Läppischer Biographismus

Er war ein Meister in jener Disziplin, die Hermann Broch „totale Ich-Verschweigung“ nannte. Sein Donnerwort, in einem Brief an Rilkes Tochter auf die Nachwelt gekommen, sollte als finstere Drohung jeglichen Ansatz zu einer über das Werk hinausgehenden Annäherung verhindern. „Wenn ich meinen Tod sehr nahe kommen fühlte“, schrieb Hugo von Hofmannsthal 1927 Ruth Sieber-Rilke, die eine Auswahledition der Korrespondenz ihres verstorbenen Vaters Rainer Maria Rilke plante, „würde ich Weisungen hinterlassen […], diese vielen schalen und oft indiskreten Äußerungen über einen produktiven Menschen und seine Hervorbringungen, dieses verwässernde Geschwätz, zu unterdrücken, zumindest ihm möglichst die Nahrung zu entziehen durch Beiseite-Bringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen, Erschwerung des läppischen Biographismus und aller dieser Unziemlichkeiten.“ In früheren Jahren war er - apropos der Veröffentlichung von Briefen - sogar noch heftiger wider „empörende Indiskretionen und Taktlosigkeiten“ zu Felde gezogen. „Ich weiß nicht,“ polterte er bereits 1908, „wo diese pseudophilologische Anmaßung und subalterne Ahnungslosigkeit den Mut hernimmt, sich, sobald ihr die Feder in die Hand kommt, publice über die primitivsten Gesetze des Anstandes hinwegzusetzen, deren analoge Verletzung in keinem Bürger- oder Bauernhaus straflos durchginge.“ Auch in den dem Germanisten Walther Brecht anvertrauten Notaten „Ad me ipsum“ findet sich einschlägig Abschreckendes: „Es sind einige herangetreten“, hielt Hofmannsthal Anfang November 1926 fest, „meine Biographie schreiben zu dürfen. Ein sehr sonderbares Ansinnen. Die Anekdoten – die Aufenthaltsorte – die Begegnungen – die Einflüsse. Unfähigkeit, das rein geistige Abenteuer zu erfassen. […] Wer eine Biographie macht, stellt sich gleich.“ Dem Vorwurf unziemlicher Ranganmaßung wollte sich im 20. Jahrhundert offenkundig niemand aussetzen. So hat es Hugo von Hofmannsthal in der Tat geschafft. Trotz der Überfülle an Sekundärliteratur, sie rückt ihn an Kafka, Brecht und Thomas Mann heran, gibt es bis heute keine Biographie im strengen Begriff von ihm.

Naturgemäß sind auch diese „Skizzen zu seinem Bild“ keine. Bloß der Versuch, die Person Hofmannsthal - das Werk nicht wie sonst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt - ein wenig besser zu verstehen. Für solches Interesse sind zwei Motive ausschlaggebend. Immerhin notierte Arthur Schnitzler, der den Freund durchaus kritisch beurteilte, nach der Lektüre des Nachlaß-Fragments „Andreas oder Die Vereinigten“: „Der größte Dichter dieser Zeit ist mit ihm dahin.“ Rudolf Borchardt, in puncto Hofmannsthal der öffentlichen Hymnen wie des privaten Verdammungsurteils fähig, meinte: „Wenige Menschen sind so fassungslos vergöttert, so ungemessen geliebt worden wie er von seinen Nächsten. Er war nur mit sich selber zu vergleichen. Hätte er nichts geschrieben, es hätte an der Wirkung, die er tat, nichts geändert.“ Der Idolatrie, „Ein Götterbote war er uns“, entsprach das gegenteilige Extrem radikaler Ablehnung: „[…] Hofmannsthal, der mir nie etwas bedeutet hat, den ich im Gegenteil für maßlos überschätzt halte!“ (Elias Canetti an Marcel Reich-Ranicki, 1973). Oder Albert Drach: „Sobald der Knabe Elis als Page bei Stefan George eintrat, nannte er sich Loris. […] Würde der Knabe Elis noch das Greisenstadium erreicht haben, würde ihm der Schickelgruber ein Shakehands nicht versagt haben. […] Elis starb, weil sein geliebter und unbegabter Sohn versagt und Selbstmord begangen hatte.“ Felix Salten, der nicht sonderlich geschätzte Wegbegleiter seit Jugendtagen, meinte im Rückblick gar: „Hofmannsthals Lebensgeschichte würde eine Dichtertragödie von unvergleichlicher Intensität enthüllen.“

Drei Aspekte seiner Existenz stehen hier im Vordergrund. Untrennbar sind sie miteinander verbunden: Der erste ist, mit einem Zentralbegriff von Thomas Bernhards „Auslöschung“ zu sprechen, der „Herkunftskomplex“, bei Hofmannsthal das Phantasma des jüdischen Blutes, also eine Familiensaga im Zeichen und Zeitalter eines mörderisch werdenden Antisemitismus. Der zweite beschäftigt sich mit dem Zauber der Noblesse, dem freilich stets der Fluch des Snobismus und die Gefahr des Reaktionären anhaften. Im dritten - dem bei weitem umfangreichsten - gilt es, dem Mysterium von Freundschaft und Liebe nachzuspüren, den zarten und den heftigen, den ausgesprochenen und unaussprechlichen Gefühlen - zwischen Mann und Frau, Mann und Mann, Kindern und Eltern. Nicht ohne Grund rief Karl Wolfskehl 1929, unmittelbar nach Hofmannsthals Tod, aus: „Am eignen Sohn zu sterben, welch ein Symbol für das Europa von Gestern!“

Einer der trefflichsten Aphorismen in Hofmannsthals „Buch der Freunde“ lautet: „Wenn ein Mensch dahin ist, nimmt er ein Geheimnis mit sich: wie es ihm, gerade ihm – im geistigen Sinn zu leben möglich gewesen sei.“ Dieses Rätsel zu lösen scheint im Geniefall - und um den handelt es sich bei Hofmannsthal - ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Aber das Geheimnis zumindest in Grundzügen zu umreißen, bleibt eine realistische Aufgabe. Mit 17 Jahren hatte Hugo von Hofmannsthal Hermann Bahr geschrieben: „Ich habe einmal den Grundsatz, Schriftsteller nicht in ihren Schriften zu suchen; sind nicht wir gleich z. B. viel netter als unsere Bücher?“ Und im Briefwechsel mit seinem „Seekadetten“, Edgar Karg von Bebenburg, sprach er von Menschen als den „lebendigen Büchern“, die „aufzublättern“ er das Bedürfnis habe.

Allein, wie beginnen? Vielleicht recht äußerlich, indem man den Blick der Zeitgenossen folgt. Ihre Beobachtungen konzentrieren sich auf Hofmannsthals Augen – nach altem (Aber-)Glauben, der sie als Fenster zur Seele definiert. Der Mitschüler Edmund von Hellmer etwa schwärmte schlicht von des Gymnasiasten „schönen goldbraunen Augen. Keine lustigen Kinderaugen“ {F, 9}, während Rudolf Borchardt, als Poet und Philologe zu Adel des Ausdrucks verpflichtet, Augen „von kindlicher, fast tierischer Schönheit“ pries: „kirschbraun und prachtvoll beweglich im Forschen, Rollen und Aufschlag, dabei jener aushaltenden Sanftheit des Blickes fähig, die italienisch dolcezza heißt.“ {F, 68} Der Romancier Jakob Wassermann hingegen, der Sommerfrischennachbar in Aussee, sprach von einem „eigentümlich stumpfen Blick, Augen, die manchmal an die mysteriöse Nacht erinnerten, die die Augen antiker Statuen erfüllt“. {F, 103} Ihm assistierte seine zweite Frau, Martha Karlweis: „Das Auge leuchtete nicht. Es war fast glanzlos.“ {F, 250}. Stefan Zweig wiederum wollte vor allem die „Unruhe seiner sehr dunklen, samtigen, aber stark kurzsichtigen Augen“ {F, 43f.} bemerkt haben, indes die Karlweis obendrein Nachtblindheit diagnostizierte. Zu einer detaillierten, beinah bis ins Völkerkundliche reichenden Beschreibung verstieg sich Willy Haas: „Ich sehe seine Augen vor mir, sehr weich, fast schwimmend in Weichheit, weil der Augapfel etwas zu tief unten im Weißen lag, mit einem Ausdruck größter Empfindlichkeit, nicht gerade glücklos, aber positiv unglücklich […]; sie hatten etwas dunkel Maurisches.“ {F, 255} Und Hermann Bahr, der erste Herold seines Ruhmes, nahm am jungen Loris vor allem geschlechtliche Ambivalenz wahr: „Braune, lustige, zutrauliche Mädchenaugen, in denen was Sinnendes, Hoffendes und Fragendes mit einer naiven Koketterie, welche die schiefen Blicke von der Seite liebt, vermischt ist.“ {F, 16}

Ausgerechnet der einzige Fachmann auf dem Gebiete der Physiognomik, Rudolf Kassner, enthielt sich blumiger Porträtmalerei und beschränkte sich darauf, „Angst im Auge Hofmannsthals“ zu konstatieren. Verglichen mit dieser Polyphonie der optischen Eindrücke wirken andere, akustische, verblüffend einstimmig. Hofmannsthal habe „etwas hoch, flachtönig, halb im Falsett“ {F, 254) gesprochen, konstatierte Haas; Felix Braun beschwor eine „hohe Stimme, die oft in Diskant umschlug“ {F, 156}, was in ähnlicher Weise auch Erika Brecht {F, 211}, Oskar Maurus Fontana {F, 274}; Salten {F, 38} und Zweig behaupteten: „unschön […], manchmal sehr nahe dem Falsett und sich leicht überkippend.“ {F, 44} Am interessantesten klingen Wassermanns Reminiszenzen: „Sonderbar die Stimme; in der leichten Konversation hell, krähend fast, wie zum Weltgebrauch absichtlich entseelt, sank sie im ernsten Zwiegespräch in immer tiefere Lagen und wurde warm und sonor.“ {F, 106} Und einer, der ein besonders feines Gehör hatte, registrierte lapidar: „Hoffmannstal [!] liest mit falschem Klang in der Stimme.“ Franz Kafka - Prag, Februar 1912.

Auffallend zudem die Art seines Händedrucks, bei Willkommen und Abschied – kurz, „mit einer Art Scheu“, berichtet der mit der Tänzerin Grete Wiesenthal verheiratete Maler Erwin Lang: „Dann flüchtete die Hand zurück, als wäre sie ein selbständiges Wesen, das sich wieder bergen wollte.“{F, 198} Carl J. Burckhardt erinnert sich, anläßlich der ersten Begegnung mit Hofmannsthal in Wien, an dessen „charakteristischen festen Händedruck mit den fünf Fingern, indem er die ihm gereichte Hand hastig wegstieß“. Ähnlich Golo Mann: „wie sonderbar er beim Abschied die Hand gab. Er reichte sie mir und zog sie zurück, indem er sie reichte; als ob ihm das handshake im höchsten Grade unangenehm wäre.“ Und Borchardt erzählt vom „wunderlichen“, dem „raschen schwachen Händedruck der stummen Flucht, das Nichtmehrsein, das Wegsein, das Wegseinwollen, das die Toren des Gemüts nie begriffen und ihm gar verargten.“ {F, 78}

Unbestritten scheint Hofmannsthals außerordentliche Gabe der Gesprächsführung. Mit Fug und Recht apostrophierte ihn Stefan George als: „Erfinder rollenden gesangs und sprühend / Gewandter zwiegespräche.“ {F, 325} Darum klagten auch seine Freunde in vorauseilender Trauer, an der Spitze Rudolf Borchardt: „Wenn wir alle tot sind, wird keiner wissen, wie er war.“ {F, 244} In seiner letzten Botschaft an Hofmannsthal, wenige Wochen vor dessen Tod, schrieb Thomas Mann: „Ich weiß keinen zweiten Menschen, mit dem man sich so gut und förderlich unterhält. Was man zu sagen versucht, verstehen Sie, fast bevor man es gesagt hat, und Ihr Verständnis ist von vervollkommnender Art.“ Ein fernes Echo dieser hohen Kunst aus Esprit und Grazie, aus Bildung, Witz, Empathie, Bosheit und Charme kam allerdings durch den Briefschreiber Hofmannsthal auf uns. „Wie man einmal die Architektur gefrorene Musik genannt hat“, sagt der große Kenner seines Werks, Richard Alewyn, „so sind diese Briefe gefrorenes Gespräch, die kostbarsten Zeugnisse eines Gesprächs, das alle, die noch seiner gewürdigt worden sind, als das zauberischste rühmen, das ihnen je beschieden gewesen ist.“

Leibhaftige Zeugen werden im folgenden zu Wort kommen, auch Selbstzeugnisse sonder Zahl sind zu berücksichtigen. Das virtuelle Verdikt des Objekts der Betrachtung steht jedoch schon von vornherein fest: „Die Wahrheit über einen Lebenden sagt man glaub ich (und wohl auch über einen Todten) wenn man sich ganz an das Producierte hält. Dies unendlich dichte Gewebe geistiger Relationen (immer dichter je mehr man sich darein vertieft) wird einem allmählich zur Hieroglyphe, zum Gesicht. Dies Gesicht des Dichters darf man abmalen – alles andere ist erbärmliche Carricatur.“ Trotzdem: Der von Rudolf Alexander Schröder entworfene Grabstein Hofmannsthals auf dem Kalksburger Friedhof trägt als Inschrift die Schlußzeilen des Gedichts „Manche freilich…“: „Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier.“ Die Verse davor lauten: „Viele Geschicke weben neben dem meinen, / Durcheinander spielt sie alle das Dasein.“ Und im Finale des Märchens „Die Frau ohne Schatten“ wird das „ewige Geheimnis der Verkettung alles Irdischen“ beschworen. Eine Ahnung von der Verkettung zu geben, ist Absicht dieser Untersuchung. Nicht mehr und nicht weniger. In dem Wie, wissen wir von der Marschallin aus dem „Rosenkavalier“, da liegt der ganze Unterschied. „Das: Verbirg dein Leben“, eine Notiz aus Hofmannsthals Aufzeichnungen, war ihm Programm. Uns ist es Herausforderung. (...)


aus "Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild" von Ulrich Weinzierl
"Der größte Dichter dieser Zeit ist mit ihm dahin", notierte Arthur Schnitzler wenige Tage nach dem Tod Hugo von Hofmannsthals im Juli 1929 in sein Tagebuch. "Eine Dichtertragödie von unvergleichlicher Intensität" würde Hofmannsthals Lebensgeschichte enthüllen, schrieb Felix Salten und deutete damit auf Spannungen, mit denen sich einer der letzten großen Dichter des untergehenden Europa konfrontiert sah.
In diesem Buch gelingt es Ulrich Weinzierl, einem der besten Kenner der klassischen Moderne, Hofmannsthal als genialen Dichter und als Menschen sichtbar zu machen, in dem sich die Abgründe des Fin de Siècle spiegeln. (Zsolnay Verlag 2005)

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