2 Es lebe der Tod

Der theologische Schriftsteller, der den lachenden Erlöser ins Spiel gebracht hat, bleibt ohne Namen. Die paar Seiten, die von ihm erhalten sind, unter der Überschrift »Die Apokalypse des Petrus«, mögen um 200 n.Chr. herum zu Papier gebracht worden sein. Ihr Autor gehörte zur Jesusbewegung, die damals in den großen Städten des Mittelmeerraums bereits Fuß gefaßt hatte.
Die Petrus-Apokalypse ist als Zwiegespräch konzipiert, zwischen dem Ich-Erzähler unter dem Namen des Apostels Petrus und dem Herrn Jesus, welcher als »Erlöser« auftritt. Dieser Erlöser ist mit seinen Gläubigen unzufrieden. Er sagt über sie: Sie werden sich an den Namen eines Toten hängen.
Gemeint ist der Gekreuzigte.
In der Tat. Das Christentum ist als Karfreitagsreligion angetreten. Den Auftakt dazu hatte der Völkerapostel Paulus gegeben. Bereits zwanzig Jahre nach dem Tod des Nazareners schrieb er an die von ihm gegründete Gemeinde in Korinth: Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu kennen als allein Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten.
Dabei ist es geblieben. Die Liebe zum Tod findet sich in den Schriften Sigmund Freuds ebenso wie in den Briefen des Bischofs Ignatius, der unter Kaiser Trajan (97–117) in Rom sterben mußte. Laßt mich zum Fraß der Raubtiere werden, schrieb der Mann, denn sie werden mich mit ihren Zähnen wie ein Weizenkorn in der Mühle zermahlen, damit ich mich in Christi Brot verwandle. Leiden ist für mich das höchste Gut.
Eine kleine Weile (1800 Jahre) später, nach dem allerersten Weltkrieg der Menschheitsgeschichte, setzte Freud dem Lustprinzip einen »Todestrieb« entgegen, mit den Worten: Das Ziel alles Lebens ist der Tod. Bald danach (1936) hielt der spanische General Millán Astray in der Universität von Salamanca eine Rede, wobei einer seiner Anhänger aus dem Hintergrund des Saals das Lieblingsmotto des Generals dazwischenrief: »Viva la muerte«, es lebe der Tod. Daraufhin ergriff der Philosoph Miguel de Unamuno, damals Rektor der Universität, das Wort und erklärte: Soeben habe ich einen nekrophilen und sinnlosen Zwischenruf gehört. Es schmerzt mich, denken zu müssen, daß General Astray uns die Psychologie der Massen diktieren möchte. Dies hier ist der Tempel des Intellekts, und ich bin dessen Hohepriester. Jetzt ist dieser heilige Bezirk entweiht.
Psychopathologisch wird Nekrophilie als leidenschaftliches Angezogenwerden von allem definiert, was tot, vermodert, verwest oder krank ist. Tatsächlich wünschten sich viele fromme Seelen unter die vom Lanzenstich des Soldaten geöffnete Seite des Gekreuzigten, um sich von der hervortretenden Wundbrühe überströmen zu lassen. Wasser der Seite Christi, wasche mich. Sollen katholische Jesuiten und evangelische Pietisten mit ihrer Andacht zum Lebensquell aus dem durchbohrten Herzen Jesu deshalb als pervers eingestuft werden? Eingeliefert in dieselbe Abteilung der transzendenten Besserungsanstalt, in welcher Hitler bereits einsitzt, als notorisch nekrophile Charaktermaske? Soll das Christentum, mit seinem leidenschaftlichen Angezogensein vom toten Jesus, zum Fall für die Psychiatrie erklärt werden?
Ich frage Dich also, mein Erlöser: Wie konnte es dazu kommen, daß der hellsichtige Befund der Petrus-Apokalypse unter die Erde kam, während die Nekrophilie des heiligen Paulus in die christliche Bibel rutschte?
Du sagst: Der lebendige Jesus kam frei. Er steht neben allen Kruzifixen dieser Erde und lacht.
Schau nur gut hin!

3 Darf ich Du sagen?

Die visionäre Konstellation der Petrus-Apokalypse, in welcher der lachende Erlöser erscheint, wird von einer unerwarteten Frage unterbrochen: Hältst Du mich fest?
Die Frage ist an den Erlöser gerichtet. Sie läßt sich auch so übersetzen: Greifst Du nach mir?
Der Erlöser, von den Häschern gepackt, wird vom Ich-Erzähler als seinerseits Zupackender wahrgenommen. Der Griff, in unmittelbarem Kontext mit den rücksichtslosen Schergen, ist Festnahme, nicht liebevolle Umarmung.
Gleich danach, nachdem er genug gesehen hat, bemerkt der Ich-Erzähler: Niemand sieht Dich. Laß uns von hier fliehen.
Dieser Wunsch bleibt unerfüllt. Nach einer kurzen Belehrung über die Blindheit der Bösewichter wird eine weitere Erscheinung nachgeschoben, eine Lichtgestalt, anzusehen wie der Erlöser und sein Ersatzmann, aber verklärt. Ich bin der geistlich erkennbare Erlöser, wird gesagt. Dann ist die Leitung unterbrochen.
In der Anrede des Erlösers (Retter, Heilands) ist eine gewisse Überlegenheit mitgemeint, wie im Verhältnis des Patienten zum Arzt, des Armen zum Reichen, des Angeklagten zum Richter. Es sei denn, daß Godot käme. Und wenn er kommt? Sind wir erlöst. In Samuel Becketts »Warten auf Godot« gibt es für den Erlöser keinen Auftritt. Er tut nichts, läßt auf sich warten. Vielleicht sagt er sich, daß er bei Gelegenheit vorbeikommen wird, wenn ihm nichts Besseres einfällt. Er wird nur ein einziges Mal angerufen, in quasi liturgischer Form: Christus, erbarme dich unser. Unwahrscheinlich, daß der Erlöser das überhaupt gehört hat. Offensichtlich war der Schrei nicht laut genug. So versteht sich, daß die beiden Clowns ans Weggehen denken. Aber sie rühren sich nicht von der Stelle. Der Erlöser hält sie fest.
Die Spielregeln in »Warten auf Godot« und in der Petrus-Apokalypse gleichen einander insofern, als der Erlöser in beiden Settings auf seine Klienten angewiesen bleibt – wie der Arzt auf die Patienten, der Richter auf die Angeklagten. In der Petrus-Apokalypse ist der Heiland sehr mitteilsam, verrät verborgene Zusammenhänge. (Apokalypse bedeutet so viel wie Enthüllung.) Beckett hingegen läßt den Erlöser schweigen, zufrieden damit, daß auf ihn gewartet wird. In jedem Fall geriete der Erlöser in Verlegenheit, falls niemand ihm zuhören, niemand auf ihn warten wollte.
In diesen Zusammenhang paßt eine Redeweise in den Schriften der Klosterbibliothek, aus der die Petrus-Apokalypse stammt. Es handelt sich dabei um die Auffassung, daß der Erlöser, weil ins Menschliche eingesenkt, selber der Erlösung bedürfe. Deshalb muß er die Erlösungsbedürftigen in seinen Bann ziehen (packen, festhalten). Er wird erst dann Ruhe finden, wenn es keine Erlösungsbedürftigkeit mehr gibt.
Ich weiß, daß mein Erlöser lebet. Er hat mich erwischt, als ich noch im Gymnasium war, und seither, trotz einiger Enttäuschungen, komme ich von ihm nicht mehr los. Aber was heißt das schon? Von Beckett läßt sich lernen, das Erlösungsgeschehen als Zirkusnummer aufzufassen, als Pausenfüller zwischen Trapez-Akten und Löwenbändigungen. Ich stolpere mit meinem Heiland in die Manege, falle sofort hin, schaue hilflos zu, wie eine Kreuzigungsszene veranstaltet wird. Die Kinder im Publikum jubeln, denn die Nägel fliegen immer wieder davon, nachdem sie eingehämmert wurden. Ich sammle die Nägel ein und bringe sie den Soldaten, damit die Sache ihre Ordnung hat. Dann schlagen wir ein paar Purzelbäume und verschwinden. Beckett wußte, daß die äußerste Verzweiflung komisch wirken kann.
So bin ich mit meinem Erlöser unterwegs. Ich benötige ihn, um erlöst zu werden, er mich, um mich zu erlösen. Ganz funktioniert hat die Geschichte nicht, streng genommen soll sie gar nicht funktionieren, denn was täten wir dann, ich und mein Erlöser? Mit der Zeit hat sich eine gewisse Vertraulichkeit in unsere Beziehung eingeschlichen, von meiner Seite jedenfalls. Wir wissen, woran wir miteinander sind. (...)


aus "Der lachende Christus" von Adolf Holl
Das Bild von Jesus als Schmerzensmann schien auf ewig fixiert, als 1945 bei Ausgrabungen im oberägyptischen Nag Hammadi eine verschollen geglaubte Klosterbibliothek mit frühchristlichen Texten u.a. die aus dem 2. Jahrhundert stammende "Apokalypse des Petrus" gefunden wurde. Darin fragt der Apostel Jesus Christus, wer denn der Unbekannte sei, der da unter dem Kreuz so fröhlich lache? Und Jesus antwortet: "Der, den du neben dem Kreuz fröhlich und lachend siehst, ist der lebendige Jesus. Derjenige hingegen, in dessen Hände und Füße Nägel geschlagen werden, ist sein leiblicher Teil, sein Ersatz."
Die Spuren, welche der "lachende Christus" von der arabischen Welt über das christliche Mittelalter bis in die Gegenwart auf bisweilen bizarre Weise hinterlassen hat, stehen im Zentrum dieses Buches, das zeigt, welche Folgen die Vorstellung eines ironischen Gottes nicht nur auf dem Gebiet der Theologie hätte. (Zsolnay)

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