(...) Ich saß einst
hinter dem Tische, mit irgendeinem
Spielzeuge beschäftigt, und sprach dazu einige
unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt
war und die ich auf der Straße gehört haben mochte. Eine Frau saß bei meiner
Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam
darauf machte. Sie fragte mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt
hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte,
einen Augenblick nachsinnend, und dann den Namen eines Knaben nannte, den ich
in der Schule zu sehen pflegte. Sogleich fügte ich noch zwei oder drei andere
hinzu, sämtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, mit denen ich kaum noch
ein Wort gesprochen hatte.
Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule
zurück, sowie jene vier angegebenen Knaben, welche mir wie halbe Männer vorkamen,
da sie an Alter und Größe mir weit vorgeschritten waren. Ein geistlicher Herr
erschien, welcher gewöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule
vorstand, setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn
sitzen. Die Knaben dagegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen
und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie wurden nun mit feierlicher
Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen hätten;
sie wußten nichts zu antworten und waren ganz erstaunt. Hierauf sagte der Geistliche
zu mir: »Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben?« Ich war sogleich
wieder im Zuge und antwortete mit trockener Bestimmtheit: »Im Brüderleinsholzel«
Dieses ist ein Gehölz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem
Leben nie gewesen war, das ich aber oft nennen hörte. »Wie ist es dabei zugegangen,
wie seid ihr dahin gekommen?« fragte man weiter. Ich erzählte, wie mich die
Knaben eines Tages
zu
einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten,
und ich beschrieb einläßlich die Art, wie etwa größere Knaben einen kleineren
zu einem mutwilligen Streifzuge mitnehmen. Die Angeklagten gerieten außer sich
und beteuerten mit Tränen, daß sie teils seit langer Zeit, teils gar nie in
jenem Gehölze gewesen seien, am wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem
Hasse auf mich, wie auf eine böse Schlange, und wollten mich mit Vorwürfen und
Fragen bestürmen, wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert, den Weg
anzugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen,
und angefeuert durch den Widerspruch und das Leugnen eines Märchens, an welches
ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand
der gegenwärtigen Szene erklären konnte, gab ich nun Weg und Steg an, die an
den Ort führen. Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen, und obgleich
ich kaum darauf gemerkt hatte, stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit
ein. Ferner erzählte ich, wie wir unterwegs
Nüsse
heruntergeschlagen, Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebraten, auch einen
Bauernjungen jämmerlich durchgebleut hätten, welcher uns hindern wollte. Im
Walde angekommen, kletterten meine Gefährten auf hohe Tannen und jauchzten in
der Höhe, den Geistlichen und den Lehrer mit Spitznamen benennend. Diese Spitznamen
hatte ich, über das Äußere der beiden Männer nachsinnend, längst im eigenen
Herzen ausgeheckt, aber nie verlautbart; bei dieser Gelegenheit brachte ich
sie zugleich an den Mann und der Zorn der Herren war ebenso groß als das Erstaunen
der vorgeschobenen Knaben. Nachdem sie wieder von den Bäumen heruntergekommen,
schnitten sie große Ruten und forderten mich auf, auch auf ein Bäumchen zu klettern
und oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich weigerte, banden sie mich an
einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruten, bis ich alles aussprach,
was sie verlangten, auch jene unanständigen Worte. Indessen ich rief, schlichen
sie sich hinter meinem Rücken davon, ein Bauer kam in demselben Augenblicke
heran, hörte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren. »Wart',
ihr bösen Buben!« rief er, »diesen hab ich!« und hieb mir einige Streiche. Dann
ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen, während es schon dunkelte. Mit vieler
Mühe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald. Allein ich
verirrte mich, fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum Ausgange des
Waldes teils schwamm, teils watete und so, nach Bestehung mancher Gefährde,
den rechten Weg fand. Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen,
bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in
die Flucht.
Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt, wie
bei dieser Erzählung. Es kam niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen
zu lassen, ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei.
Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der eine und andere
der Knaben nachgewiesenermaßen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit,
welche ich angab. Man glaubte meiner großen
Jugend
sowohl wie meiner Erzählung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem
blauen Himmel meines sonstigen Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig
verurteilt als verwilderte bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges
Leugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten;
sie erhielten die härtesten Schulstrafen, wurden auf die Schandbank gesetzt
und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt.
Soviel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichgültig,
sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poetische Gerechtigkeit
meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes
geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das infolge meines schöpferischen
Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentieren und
erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Geschichte sich
von selbst verstand und ich hieran so wenig etwas ändern konnte, als die alten
Götter am Fatum.
Die Betroffenen waren sämtlich, was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute
nennen könnte, ruhige, gesetzte Knaben, welche bisher keinen Anlaß zu scharfem
Tadel gegeben, und aus denen seither stille und arbeitsam junge Bürger geworden.
Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene
Unrecht, und als sie es jahrelang nachher mir vorhielten, erinnerte ich mich
ganz genau wieder an die vergessene Geschichte, und fast jedes Wort ward wieder
lebendig. Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wut,
und sooft ich daran dachte, stieg mir das Blut zu Kopfe, und ich hätte mit aller
Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen
Inquisitoren
schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen, welche auf die verpönten
Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung derselben
nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten,
als sie sahen, wie mich die Sache nachträglich beunruhigte, und sie freuten
sich, daß ich zu ihrer Genugtuung mich alles einzelnen so wohl erinnerte. Nur
der vierte, der viel Mühe mit dem Leben hatte, konnte niemals einen Unterschied
machen zwischen der Kinderzeit und dem späteren Alter und trug mir die angetane
Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande des Erwachsenen,
begangen hätte. Mit dem tiefsten Hasse ging er an mir vorüber, und wenn er mir
beleidigende Blicke zuwarf, so vermochte ich sie nicht zu erwidern, weil das
frühe Unrecht auf mir ruhte und keiner es vergessen konnte.
(aus "Der grüne
Heinrich" von Gottfried Keller)
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