Die Götter sind flüchtige Gäste in
der Literatur. Sie durchziehen sie mit der Spur ihrer Namen. Aber sie verlassen
sie auch bald. Jedesmal wenn der Schriftsteller zu einem Wort ansetzt, muss er
sie zurückgewinnen. Die quecksilbrige Art, die die Götter ankündigt, ist auch
das Zeichen ihrer Ungreifbarkeit. Das ist nicht immer so gewesen, zumindest so
lange nicht, als es eine Liturgie gab. Das Geflecht von Gesten und Worten, die
Aura kontrollierter Zerstörung, der Gebrauch bestimmter Stoffe, aber anderer
nicht: das stellte die Götter zufrieden, solange die Menschen es für richtig
hielten, sich an sie zu wenden. Später blieben dann nur, wie verwehte Fetzen in
einem verlassenen Lager, jene Geschichten der Götter zurück, die von jeder Geste
mitgemeint waren. Aus ihrem Boden gerissen und dem grellen Licht im Vibrieren
der Worte ausgesetzt, mochten sie wohl auch unverschämt und leer erscheinen. Am
Ende wird alles Literaturgeschichte.
Weitschweifig und nichtssagend wäre
es daher, wollte man die Augenblicke nennen, in denen sich, seit den
Frühromantikern, die griechischen Götter in den Versen der modernen Dichtung
zeigen. Fast alle Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, von den mittelmäßigsten
bis zu den sublimen, haben irgendwann ein Gedicht geschrieben, in dem die Götter
genannt werden. Das Gleiche gilt für einen großen Teil der Dichter des
zwanzigsten Jahrhunderts. Warum? Aus den verschiedensten Gründen: aus
jahrhundertealter Schulgewohnheit, vielleicht aber auch, um vornehm, exotisch,
heidnisch, erotisch oder gelehrt zu erscheinen. Der häufigste Grund war
allerdings tautologisch: um poetisch zu erscheinen. Ob in einem Gedicht Apollo
oder eine Eiche oder
der Meeresschaum erwähnt wird, macht keinen großen Unterschied und will auch
nicht viel sagen: Es sind allemal Ausdrücke des literarischen Wortschatzes,
gleichermaßen abgeschliffen durch den Gebrauch.
Es gab aber eine Zeit, in
der die Götter nicht in erster Linie eine literarische Gewohnheit waren, sondern
ein Ereignis, eine plötzliche Erscheinung, wie das Zusammentreffen mit einem
Banditen oder das Sichabzeichnen eines Schiffes. Und es brauchte nicht einmal
der vollständige Anblick zu sein. Aiax Oileus erkennt den als Kalchas
verkleideten Poseidon, als er ihm nachsieht, am Gang: er erkennt ihn "an den
Füßen, an den Beinen".
Da für uns alles mit Homer beginnt, fragen wir uns:
Wie wird in seinen Versen dieses Ereignis benannt? Als der Trojanische Krieg
ausbricht, lassen die Götter sich auf der Erde schon viel seltener blicken als
in älterer Zeit. Eine Generation früher hatte Zeus noch mit einer Sterblichen
Sarpedon gezeugt. Und für die Hochzeit von Peleus und Thetis waren alle Götter
zur Erde herabgekommen. Nun zeigt Zeus sich nicht mehr bei den Menschen, er
schickt andere Olympier zur Erkundung aus: Hermes, Athene, Apollo. Die Götter zu
sehen ist mittlerweile schwierig geworden. Das stellt Odysseus fest, wenn er zu
Athene sagt: "Schwer ist’s, Göttin, dich zu erkennen, und wär’ man auch noch so
verständig." Die nüchternste Formulierung finden wir in der Hymne an Demeter:
"Schwer zu sehen sind für die Menschen die Götter."
Jede Ursprungszeit
ist eine Zeit, in der es heißt, die Götter seien fast verschwunden. Nur wenigen
durch göttlichen Willen Auserwählten zeigen sich die Götter: "Nicht allen
erscheinen die Götter in voller Klarheit" (enargeîs), lesen wir in der Odyssee. Enargés
ist der Terminus technicus für das göttliche Erscheinen: ein Adjektiv, das das
Leuchten des "Weiß" (argós) in sich enthält, aber am Ende eine reine,
unbezweifelbare "Klarheit" bezeichnet. Jene Art von Klarheit, die dann zum
Erbteil der Dichtung wurde und vielleicht das Merkmal ist, wodurch sie sich von
jeder anderen Form unterscheidet.
(Aus "Die Literatur und die Götter"
von Roberto Calasso.
Aus dem Italienischen von Reimar Klein.)
Brillant, inspiriert und kenntnisreich enthüllt Calasso das göttliche
Raunen, das sich hinter der besten Poesie, der schönsten Prosa, verbirgt und
weiht uns ein in das Geheimnis aller großen Literatur. Er führt in das Reich
von Dionysos
und Orpheus, von
Baudelaire, Novalis,
Mallarmé und
Hölderlin und zeigt, dass sich die Geschichte der Götter auch lesen
lässt als eine verschlüsselte, großartige Geschichte der Literatur.
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