FRIDA: »EIN WAHRER DÄMON«
Als Diego Rivera
Frida
zum erstenmal begegnet - wenn man von dem provozierenden Auftritt des
jungen Mädchens im Hörsaal der Preparatoria einmal
absieht -, ist er überrascht von dem Kontrast zwischen ihrem
schlanken Körper sowie der unruhigen Schönheit ihres
Gesichts und dem düsteren, glänzenden, gespannten
Blick, der ihn fest ansieht und mit der einschüchternden
Aufrichtigkeit eines Kindes befragt.
Frida gleicht keiner der anderen Frauen, die er gekannt hat. Sie hat
nichts von Angelinas slawischer Blässe, jenem
bläulichen inneren Schimmer, nichts von Marjewnas
Unverfrorenheit und auch nichts von Lupe Marins Sinnlichkeit und
Heftigkeit. Sie gehört weder dem fernen Europa an noch der
tapatia-Aristokratie, von der Lupe in ihrer Jugend in Guadalajara
umgeben war, und sie zeigt nicht die kühle Entschlossenheit,
die sich auf Tina Modottis Madonnengesicht spiegelt. Sie ist ein wenig
wie Diego selbst, ein Wesen aus Vasconcelos' kosmischer Rasse, eine
seltsame Mischung aus der unbeschwerten Fröhlichkeit der
Indianer und der Trauer der Mestizen, und hinzu kommt noch die
jüdische Unruhe und Sinnlichkeit, die sie von ihrem Vater hat.
Das alles erkennt er auf den ersten Blick, und es zieht ihn an, wie ihn
auch Fridas fast noch kindliches Alter anzieht.
Doch als er sie bei den Besuchen, die er ihr jede Woche wie ein
Verlobter alten Stils im elterlichen Haus in Coyoacán
abstattet, näher kennenlernt, entdeckt er, welch ungeheure
Lebenserfahrung sich hinter der Maske des zarten jungen
Mädchens verbirgt. Frida spricht nicht viel über ihre
Vergangenheit, sie ist nicht sehr mitteilsam. Sie besitzt vor allem die
Eigenschaft der mexikanischen Frauen ihrer Schicht: eine sehr
große Zurückhaltung in der
Äußerung ihrer Gefühle und einen gewissen
galligen Humor, den auch Diego besitzt - ein Fluch, ja selbst eine
obszöne Bemerkung sind besser als ein Tremolo in der Stimme.
Sie malt, und was Diego in ihren Bildern wahrnimmt, fasziniert und
bewegt ihn tief. All ihre Enttäuschungen, all ihre inneren
Dramen, jenes ungeheure Leiden, das mit Fridas Leben verschmilzt, all
das kommt in ihren Bildern mit einer ruhigen Schamlosigkeit und einer
geistigen Unabhängigkeit zum Ausdruck, die
außergewöhnlich sind.
Hinter ihrem ungezwungenen Auftreten und dem Äußeren
eines verliebten jungen Mädchens verbirgt Frida eine Erfahrung
des Schmerzes, die ihresgleichen sucht. Ihr ganzes Leben ist eine Folge
schwieriger Erfahrungen. Sie wurde 1907 in einer mittellosen Familie
geboren und begreift schnell, daß sie wenig zu erwarten hat.
Ihr Vater Guillermo lebt in schwierigen Verhältnissen. Unter
Porfirio Diaz war er amtlicher Fotograf, doch die Revolution hat ihn
mittellos und ohne Zukunft zurückgelassen, er besitzt noch ein
Fotoatelier in der Stadtmitte von Mexiko und schlägt sich
durchs Leben, indem er vor einer großen staubigen
Stoffdekoration Porträtaufnahmen von Kommunikantinnen und
Hochzeitspaaren macht. Fridas Mutter Matilde Calderón
muß für den Unterhalt der Familie sorgen, indem sie
ihre Wertgegenstände und Möbel verkauft, Zimmer an
durchreisende Junggesellen vermietet und an allen Ecken und Enden
spart. Fridas Mutter, die aus der Ehe zwischen Isabel, der Tochter
eines spanischen Generals, und Antonio Calderón, einem
Fotografen
taraskischer Abstammung aus Michoacán, entstammt, scheint in
Fridas Gefühlsleben nur einen geringen Platz eingenommen zu
haben: sie ist zu fromm, ja bigott, hart und zugleich unscheinbar, so
daß ihr eine undankbare Rolle neben Guillermo
zufällt, der so künstlerisch, so labil und so
unrealistisch ist. Matilde, in ihrer Jugend noch so hübsch und
lebendig, ist autoritär und streng geworden, um ihre Familie
zu beschützen. »Mi jefe«, sagt Frida von
ihr (»mein Chef«). Wie auch Diego hat Frida als
Kind früh gelernt, auf ihre Mutter zu verzichten: Matilde
Calderón, die durch kurz aufeinanderfolgende
Schwangerschaften völlig erschöpft ist,
verfällt bei der Geburt von Cristina (ein Jahr nach Frida) in
eine tiefe Depression und kann sich nicht mehr um die beiden Babys
kümmern. Die Amme, die Frida an ihrer Brust nährt,
erfüllt für sie die gleiche Rolle wie für
Diego Antonia, die indianische Amme. Später malt Frida von ihr
ein imaginäres Porträt mit den Zügen einer
maskierten indianischen Göttin, die kosmische Milch aus ihren
Brüsten fließen läßt. Dennoch hat
Frida zweifellos von Matilde Calderón die Seiten geerbt, die
sie von den Mädchen ihrer Klasse unterscheiden: ihre Energie,
ihren strahlenden Blick und ihre fast religiöse Hingabe an das
revolutionäre Ideal.
Ihr Vater, labil und verträumt, ist der Kindmann, den Frida
ihr ganzes Leben lang sucht. Er neigt zu Schwindelanfällen,
wie Frida verschämt sagt, wenn sie von ihm spricht. In
Wirklichkeit leidet er an Epilepsie, und schon als kleines
Mädchen lernt sie, sich um ihn zu kümmern, wenn er
mitten auf der Straße einen Anfall bekommt. Sie legt ihn auf
den Boden, lockert seine Kleidung und hält den Fotoapparat
fest, damit nicht etwa ein
Dieb
die Gelegenheit nutzt! Frida ist Guillermos Lieblingstochter,
diejenige, die er unter seinen sechs Töchtern
auserwählt hat, und Frida verehrt ihren Vater trotz seiner
Schwäche oder vielleicht gerade aufgrund seiner
Labilität.
Nach seinem Tod malt sie im Jahre 1952 ein liebevolles Porträt
von ihm nach Art der Fotos, die er selbst machte. Es zeigt ihn in
seinem besten Anzug, steif, die blassen Augen voller Unruhe, mit einem
großen Schnurrbart, der so schwarz und dicht ist,
daß er wie angeklebt wirkt; der Hintergrund des Bildes in
einem verblichenen Gelb, das an die Stoffdekoration des Ateliers in der
Calle Madero erinnert, ist auf seltsame Weise mit Eizellen und
Samenfäden dekoriert, in denen Frida den Augenblick ihrer
Empfängnis veranschaulicht. Die Widmung unten auf dem Bild ist
ein Ausdruck der Liebe: »Ich habe meinen Vater gemalt,
Wilhelm Kahlo, von deutsch-ungarischer Abstammung, Kunstfotograf von
Beruf; von großzügigem Charakter, intelligent, gut
und tapfer, denn er hat sechzig Jahre lang an Epilepsie gelitten,
dennoch nie seine Arbeit aufgegeben und am Kampf gegen
Hitler
teilgenommen. In verehrendem Angedenken. Seine Tochter Frida
Kahlo.«
Frida lernt sehr früh in ihrem Leben das Leiden kennen. Mit
sechs Jahren erkrankt sie 1913 an einer Kinderlähmung und
behält davon eine Behinderung des linken Beins
zurück; ihr verkümmertes Bein ist für sie
eine ständige Quelle von Schmerzen und Komplexen, die sie das
ganze Leben begleiten. Ihr ganzes Leben lang schämt sie sich
für dieses zu magere Bein, das sie an die Zeichnungen von
Posada oder den aztekischen Kriegsgott
Huitzilopochtli
erinnert, der ebenfalls mit einem verkrüppelten Bein geboren
ist. Auf ihren Bildern verheimlicht sie meistens ihre
Körperbehinderung, und auf der einzigen Aktzeichnung, die
Diego 1930 von ihr anfertigt, sitzt sie in einer Haltung unbeholfener
Scham mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel, so
daß das verkümmerte Bein nicht zu sehen ist.
Ein Familienfoto, das kurz nach ihrer Genesung aufgenommen ist, zeigt
bereits, daß der Schmerz sie von den anderen isoliert. Das
kleine Mädchen mit dem ernsten Gesicht steht abseits von der
übrigen Familie unter dem Balkon des Hauses in
Coyoacán, der untere Teil des Körpers ist halb von
Sträuchern verdeckt. Das ist die Zeit, in der sie begreift,
daß sie nie ganz so sein wird wie die anderen, und die Jungen
und Mädchen aus der Nachbarschaft machen sich mit der
instinktiven Grausamkeit, die Kindern zu eigen ist, über ihre
Behinderung lustig: Wenn sie mit dem Rad fuhr, erinnert sich Aurora
Reyes, und dabei ihre hohen Stiefel trug, von denen sie sich nie
trennen wollte, rief man ihr nach: »Frida, pata de
palo« (etwa: Holzbein-Frida).
Sie verbringt ihre ganze Kindheit in dieser Einsamkeit. Ihre einzige
richtige Freundin ist ihre Schwester Matita, doch die reißt
genau in dieser Zeit von zu Hause aus und kommt nie wieder. Frida, die
damals sieben ist, wird zur Mitwisserin der Flucht ihrer Schwester und
entwickelt daher solche Schuldgefühle, daß sie einen
großen Teil ihrer Jugend dem Versuch widmet, ihre Schwester
wiederzufinden. Die Familie verzeiht Matita erst sehr viel
später, als Frida zwanzig ist - und Matita siebenundzwanzig.
(...)
(aus "Diego und Frida"
von J. M. G. Le Clézio)
Mit Abbildungen. Aus dem
Französischen von Uli Wittmann
»Das wird die Hochzeit eines
Elefanten
mit einer Taube«
– so lautet der bittere Kommentar ihres Vaters, als Frida
Kahlo verkündet, sie werde Diego Rivera heiraten. Ein
gegensätzlicheres Paar scheint in der Tat kaum vorstellbar,
und doch wagten sie beide den Schritt. Verbunden sahen sich die Partner
durch die gleichen Ideale: die Liebe zu ihrer Heimat Mexiko, die Utopie
einer freien, gerechten kommunistischen Gesellschaft. Aber auch durch
eine neue Ästhetik in ihrer Malerei: Fridas Farben waren die
tiefen, leuchtenden der mexikanischen Volkskunst. Auch Diego Rivera
benutzte sie. Doch malte er mit ihnen die Mexikanische Revolution, ihre
Schlachtfelder, Kämpfe und Helden.
Fridas Beziehung zu dem über zwanzig Jahre älteren
Mitbegründer des Muralismo wurde geprägt durch
leidenschaftliche Liebe, Haß, Krankheit; es kam zur Scheidung
und zur Wiederverheiratung. Vierzig Jahre nach ihrem Tod erweckt Le
Clézio dieses tragische, legendäre Liebespaar in
einer eindrucksvollen Doppelbiographie zu neuem Leben, die sich so
spannend liest wie ein Roman.
Jean-Marie Gustave Le Clézio, geboren 1940 in Nizza,
studierte Literatur und promovierte mit einer Arbeit über
Lautréamont. Lehrtätigkeiten an
Universitäten in Thailand und Mexiko, ausgedehnte Reisen nach
Mittel- und Südamerika. Le Clézio lebt heute in
Nizza und New Mexico. (dtv)
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