Die Kreuzigung und das Bewusstsein des Abendlandes
Der ganzen Menschheit ist vergeben,
aber der Herr muss sterben.
Das ist die revolutionäre Aussage des Epilogs,
den eine Gruppe radikaler Juden vor zweitausend Jahren der Heiligen Schrift
ihrer Religion hinzufügte. Weil sie es taten, beten Millionen im Abendland heute
vor dem Bild einer als Verbrecher hingerichteten Gottheit, und - ebenso wichtig
- weitere Millionen, die niemals beten, tragen in ihrer kulturellen DNA den aus
der Religion abgeleiteten Verdacht mit sich, dass irgendwie irgendwann "die
ersten die letzten und die letzten die ersten sein werden" (Mt. 20,16).
Die
Kreuzigung,
Urszene der abendländischen Religion und Kunst, hat ihre Schockwirkung
weitgehend eingebüßt. Sie ist in dieser Spätepoche vielleicht nur für einen
nichtwestlichen Betrachter wirklich erfahrbar. Eine japanische Künstlerin, die
heute in Los Angeles lebt, brachte mir einmal das Entsetzen zu Bewusstsein, das
die meisten Japaner befällt beim Anblick einer Leiche, die als religiöse Ikone
dargeboten wird, und den Abscheu, den sie empfinden, wenn man ihnen diese Ikone
erklärt. Sie würden, sagte sie, die Frage stellen: "Wenn er so gut war, warum
ist er dann auf diese Weise gestorben?" In der japanischen Kultur "beenden gute
Menschen ihr Leben mit einem guten Tod, sogar einem schönen Tod, wie der Buddha.
Wer eines so grässlichen Todes stirbt, kann für uns nur ein Verbrecher gewesen
sein."
Sie sieht es richtig. Das Kruzifix ist eine ungemein anstößige
Ikone. Wie sehr sie an die Nieren geht, begreifen Kinder des einundzwanzigsten
Jahrhunderts vielleicht, wenn sie sich einen Lynchmord vorstellen; da hängt das
Opfer mit geschwollenem Leib, die Glieder verrenkt, das Genick gebrochen, den
Kopf zur Seite geneigt, umringt von einer feixenden Menge. Dazu müssen sie sich
dann vorstellen, dass dieses grausige Spektakel in allen Gebäuden, die sie
heilig nennen, an der heiligsten Stelle dargeboten wird. Aber selbst dann
erfassen sie noch nicht die Bedeutung dieses Bildes, denn das Opfer ist nicht
bloß unschuldig, sondern fleischgewordener Gott, der Herr selbst in
Menschengestalt.
Sieger sehen gewöhnlich wie Sieger aus, Verlierer wie Verlierer. Durch diese
Paradoxie des christlichen Mythos entstand aber die noch immer tief im politischen
Bewusstsein des Abendlandes verankerte Bereitschaft, zu glauben, dass der scheinbare
Verlierer der unerkannte eigentliche Sieger sein könnte. Im Epilog des Christentums
zu der Gottesgeschichte, die es vom Judentum übernahm, wird der Herrgott menschlich,
bleibt aber dennoch der Herr und erlebt, von nur wenigen erkannt, die menschliche
Existenz in ihrer schlimmsten Dimension, bevor er schließlich einen glorreichen
Sieg erringt. Indem er gegen den Kaiser verliert, gewinnt er ein Duell mit dem Teufel und besiegt den Tod selbst.
Die Bibel endet, wie die
größten Komödien stets enden, mit einer feierlichen und fröhlichen Hochzeit.
Der Schöpfer eines neuen Himmels und einer neuen Erde, auf der jede Träne abgetrocknet
wird, wird zum Gemahl der gesamten Menschheit. Indem er alles verliert, gewinnt
Gott alles, für jedermann, und das letzte Wort, das er zu seiner Braut an seiner
Seite sagt, ist: "Komm!"
Gottes Handlungsweise hatte,
von den religiösen Folgen abgesehen, im Abendland unter anderem die profane
Folge, dass keine Herrschaft von sich behaupten kann, der Kritik entzogen zu
sein. Jegliche Macht ist bedingt, und wenn die Machtlosen sich erheben, könnte
Gott mit ihnen sein.
Das Motiv der verkappten Gottheit ist nicht nur dem Christentum bekannt, und
es hat im Laufe der Jahrhunderte viele Mythen von sterbenden und aufsteigenden
Göttern gegeben. Doch das christliche Motiv der unerkannten Gottheit, die vor
Gericht gestellt, amtlich verurteilt, von den Häschern misshandelt, öffentlich
exekutiert und begraben wird, um erst dann von den Toten aufzuerstehen und zum
Himmel aufzufahren, ist, wenn schon keine literarische Ausnahmeerscheinung,
so doch einzigartig in der Breite seiner politischen Wirkung. Jeder Vers des
schwarzen Gospelsongs "Sweet Little Jesus Boy", der an Weihnachten gesungen
wird, endet mit der wehmütigen Zeile: "And they didn't know who he was" - "Und
sie wussten nicht, wer er war". Als seine Henker ihn ans Kreuz nageln, bittet
Jesus: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lukas 23,34).
Wo Zeilen wie diese oder die Ideen, die hinter ihnen stecken, sich ausgebreitet
haben, kann menschliche Autorität sich ihrer Legitimität nicht mehr sicher sein.
Im Abendland kann jeder Verbrecher Christus sein - und jeder Ankläger folglich
Pilatus.
Der große
abendländische Mythos hat jedoch eine zweite, eher psychologische und letztlich
wichtigere Dimension, die darauf beruht, dass es, wenn Gott bestraft werden
musste, notwendigerweise Gott war, der sich selbst bestrafen musste. Doch warum
musste Gott bestraft werden? Und warum im Himmel oder auf Erden sollte er sich
selbst bestrafen?
(Aus "Jesus. Der Selbstmord des Gottessohns" von Jack
Miles.
Aus dem Englischen von Friedrich Griese.)
Das Leben Jesu, wie es durch das Neue Testament überliefert
wird - zu lesen wie ein Stück Weltliteratur. Jack Miles entdeckt in der Figur
Jesu einen Charakterzug des alttestamentarischen Gottes, der nur in der Person
seines Sohnes wirklich sichtbar werden konnte: seine Schwäche, die im Tod am
Kreuz bis in die grausamste Form gesteigert wird. Literatur oder Offenbarung?
Beides ist denkbar, gleich wie man zum christlichen Glauben steht.
Jack Miles
wurde 1942 in Chicago geboren. Er widmete sich theologischen und
sprachwissenschaftlichen Studien an der Gregoriana in Rom, der Hebrew University
in Jerusalem und der Harvard University.
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