Einleitung
Im Herbst 1743 stand ein vierzehnjähriger
Junge vor dem Rosenthaler Tor, dem einzigen in der Berliner Stadtmauer, das
für Juden (und Vieh) zugelassen war. Fünf, sechs Tage war er, aus Dessau kommend,
der Hauptstadt des kleinen Herzogtums Dessau-Anhalt, durch die Mark Brandenburg
gewandert. Wir wissen nicht, ob er Schuhe trug; wahrscheinlicher ist, dass er
barfuß unterwegs war.
Der Knabe, der später in ganz Europa als der berühmte Philosoph Moses Mendelssohn
Anerkennung finden sollte, war klein und schmächtig für sein Alter. Er hatte
dünne Arme und Beine, einen Buckel und stotterte. Der missgebildete Rücken könnte
genetisch bedingt (nach modernen medizinischen Erkenntnissen sind von dem ausgeprägtesten
Typus, zu dem häufig noch das Stottern kommt, besonders Juden mitteleuropäischer
Herkunft betroffen) oder die Auswirkung einer Rachitis gewesen sein, einer damals
verbreiteten Kinderkrankheit. Das Äußere des Knaben "hätte das roheste Herz
bewegen können", wie ein Zeitgenosse schrieb, er hatte jedoch ein auffällig
hübsches Gesicht. Funkelnde Augen unterstrichen die hohe Stirn, Nase, Wangen,
Lippen und Kinn waren fein und wohlgeformt.
Der alleinreisende, mittellose Junge trug seine wenigen Habseligkeiten in einem
Beutel auf dem Rücken. Für reisende Juden galten zu jener Zeit strenge Bestimmungen.
Nur eine begrenzte Anzahl von reichen Juden (und gelegentlich auch ein Gelehrter)
durfte sich
in
Berlin niederlassen, fahrenden Händlern indes wurde der Zutritt verwehrt.
Juden, die die Stadt betreten wollten, und sei es nur für ein paar Tage, wurden
über Herkunft und Zweck ihrer Reise ausgefragt. Sofern ihnen eine befristete
Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, mussten sie Zoll entrichten, als wären sie
eine Handelsware, und zwar denselben Zollsatz, der auf polnische Ochsen erhoben
wurde. Dem Torsteher oblag es, "die ankommenden Juden anzuzeigen, auf dieselben
Achtung zu geben und die fremden wegzuschaffen".
Im Preußen des aufgeklärten
Friedrich II. ging es vergleichsweise toleranter
zu als in den meisten anderen deutschen Staaten; offiziell galten die meisten
Juden (und alle Leibeigenen) als minderwertige Menschen. Im Wachjournal des
Torstehers von 1743 findet sich der Eintrag: "Heute passierten das Tor 6 Ochsen,
7 Schweine, 1 Jude." Von Mendelssohns Befragung am Rosenthaler Tor sind mehrere
Versionen überliefert. So soll der Wächter den Jungen, den er für einen Trödelhändler
hielt, gefragt haben: "Jude, was hast du zu verkaufen? Vielleicht gefällt es
mir." Mendelssohn erwiderte: "Womit ich handle, das kaufen Sie ja doch nicht."
"Heraus damit! Womit handelst du?" "Mit V-V-Vernunft." Einer anderen Quelle
zufolge soll er auf die Frage, was er in Berlin zu tun beabsichtige, geantwortet
haben: "Lernen."
(...) Mendelssohn war der erste praktizierende Jude, der völlig in der deutschen
Kultur aufging, und auch der erste deutsche Jude, der in ganz Europa als Philosoph
und Gelehrter geschätzt und bewundert wurde. Er war ein enger Freund
Lessings
und anderer herausragender Vertreter der deutschen Aufklärung. Seine Zeitgenossen
priesen ihn überschwänglich. Christian Martin Wieland grüßte ihn "mit dem heiligen
Namen der Freundschaft". Man nannte ihn einen "deutschen Sokrates" und einen
"jüdischen Luther". Weil er für einen aufgeklärten säkularen Staat eintrat,
verglich Mirabeau ihn mit den Vätern der amerikanischen Verfassung.
Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch priesen und idealisierten deutsche
Juden voller Stolz die berühmten Freundschaften Mendelssohns zu Nichtjuden und
schöpften Hoffnung daraus. Ihr Stolz war ein Indiz ihrer eigenen Schwierigkeiten,
ähnlich wie er akzeptiert zu werden, und vielleicht auch ein Trost. Mendelssohn
wurde ihr Schutzheiliger, ein Vorbild für all jene, die ihre ethnische oder
religiöse Identität bewahren, am Kulturleben der Mehrheit aber teilhaben wollten.
Er war der erste in einer langen Reihe von assimilierten deutschen Juden, die
die deutsche Kultur verehrten und deren Bestrebungen zwei Jahrhunderte später
ein so grauenhaftes und abruptes Ende finden sollten. Einige waren talentierter
als andere, manche besaßen überhaupt kein Talent, aber die meisten fühlten sich
dem Land ihrer Geburt auf das engste verbunden.
Ihre Geschichte, von den Tagen Mendelssohns bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus
- diese vielversprechende, aber auch bedrückende, komplizierte und am Ende so
schreckliche Geschichte ist Thema des vorliegenden Buches. Es folgt der Sartreschen
Definition, wonach derjenige Jude ist, der von anderen als Jude angesehen wird
- unabhängig von seiner religiösen oder ethnischen Orientierung. Es ist eine
historische, keine soziologische Studie. Anders als der Soziologe kann der Historiker
mit dem Einzelfall leben. Das Buch verfolgt das Schicksal und die Ideen einiger
interessanter, meist säkularer und oft faszinierender Personen, die vielleicht
nicht repräsentativ, sondern eher Symbole waren. Niemand sah das Ende voraus.
Die Dualität von Deutschen und Juden - zwei Seelen in einem Körper - beschäftigte
und quälte die deutschen Juden im ganzen neunzehnten Jahrhundert und in den
ersten Dekaden des zwanzigsten. Nirgendwo sonst in Westeuropa war diese Dualität
so ausgeprägt und am Ende so tragisch.
Für die frühe Zeit liegen keine zuverlässigen Bevölkerungsstatistiken vor. Im
achtzehnten Jahrhundert dürften in den deutschen Staaten kaum mehr als sechzigtausend
Juden gelebt haben, weniger als ein halbes Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung.
Zu dieser kleinen, verstreuten Gruppe kamen dann die Juden in Schlesien, Posen
und anderen, überwiegend slawischen Ostgebieten, die Preußen in drei Kriegen
erobert hatte. 1871 waren die Juden noch immer eine verschwindend kleine Minderheit,
deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bei knapp über einem Prozent lag. Sechzig
Jahre später, kurz vor Hitlers Machtergreifung, war der Anteil der Juden an
der Gesamtbevölkerung auf 0,8 Prozent gesunken. Man fragt sich, wie eine so
kleine Bevölkerungsgruppe, auch nur indirekt, eine derart massive Feindseligkeit
auslösen konnte. Verglichen mit anderen ethnischen Gruppen waren die Juden eine
winzige Minderheit. Selten jedoch hat es eine Minderheit gegeben, die im wirtschaftlichen
und kulturellen Leben so sichtbar war und - im Guten wie im Schlechten - in
der öffentlichen Wahrnehmung so übertrieben groß erschien und überschätzt wurde.
In relativ kurzer Zeit brachte diese kleine Gemeinschaft eine enorme Zahl von
Unternehmern, Künstlern, Schriftstellern, Publizisten, Gelehrten und demokratischen
Politikern hervor. Der unübersehbare Erfolg von Juden löste heftigen Neid, Ressentiments
und eine krankhafte, fast pornografische Neugier aus. Im Zerrspiegel der allgemeinen
Vorstellung wurden Juden übertrieben mächtig wahrgenommen, als eine Gefahr für
die Nation und ihre Identität, für Kultur, "Volkshygiene" und das Allgemeinwohl.
Die kurzzeitige Emanzipation der Juden während der Napoleonischen Kriege setzte
beispiellose wirtschaftliche, berufliche und kulturelle Energien frei. Es schien,
als wäre plötzlich ein Damm gebrochen. In der jüdischen Geschichte war, wenn
auch in geringerem Umfang, schon einmal ähnliches passiert - im islamischen
Spanien. Kurz vor Beginn der
Inquisition
erklärte ein spanischer Jude, dass die Könige von Kastilien gegenüber ihren
Feinden insofern im Vorteil seien, als ihre jüdischen Untertanen zu den gebildetsten,
vornehmsten, tugendhaftesten und wohlhabendsten gehörten. In der Weimarer Republik,
auf dem Höhepunkt von Integration und Assimilation, hätten deutsche Juden ähnliches
sagen können.
Selten hat es ein Zusammentreffen zweier kultureller (ethnischer oder religiöser)
Traditionen gegeben, das auf seinem Höhepunkt so schöpferisch war. Wäre das
Ende nicht so schrecklich gewesen, schreibt Frederic Grunfeld, würde man die
Jahrzehnte vor der
Machtergreifung
der Nazis als ein Goldenes Zeitalter betrachten, das allenfalls von der
italienischen Renaissance übertroffen wurde.
(...) Ihre eigentliche Heimat war, wie wir heute wissen, nicht "Deutschland",
sondern die deutsche Kultur und Sprache. Ihre eigentliche Religion war das bürgerliche
Bildungsideal. Nicht weil sie sich für besser hielten, sondern aus rein pragmatischen
Gründen richteten sie ihre kulturellen und politischen Bestrebungen - und ihre
unbekümmerte Großmütigkeit - auf den verzweifelten und letztlich vergeblichen
Versuch, den deutschen Patriotismus zu zivilisieren, auf einen durch Gesetze
definierten und nicht aufs Blut gegründeten Staat, auf eine Trennung von Kirche
und Staat, auf die Errichtung einer Gesellschaft, die man heute als offen, verfassungspatriotisch
und multikulturell bezeichnen würde. Es ist eine tragische Ironie, dass jüdische
Intellektuelle ausgerechnet während des Ersten Weltkriegs - ohne den die Nationalsozialisten
vermutlich nicht an die Macht gekommen wären - zum einzigen Mal von ihren Bemühungen
abließen und in den europaweiten Hurrapatriotismus einstimmten.
(Aus "Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen
Epoche (1743-1933)" von Amos Elon.
Aus dem Amerikanischen von Matthias
Fienbork.)
Die faszinierende Geschichte der Blütezeit der jüdisch-deutschen
Epoche: Der große israelische Schriftsteller und Journalist Amos Elon beleuchtet
diese spannende und bewegende Periode der Kulturgeschichte, die 1743 mit der
Übersiedlung Moses Mendelssohns nach Berlin beginnt und von Hannah Arendts Flucht
im Jahr 1933 abgeschlossen wird. Anhand atmosphärischer Reportagen, von Kurzporträts
und Dialogen weckt Elon diese andere Zeit mit ihren Tragödien und Erfolgen,
mit ihren großen Namen - wie
Heinrich Heine,
Rahel Varnhagen, Karl Marx und vielen anderen - wieder zum Leben.
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