezahlt hatte, sah er, daß ich noch immer da stand.
»Wir gefallen dir wohl, Herr Doktor, was!«
Ich ergriff seine Hand und forderte ihn auf, am nächsten Tag ins Krankenhaus
zu kommen und gleich die Arbeit aufzunehmen.
»Du kannst Arbeit haben, mußt solche Albernheiten aber unterlassen«, bestimmte
ich.
»Zu Befehl, Herr Doktor«, willigte er ein und verkaufte mir eine zweite Flasche.
»Schließlich muß ich alle Flaschen verkaufen, bevor ich meine neue Arbeit antrete.«
Er behielt die fünftausend Lira und versprach, am nächsten Tag zu kommen. Und
tatsächlich erschien er auch. Er arbeitete hier ungefähr einen Monat und stellte
in dieser Zeit alles auf den Kopf. Lauter Verrücktheiten veranstaltete er. Er
stahl Medikamente, um sie zu verkaufen, machte seine Scherze mit Zainab und
erzählte ständig irgendwelche Geschichten. Außerdem ging er zu den Patienten
in die Zimmer und schwatzte ihnen Mittel auf, die er selbst aus
Kräutern
hergestellt hatte, mit dem Argument, daß sie besser wirken würden als die Arzneien
des Krankenhauses.
Ich war über sein Tun und Treiben im Bilde, konnte ihn aber nicht in seine Schranken
weisen. Denn einer seltsamen Logik folgend behauptete er, zum Wohl der Patienten
zu handeln.
»Krankheit ist Einbildung, Herr Doktor. Die Hälfte aller Krankheiten ist psychisch
bedingt, und die andere Hälfte rührt vom Elend her. Ich behandle ihre Seelen.
Laß mich nur machen, und bald wirst du die Ergebnisse erkennen.«
Ich ließ ihn gewähren, weil ich mir keinen anderen Rat mit ihm wußte.
»Was brauchen Kranke
schon! Ich bringe sie zum Lachen, und dann sterben sie mit einem Schmunzeln.
Wozu leiden, Mann?«
Sogar bei dir hat er es mit Scherzen versucht. Doch ich gab ihm zu verstehen,
daß an deiner Zimmertür und an der von Dunia der Spaß aufhört. Aber es wollte
ihm nicht in den Kopf gehen. Doch, was dich betrifft, nahm er es sich zu Herzen.
Er blieb deinem Zimmer fern. Bei Dunia hingegen war es anders. Er besuchte sie
häufig, spielte für sie Theater und verkaufte ihrer Mutter absonderliche Dinge.
Und die Mutter war glücklich. Denn Dunia, so berichtete sie, habe Salîm zugelächelt.
»Sie hat zum allerersten Mal gelächelt, Herr Doktor. Bitte, verbieten Sie ihm
nicht, zu Dunia zu kommen.«
Dunia spreche auf das Mittel an, das Dr. Salîm für sie hergestellt habe, bemerkte
die Mutter.
»Doktor wer?« fragte ich.
»Salîm, er ist wirklich besser als jeder Arzt«, sagte sie.
Auf meine Frage, was er Dunia für ein seltsames Mittel verabreicht habe, schaute
er mich mit der Maske des alten Mannes an, die ich vom Platz vor der Moschee
her kannte.
»Laß mich bloß in Ruhe, Mann. Du kapierst auch gar nichts.«
Und ich habe es tatsächlich nicht verstanden.
Wäre es mir klar gewesen, dann hätte ich damit gerechnet, daß er irgendwann
verschwinden würde. Nach einem Monat im Krankenhaus ist er spurlos verschwunden.
Ich glaube nicht, daß er wieder vor der Moschee seine Vorstellung gibt.
Er habe ihr verraten, berichtete mir Zainab, daß er ins Flüchtlingslager Ain
al-Hilwa ziehen und dort seine Cousine heiraten wollte.
»Was wird er dort arbeiten?« fragte ich.
»Nichts«, erwiderte sie.
»Ich weiß, er wird wieder den Alten spielen«, mutmaßte ich. »Dort wird er schon
ein neues Publikum finden.«
»Nein«, widersprach Zainab. »Er wird im Elternhaus seiner Braut leben. Deren
Vater, so hat er mir erzählt, arbeitet in Saudi-Arabien und schickt der Familie
immer Dollars. Dort wird er leben wie ein König, meint er.« (...)
(aus "Das
Tor zur Sonne" von Elias Khoury)
Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
Das Tor zur Sonne
ist mehr als eine Höhle im besetzen Gebiet Palästinas, es ist ein Ort der begrabenen
Hoffnungen und ein Rückzugsraum für Verliebte in einem vielstimmigen Epos: Elias
Khoury, einer der weltweit anerkanntesten Autoren aus dem Libanon, setzt dem
Schicksal der Palästinenser im 20. Jahrhundert ein bleibendes Denkmal des Erzählens.
»In den langen Wochen haben wir gemeinsam ein Haus mit Worten gebaut, wir haben
ein Vaterland mit Worten gebaut und Frauen mit Worten.« – In einem heruntergekommenen
Wüstenlazarett erzählt ein Mann am Bett seines verwundeten Freundes gegen dessen
Tod an. Er erzählt, um nicht zu verzweifeln und um nicht zu vergessen. Im Mosaik
zahlreicher Lebensläufe von dem Krieg im Jahr 1948 bis weit in die 90er Jahre
erkennt man auch das Portrait einer Stadt: Beirut. Elias Khoury durchleuchtet
den palästinensisch-israelischen Konflikt mit Mut und Weitsicht. Ihm gelingt
es, Krieg, Zerstörung und Leid auf die Geschichten von Menschen zurückzuführen,
die ineinandergreifen und jede simple Schuldzuweisung unmöglich machen.
Der Roman wurde verfilmt und wurde am 7. und 8. Oktober in Arte ausgestrahlt.
Elias Khoury war offizieller Gast der Frankfurter Buchmesse 2004 im Rahmen des
Schwerpunktthemas: Arabische Welt – Blick in die Zukunft (Klett-Cotta)
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