ULISES KOMMT IN DIE AKADEMIE

Nicht nach Lust, sondern nach Schmerzlosigkeit strebt der Kluge.
Aristoteles, Nikomachische Ethik

Es gibt Dinge, nicht wert, sie zu wissen, und andere, die man besser nicht vergisst. So dachte er, als das alles vorbei war, wenn überhaupt je etwas vorbei ist.
Doch bevor es zu diesem Ende kommen sollte, lag Ulises Acaty an jenem dunklen Septembernachmittag, an dem sich ein Teil seines Schicksals zu schmieden begann, nichts ferner, als über das Erinnern oder Vergessen zu meditieren. Er war fast siebenunddreißig Jahre alt und allein erziehender Vater. Er hatte einen kleinen Sohn und Schulden, er zog es vor, seinen Geist lieber mit weniger abstrakten Dingen zu beschäftigen.
Der Himmel bereitete sich auf die kältesten Monate des Jahres vor und kümmerte sich nicht um die Sorgen der Menschen, wie schon immer. Die barocke Plaza Mayor im habsburgischen Teil Madrids, die in anderen Zeiten Plaza de Arrabal oder Plaza de Constitución geheißen hatte, zeigte sich unter der samtverhangenen sterbenden Sonne des sich neigenden Tages von ihrer heruntergekommensten Seite. Auf diesem mächtigen Platz waren einst Bettler und Edelmänner zusammengeströmt, Schelme und Würdenträger, adlige Damen mit gepudertem Teint und schmutzige Dienstmädchen mit zerschlissener Kleidung, um Massenspektakeln beizuwohnen oder königlichen Hochzeiten und Autodafés, Prozessionen und öffentlichen Hinrichtungen. Heute war die Statue Philipps III. umringt von einer ähnlich bunt gemischten, aber irgendwie unterschiedsloseren Menge: Touristen, Arme ohne eigenes Dach über dem Kopf oder eigenen Boden unter den Füßen; Langzeitarbeitslose, faule Müßiggänger, die vor den Schaufenstern der verstaubt riechenden Läden entlang der Säulengänge herumstanden, Manager, Immigranten, leichtsinnige Jugendliche, Hausfrauen, Terroristen.
Gut gelaunt betrachtete er die Fassade der Casa de la Panadería und sagte sich, dass sich seit den Zeiten Juan de Herreras vielleicht doch nicht so viel verändert hatte. Nur war heute alles sehr viel teurer.
Ulises beschleunigte seine Schritte, doch wegen des Kinderwagens, den er schieben musste, fiel es ihm schwer, einen Rhythmus zu finden.
"Wir werden ihn Telémaco nennen", hatte seine Frau, ohne zu zögern oder rot zu werden, gesagt, als das Kind geboren und das Ende der guten Zeiten eingeläutet war. "Hauptsache, es ist kein gewöhnlicher Name, du weißt ja, wie sehr ich alles Gewöhnliche hasse. Und so abwegig ist der Name nun auch nicht, wenn man bedenkt, dass du Ulises heißt und ich Penélope."
Er lächelte Telémaco Vertrauen erweckend an, betrachtete von oben sein heiteres, halb zahnloses Lächeln, das sich in dem des Vaters wiederfinden wollte, und konnte um Haaresbreite einer jungen Frau ausweichen, die, die Aufschläge ihres grauen Regenmantels an die Brust gedrückt, auf spitzen Stöckelschuhen dahineilte.
Zu der Zeit hatte der gute Mann noch nicht begriffen, dass jemand von einem Moment auf den nächsten eines gewaltsamen Todes sterben und alle, die fasziniert und ungläubig die Tragödie betrachten, mit seinem Blut besudeln konnte, ihn eingeschlossen - oder ... nicht sterben, wenn es in seiner Hand lag, das Unglück zu verhindern.
Nein, Ulises war auf dergleichen nicht gefasst. Er ging einfach nur spazieren, das Kinderwägelchen entschlossen vor sich herschiebend, in dem sein Sohn, der gerade zwei geworden war, vergnügt mit den Beinchen strampelte, als hätte er soeben entdeckt, dass dies seine heilige Mission in dieser Welt war und nichts und niemand ihn daran hindern konnte. Telémaco war ein Glückseliger: Er war lebendiges Abbild der Abwesenheit von Schmerz.
Ulises sah auf die Uhr. Er würde zu spät zur Versammlung kommen, und Vili, sein Schwiegervater, würde ihm diesen leicht wahnsinnigen Blick zuwerfen, mit dem er die anderen durchbohrte, wenn er ihnen einen Vorwurf machen wollte, ohne ihn auszusprechen.
Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, zur Akademie von Don Viliulfo Alberola zu gehen - den alle nur unter dem Namen Vili kannten - und auch nur eine Minute länger seine Sokratischen Dialoge über das Glück über sich ergehen zu lassen, aber Vili hatte ihm mehr oder minder deutlich gedroht, als er einmal angedeutet hatte, nicht mehr zu den Versammlungen kommen zu wollen. (Meine Güte! Es passte ihm eben nicht in den Kram, gerade dann aus dem Haus zu gehen, wenn er die tägliche Waschmaschine anwerfen und dem Kleinen das Abendbrot richten musste!) Und obwohl Ulises nicht zu denen gehörte, die sich leicht einschüchtern ließen, wollte er nicht unnötig den Zorn des Doktors herausfordern und ging also weiterhin zu den wöchentlichen Treffen mit ihm und der Schar von Bekloppten, die ihm mit sektiererischem Eifer folgten.
Es lag auf der Hand, dass Vili ihn kontrollieren wollte. Außerdem gab es ihm Gelegenheit, Telémaco regelmäßig zu sehen. Man konnte ihn durchaus als den Opa des Kleinen betrachten, wenn er auch eher ein Rabengroßvater war. Seinen Enkel liebte er jedenfalls sehr, das stand fest.
Auf der anderen Seite hatte er das Gefühl, dass der alte Vili, was sein Privatleben betraf, mit jedem Tag weniger entspannt wirkte. Ulises glaubte auch zu wissen, wem er den permanenten Stress zu verdanken hatte: Seine Lehren halfen dem armen Mann im Leben wenig, da er sie nicht konsequent auf sich selbst anzuwenden vermochte, zumindest nicht auf die Ehehölle mit seiner Frau.
Ulises fragte sich, wozu diese Gesetze gut waren, wenn sich gerade diejenigen, die sie vorschrieben, nicht daran hielten.
Gesetze waren ihm grundsätzlich zuwider; sie behagten ihm nicht, ihn beschlich eine ähnliche Vorahnung wie seinerzeit Napoleon: dass bei so vielen Gesetzen niemand sicher sein konnte, ob man ihn nicht früher oder später ins Gefängnis warf.
Natürlich hatten Vilis Gesetze nichts mit Jura zu tun; er selbst nannte sie Regeln, wodurch sie noch beunruhigender wurden, wenn das überhaupt möglich war, denn Vili erhob den Anspruch, dass jeder, der diese Regeln befolgte, das Glück finden konnte.
In den Augen von Ulises war es kein besonderes Verdienst, dass jemand wie Vili sich mit Gedanken über Glück und Philosophie auseinander setzte. Don Viliulfo Alberola konnte es sich leisten, weil er reich war. Kein einfacher Pesetenmillionär, nein, sondern wirklich reich. Einfacher Millionär hätte ja jeder werden können, aber so betucht wie er, das war nicht jedem vergönnt. Er besaß ein Vermögen, das von einer Heerschar von Anwälten verwaltet wurde, die ihn vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr belästigten, weil er das eine oder andere Dokument unterschreiben musste. Er hatte Häuser an so vielen Orten dieser Welt, dass Ulises Zweifel hegte, ob er sich an alle erinnerte oder sie sich wenigstens einmal angesehen hatte. Und doch plauderte er in aller Bescheidenheit mit den Leuten in seiner Akademie, wohnte in einer zwar großen, aber nicht sonderlich luxuriös eingerichteten Wohnung im Zentrum von Madrid (in der Stadt, pflegte er zu sagen, habe er seine Agora gefunden). Und er ertrug mit einem ebenso perversen wie hingebungsvollen Stoizismus seine Frau Valentina.
Das Glück.
Ja, das Glück ...
Worin aber bestand es, das Glück?
Er betrachtete erneut seinen Sohn, der unter dem Verdeck des Kinderwagens vor sich hin brabbelte und dabei eine Unmenge durchsichtiger Speicheltropfen verspritzte. Er schrie und lachte, strampelte, murmelte unsinniges Zeug auf Spanisch und Deutsch und sah sich so fröhlich um wie jemand, der die Welt zum ersten Mal zur Kenntnis nimmt und alles, was er sieht, für gut befindet. In seinem Fall war es auch so.
Ach, wie glücklich wäre doch der kleine Telémaco, wenn er nur wüsste, dass er glücklich war, wie Vergil sagen würde.
Ulises wuschelte ihm mit der linken Hand durchs Haar. Anmutig verdrehte das Kind so lange den Kopf, bis der Vater genau in seinem Blickfeld lag; seine weit aufgerissenen Augen hatten die Farbe einer frisch aufgeschnittenen Mandel. Er schenkte Ulises ein breites, mit Sabber garniertes Lächeln der Zufriedenheit.
Er war ein entzückendes Kind, fröhlich und verspielt. Keiner käme auf die Idee, dass ihm eine Mutter fehlte.
Als er auf Zehenspitzen und den Kleinen im Arm den Raum betrat, hatte die Sitzung schon seit geraumer Zeit begonnen.
"Selbstverständlich bist du ein guter Mensch. Und ein glücklicher sowieso", sagte Carlota Rodríguez mit einem beschwichtigenden Lächeln zu einem der Anwesenden. Sie hatte prachtvolle lange rote Haare, und trotz ihrer Brille strahlten ihre Augen methylenblau.
Roberto Olazábal schickte seinerseits ein Lächeln zurück, das aber eher wie ein unfreiwilliges Zwinkern wirkte. Dadurch kam er etwas ins Stocken. Er wollte nicht, dass die Frau es falsch interpretierte. Er schaute sie noch einmal an, aber in ihrem Gesicht waren keine Anzeichen von Ärger zu entdecken, fast könnte man sagen: ganz im Gegenteil.
Na gut. Umso besser.
Ulises setzte sich so unauffällig wie möglich in eine Ecke, nahm den Kleinen auf den Schoß und gab ihm ein Plastikfigürchen, um ihn zu beschäftigen.
"Stimmt schon", bestätigte der Mann, diesmal in Richtung Vili. "Ich stehe ja auch jeden Morgen auf und sage mir: Mann, Mann, Mann ... Du bist vielleicht ein Glückspilz. Und du hast so einen Haufen von Vorteilen. Ich meine, das Universum ist riesig groß, und ausgerechnet
dir gelingt es, auf der Erde geboren zu werden, einem kleinen Planeten irgendwo am Rand einer mittleren Galaxie, wo es eine Atmosphäre, fließend kaltes und warmes Wasser und Lebensmittelgeschäfte gibt. Und hier auf der Erde landest du ausgerechnet in Europa, Spanien, Madrid. Hmmm ... Ist doch gar nicht schlecht für den Anfang. Und dann hast du auch noch einen Job, einen richtig guten Job. Besser gesagt, einen Superjob, wenn man bedenkt, in welchen Zeiten wir leben. Und weiß bist du auch noch, genau die richtige Hautfarbe für diese Breitengrade. Jeden Morgen beim Aufstehen sage ich mir das." Roberto lehnte sich in seinen Stuhl zurück und kratzte sich am Ohr. Er holte Luft, bevor er fortfuhr. "Aber, ehrlich gesagt, wenn auch nur einer dieser Pluspunkte wegfiele, dann hätte ich verschissen. Wenn ich zum Beispiel keine Arbeit hätte oder wenn ich ein Schwarzer wäre oder wenn ich in Uganda leben müsste ... Fiele nur eines meiner Privilegien weg, dann wäre ich am Arsch. Es sind also nur dann Privilegien, wenn man sie alle auf einmal hat, oder nicht?"
Vili nickte müde.
"Ja, jaaa ...", murmelte er.
Dann war Chantal Porcel an der Reihe. Sie war vierundfünfzig Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter zusammen. Als einmal jemand ihren Ex-Mann nach den Gründen für die Scheidung fragte, wies er auf seine Schwiegermutter hin und benutzte die gleichen Worte wie seinerzeit Lady Di, als sie im Fernsehen die ganze Welt zu Tränen rührte: "In dieser Ehe waren wir zu dritt, da wurde es ein bisschen eng."
"Also ..." Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Wenn sie an der Reihe war, wusste sie fast nie, was sie sagen sollte. Sie hasste es, vor anderen Leuten zu sprechen. Am Telefon hingegen war sie eine richtige Quasselstrippe. Und manchmal ließ sie sich zu dieser Art von Selbstentblößung hinreißen, die schüchterne Menschen sich von Zeit zu Zeit erlauben. "Ich kriege die Panik, immer wenn ich in ein Flugzeug steige. Kaum dass ich den Fuß auf die unterste Stufe setze, fange ich an zu beten. Ich bete zu Gott, bitte ihn, falls das Flugzeug abstürzt, dass mein Leichnam verkohlt, damit ja keiner merkt, dass ich vor dem Sterben keine Zeit mehr hatte, mich zu enthaaren."
Vili wölbte die Augenbrauen und lachte, während er es sich in seinem roten Ledersessel bequem machte, die Beine ausstreckte und den linken Fuß über den rechten legte.
"Und? Was hat das mit dem zu tun, was wir gerade besprochen haben?", fragte Jacobo Ayala mit einem unwirschen Kopfschütteln.
Chantal blickte betreten zu Boden, als wäre sie kurzsichtig und suchte etwas.
"Vermutlich nichts", räumte sie ein. "Ich wollte nur, dass ihr es wisst ... vielleicht ist es ja für irgendwas gut."
Irma Salado war genauso wie Chantal geschieden. Nur war sie erst einunddreißig und hatte darüber hinaus seit neuestem einen gut aussehenden jungen Griechen als Freund.
"Um zu überleben", sagte sie, während sie einige Strähnen ihrer platinblonden Haare um den Finger wickelte, "relativiere ich alles, versteht ihr? Das ist das ganze Geheimnis: die Relativität. Wenn ihr's nicht glaubt, lest nach bei Einstein. Ich sage mir zum Beispiel: Gut, du bist vielleicht nicht naturblond, aber du kannst dir wenigstens die Haare färben, und selbst wenn die Färbemittel nicht halten, was sie versprechen, auch egal, du hast wenigstens Haare." Sie sah sich in der Gruppe um, suchte bei jedem Einzelnen nach Zustimmung. "Und o.k., ja, stimmt, ich geb's zu, ich habe vielleicht nicht so einen tollen Job wie Roberto, aber ich habe wenigstens einen Job, und auch wenn der Job nichts Besonderes ist und mir nicht liegt, kann ich doch wenigstens meine Rechnungen bezahlen. O.K., ich bin nicht groß, aber ich kann ja Absätze tragen, oder? Ich habe mir zwar mit diesen Scheißabsätzen schon dreimal den Knöchel verstaucht, aber meine Beine waren gesund, bevor ich täglich Absätze getragen habe, von Verstauchung keine Spur."  Sie holte Luft und blähte stolz ihre Brust, bevor sie fortfuhr. "Gut, ich habe kein Geld, stimmt. Aber ich habe Taschen, die nur darauf warten, gefüllt zu werden, womit ich sagen will, dass ich eine Jacke trage und mir diese Jacke kaufen konnte, obwohl ich leere Taschen habe. Ja, richtig, mein Leben ist nicht gerade aufregend, das Aufregendste an meinem Tag sind die Fernsehnachrichten. Es ist wahr, mein Leben ist nichts Besonderes, aber ich habe wenigstens ein Leben, womit ich sagen will, dass ich lebendig bin, was gar nicht zu verachten ist, wenn man bedenkt, dass, wenn es nicht so wäre, ich mich ja über gar nichts mehr beschweren könnte." Sie zuckte mit den Schultern und machte eine lange Pause, die sie mit einem beunruhigenden Seufzer füllte. "... weil ich dann nämlich tot wäre. Seid ihr damit einverstanden oder nicht?"
"Geht das jetzt nicht ein bisschen zu weit?" Jacobo Ayala, der von Geburt an blind war, schüttelte erneut unwirsch den Kopf hin und her.
Ulises streichelte seinen Sohn, damit er ruhig blieb. Dann hielt er sich automatisch die Ohren zu. Immer wenn Jacobo redete, hörte es sich an wie bei den Bee Gees, ein summender Ton, der ihn im Ohr kitzelte. Wobei die Bee Gees wenigstens sangen. Oder doch angenehm trällerten. Was bei dem Blinden nicht der Fall war.
Später sah er sich Irma genauer an. Sein Blick blieb auf ihren rosigen Fingern haften, die zu einer Dame gehören könnten, die einer Ballade würdig war. Sie hatte kleine Hände, mit denen sie nervös herumnestelte. Nach den Kriterien der reinen Kunst war Irma weder hübsch noch hässlich, aber sie hatte ihren eigenen Stil und ihre besondere Art, die Dinge zu betrachten, und das allein war schon etwas. Etwas sehr Wichtiges.
Schon seit einigen Wochen interessierte sich Ulises für sie, er hatte sie nach ihrer Arbeit in einem Kindergarten gefragt. "Ist nicht schlecht", hatte die junge Frau mit einem misstrauischen Blick auf Telémaco geantwortet, "obwohl die Kleinen meistens echte Nervensägen sind."
Ihre Brüste hoben und senkten sich, während sie sprach, bebten unter dem eng anliegenden, schwarzen Sweatshirt, versprachen eine Art von Belohnung, die sich genauerer Analyse entzog, aber das Vergnügen ihres Anblicks irgendwie erhöhten.
Eine weibliche Brust, die erwartungsvoll bebte, war an sich schon dazu angetan, Ulises' Aufmerksamkeit auf der Stelle in eine bestimmte Richtung zu lenken, die ihm nicht immer zum Vorteil gereichte. Irmas Brüste hatten jedenfalls diese Wirkung, und daher sah er sie erneut an, mit wachsendem Interesse.
Sein ebenfalls geschiedener Freund Jorge Almagro, stellvertretender Direktor beim Finanzamt und ein Netsexjunkie, rückte leise seinen Stuhl näher an Ulises heran.
"Hast du gesehen, was für einen Ausschnitt Irma heute hat?", flüsterte er Ulises ins Ohr und jagte ihm dabei mit seiner schlecht ausbalancierten Atemmischung aus Menthol und Nikotin einen gehörigen Schrecken ein. "Wenn ich nur weniger gehemmt wäre, würde ich sie zu mir nach Hause einladen und ihr mein Handbuch des häuslichen Überlebens zeigen."
Ulises sah Jorge erstaunt an und nahm Telémacos Hände von den schlecht gebügelten Jackettaufschlägen seines Freundes.
"Du weißt schon ...", sagte der zerstreut, den Blick fest auf Irmas blonde Haarmähne gerichtet. "Mein Habitus. Gewohnheiten sind stärker als die Leidenschaft, falls du das noch nicht bemerkt hast. Ich führe ein geordnetes Leben, so richtig bürgerlich. Ein Leben, das den Frauen gefällt, das ihnen das Gefühl von Sicherheit gibt. Ich würde Irma mit nach Hause nehmen und ihr meinen sonnenstudiogebräunten Körper zeigen. Mein altes Bidet. Und mein Ding, das sich nach ehelicher Routine sehnt. Weil es aber so groß ist, mein Ding, meine ich ... na ja, bestimmt würde sie es nicht mal anschauen. Ich spreche von meinem Penis. Meiner Frau ging es immer so, sie konnte ihn einfach nicht anschauen. Sie sagte, er sei zu mächtig, als dass eine Frau seinen Anblick lange ertragen könnte." Mit einer Handbewegung wischte er den aufwühlenden Gedanken an seine Ex-Frau beiseite und zwinkerte boshaft mit einem Auge. "Trotzdem könnte ich Irma noch einiges beibringen, könnte ihr Sachen zeigen, die sie bestimmt noch nie gesehen hat, unter anderem meinen Schwanz. Ich bin mir sicher, dass meine Hausmannsmanien für jemanden wie sie ein Ereignis wären."
Ulises lächelte seinen Freund an.
"Na ja, ich weiß nicht. Was den Sex angeht, kann ich nur sagen: das meiste erfunden, aber das wenigste echt gefühlt, was heißt, dass du immer eine Chance bei Frauen hast, bei ihr oder bei einer anderen. Du musst es nur versuchen. Nicht so viel reden, mehr handeln. Ich glaube aber, dass Irma seit ein paar Wochen einen neuen Freund hat."
"Ach ja? Gut zu wissen: Aber eines ist klar, wenn ich meine Haare noch hätte, würde ich das Terrain bei ihr trotzdem mal abchecken. Seit meiner Scheidung habe ich so etwas nicht mehr gemacht. Wenn ich noch alle Haare auf meinem Schädel hätte, wenn sie ihn noch schön bedecken und warm halten würden, dann hätte ich auch den Mut, eine Frau wie Irma anzusprechen."
Er verschränkte die Arme und sah zu dem Teilnehmer hinüber, der gerade das Wort ergriffen hatte. Wie ein Erstklässler saß er da in seiner Schulbank und tat so, als widmete er dem Sprecher alle Aufmerksamkeit. "Aber meine Ex hat ja alles mitgenommen. Alles. Mein Selbstwertgefühl, mein Häuschen in den Bergen, mein Herz, mein Girokonto, die Anrichte meiner Oma, den kleinen Jorgito! Das Einzige, was sie mir gelassen hat, ist mein katastrophaler Haarausfall. Und die paar Strähnen, die ich bis vor kurzem noch hatte, hat der Fahrtwind weggeblasen, weil ich so viel mit dem Motorrad rumfahren muss, seit sie mir nämlich auch mein Auto weggenommen hat."
"Komm schon, hör auf, dich zu beklagen, wir sind doch hier, um das Glück zu suchen, oder?" Ulises deutete auf die nachdenkliche und eindrucksvolle Gestalt Vilis, der in der Mitte des Zirkels saß, den die Leute in der überfüllten Akademie um ihn gebildet hatten.
"Das Glück?" Jorge verzog traurig seine dünnen Lippen. "Ja, natürlich, das Glück ..." Nachdenklich kniff er die Augen zusammen. "Ich hätte schon Lust, ihm irgendwann mal zu begegnen, ich gäbe wer weiß was drum, wenn ich dieser Hure Glück mal eine knallen könnte."
Ulises versuchte, seinen Sohn festzuhalten, der auf den Boden klettern und im Saal herumkrabbeln wollte. Draußen war es dunkel geworden, und die Straßenlichter überzogen die Scheiben der riesigen Fensterwand mit einer Patina künstlicher Helligkeit.
"Wir sind alle so schrecklich allein in dieser Welt!", hörte er jemanden mit dumpfer Stimme sagen.
Er wandte den Kopf und erblickte einen Mann mittleren Alters, den er nicht kannte, der heute vielleicht zum ersten Mal hierher gekommen war, obwohl, gut möglich, dass er ihm bisher einfach nur nicht aufgefallen war. Er trug Handschuhe, sein ängstliches, misstrauisches Gesicht war wie die Vorankündigung eines schrecklichen Ereignisses, das keiner der Anwesenden würde verhindern können.
Ulises hätte nie gedacht, dass er mit seiner Vorahnung Recht behalten sollte. Der Mann weckte augenblicklich seine Aufmerksamkeit: Er sah irgendwie mitgenommen aus und hatte an den Schläfen merkwürdige Hautrisse, man hatte den Eindruck, er habe in seinem Leben so viel nachgedacht, bis die Knochen dem unerbittlichen Abrieb durch die an den Kopf gepressten Finger Tribut gezollt hatten; fasziniert betrachtete er ihn noch einen Moment, musste seine Observation aber ohne weiteres Ergebnis abbrechen, da Telémaco unruhig wurde und seine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte.


(Aus "Die Schule des Glücks" Ángela Vallvey.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.)

Erinnern Sie sich an Homers Odyssee? An Odysseus, Penelope und ihren Sohn Telemach? In Ángela Vallveys bezauberndem und humorvollem Roman ist allerdings Penelope diejenige, die auf der Suche nach mehr Lebenssinn ihren Mann verlässt, um eine erfolgreiche Modedesignerin zu werden. Der Frauenheld Ulyses dagegen muss seine Malerei an den Nagel hängen, um sich zu Hause um den gemeinsamen Sohn Telemaco zu kümmern. Als Hausmann aber, der von den Alimenten seiner Frau lebt, bleibt seine Sehnsucht nach dem Fest des Lebens ungestillt. Trost inmitten von Windeln und Babybrei findet er nur in der Akademie seines steinreichen Schwiegervaters, des Privatphilosophen Don Vili. In dessen Schule des Glücks versammeln sich Glückssuchende, Wissbegierige und verwirrte Wesen, die Erleuchtung suchen oder ein Zeichen, und sei es auch ein noch so flüchtiges, dass das Leben irgendeinen Sinn hat.
Ángela Vallvey hat einen warmherzigen und intelligenten Roman über das Glück geschrieben. Unterhaltsam, witzig und voller Hochachtung gegenüber der Weisheit der alten Griechen und Römer gibt sie hier Hilfe zur Selbsthilfe. Augenzwinkernd und verständnisvoll widmet sich die Autorin den großen und kleinen Nöten der Menschen.
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