ULISES KOMMT IN DIE
AKADEMIE
Nicht nach Lust, sondern nach Schmerzlosigkeit strebt der
Kluge.
Aristoteles, Nikomachische Ethik
Es gibt Dinge, nicht wert,
sie zu wissen, und andere, die man besser nicht vergisst. So dachte er, als das
alles vorbei war, wenn überhaupt je etwas vorbei ist.
Doch bevor es zu diesem
Ende kommen sollte, lag Ulises Acaty an jenem dunklen Septembernachmittag, an
dem sich ein Teil seines Schicksals zu schmieden begann, nichts ferner, als über
das Erinnern oder Vergessen zu meditieren. Er war fast siebenunddreißig Jahre
alt und allein erziehender Vater. Er hatte einen kleinen Sohn und Schulden, er
zog es vor, seinen Geist lieber mit weniger abstrakten Dingen zu
beschäftigen.
Der Himmel bereitete sich auf die kältesten Monate des Jahres
vor und kümmerte sich nicht um die Sorgen der Menschen, wie schon immer. Die
barocke Plaza Mayor im habsburgischen Teil Madrids, die in anderen Zeiten Plaza
de Arrabal oder Plaza de Constitución geheißen hatte, zeigte sich unter der
samtverhangenen sterbenden Sonne des sich neigenden Tages von ihrer
heruntergekommensten Seite. Auf diesem mächtigen Platz waren einst Bettler und
Edelmänner zusammengeströmt, Schelme und Würdenträger, adlige Damen mit
gepudertem Teint und schmutzige
Dienstmädchen
mit zerschlissener Kleidung, um Massenspektakeln beizuwohnen oder königlichen
Hochzeiten und Autodafés, Prozessionen und öffentlichen Hinrichtungen. Heute war
die Statue Philipps III. umringt von einer ähnlich bunt gemischten, aber
irgendwie unterschiedsloseren Menge: Touristen, Arme ohne eigenes Dach über dem
Kopf oder eigenen Boden unter den Füßen; Langzeitarbeitslose, faule Müßiggänger,
die vor den Schaufenstern der verstaubt riechenden Läden entlang der Säulengänge
herumstanden, Manager, Immigranten, leichtsinnige Jugendliche, Hausfrauen,
Terroristen.
Gut gelaunt betrachtete er die Fassade der Casa de la Panadería
und sagte sich, dass sich seit den Zeiten Juan de Herreras vielleicht doch nicht
so viel verändert hatte. Nur war heute alles sehr viel teurer.
Ulises
beschleunigte seine Schritte, doch wegen des Kinderwagens, den er schieben
musste, fiel es ihm schwer, einen Rhythmus zu finden.
"Wir werden ihn
Telémaco nennen", hatte seine Frau, ohne zu zögern oder rot zu werden, gesagt,
als das Kind geboren und das Ende der guten Zeiten eingeläutet war. "Hauptsache,
es ist kein gewöhnlicher Name, du weißt ja, wie sehr ich alles Gewöhnliche
hasse. Und so abwegig ist der Name nun auch nicht, wenn man bedenkt, dass du
Ulises heißt und ich Penélope."
Er lächelte Telémaco Vertrauen erweckend an,
betrachtete von oben sein heiteres, halb zahnloses Lächeln, das sich in dem des
Vaters wiederfinden wollte, und konnte um Haaresbreite einer jungen Frau
ausweichen, die, die Aufschläge ihres grauen Regenmantels an die Brust gedrückt,
auf spitzen Stöckelschuhen dahineilte.
Zu der Zeit hatte der gute Mann noch
nicht begriffen, dass jemand von einem Moment auf den nächsten eines gewaltsamen
Todes sterben und alle, die fasziniert und ungläubig die Tragödie betrachten,
mit seinem Blut besudeln konnte, ihn eingeschlossen - oder ... nicht sterben,
wenn es in seiner Hand lag, das Unglück zu verhindern.
Nein, Ulises war auf
dergleichen nicht gefasst. Er ging einfach nur spazieren, das Kinderwägelchen
entschlossen vor sich herschiebend, in dem sein Sohn, der gerade zwei geworden
war, vergnügt mit den Beinchen strampelte, als hätte er soeben entdeckt, dass
dies seine heilige Mission in dieser Welt war und nichts und niemand ihn daran
hindern konnte. Telémaco war ein Glückseliger: Er war lebendiges Abbild der
Abwesenheit von Schmerz.
Ulises sah auf die Uhr. Er würde zu spät zur
Versammlung kommen, und Vili, sein Schwiegervater, würde ihm diesen leicht
wahnsinnigen Blick zuwerfen, mit dem er die anderen durchbohrte, wenn er ihnen
einen Vorwurf machen wollte, ohne ihn auszusprechen.
Eigentlich hatte er
überhaupt keine Lust, zur Akademie von Don Viliulfo Alberola zu gehen - den alle
nur unter dem Namen Vili kannten - und auch nur eine Minute länger seine
Sokratischen Dialoge über das Glück über sich ergehen zu lassen, aber Vili hatte
ihm mehr oder minder deutlich gedroht, als er einmal angedeutet hatte, nicht
mehr zu den Versammlungen kommen zu wollen. (Meine Güte! Es passte ihm eben
nicht in den Kram, gerade dann aus dem Haus zu gehen, wenn er die tägliche
Waschmaschine anwerfen und dem Kleinen das Abendbrot richten musste!) Und obwohl
Ulises nicht zu denen gehörte, die sich leicht einschüchtern ließen, wollte er
nicht unnötig den Zorn des Doktors herausfordern und ging also weiterhin zu den
wöchentlichen Treffen mit ihm und der Schar von Bekloppten, die ihm mit
sektiererischem Eifer folgten.
Es lag auf der Hand, dass Vili ihn
kontrollieren wollte. Außerdem gab es ihm Gelegenheit, Telémaco regelmäßig zu
sehen. Man konnte ihn durchaus als den Opa des Kleinen betrachten, wenn er auch
eher ein Rabengroßvater war. Seinen Enkel liebte er jedenfalls sehr, das stand
fest.
Auf der anderen Seite hatte er das Gefühl, dass der alte Vili, was sein
Privatleben betraf, mit jedem Tag weniger entspannt wirkte. Ulises glaubte auch
zu wissen, wem er den permanenten Stress zu verdanken hatte: Seine Lehren halfen
dem armen Mann im Leben wenig, da er sie nicht konsequent auf sich selbst
anzuwenden vermochte, zumindest nicht auf die Ehehölle mit seiner
Frau.
Ulises fragte sich, wozu diese Gesetze gut waren, wenn sich gerade
diejenigen, die sie vorschrieben, nicht daran hielten.
Gesetze waren ihm
grundsätzlich zuwider; sie behagten ihm nicht, ihn beschlich eine ähnliche
Vorahnung wie seinerzeit Napoleon:
dass bei so vielen Gesetzen niemand sicher sein konnte, ob man ihn nicht früher
oder später ins Gefängnis warf.
Natürlich hatten Vilis Gesetze nichts mit
Jura zu tun; er selbst nannte sie Regeln, wodurch sie noch beunruhigender
wurden, wenn das überhaupt möglich war, denn Vili erhob den Anspruch, dass
jeder, der diese Regeln befolgte, das Glück finden konnte.
In den Augen von
Ulises war es kein besonderes Verdienst, dass jemand wie Vili sich mit Gedanken
über Glück und Philosophie auseinander setzte. Don Viliulfo Alberola konnte es
sich leisten, weil er reich war. Kein einfacher Pesetenmillionär, nein, sondern
wirklich reich. Einfacher Millionär hätte ja jeder werden können, aber so
betucht wie er, das war nicht jedem vergönnt. Er besaß ein Vermögen, das von
einer Heerschar von Anwälten verwaltet wurde, die ihn vielleicht zwei- oder
dreimal im Jahr belästigten, weil er das eine oder andere Dokument
unterschreiben musste. Er hatte Häuser an so vielen Orten dieser Welt, dass
Ulises Zweifel hegte, ob er sich an alle erinnerte oder sie sich wenigstens
einmal angesehen hatte. Und doch plauderte er in aller Bescheidenheit mit den
Leuten in seiner Akademie, wohnte in einer zwar großen, aber nicht sonderlich
luxuriös eingerichteten Wohnung im Zentrum von Madrid (in der Stadt, pflegte er
zu sagen, habe er seine Agora gefunden). Und er ertrug mit einem ebenso
perversen wie hingebungsvollen Stoizismus seine Frau Valentina.
Das
Glück.
Ja, das Glück ...
Worin aber bestand es, das Glück?
Er
betrachtete erneut seinen Sohn, der unter dem Verdeck des Kinderwagens vor sich
hin brabbelte und dabei eine Unmenge durchsichtiger Speicheltropfen verspritzte.
Er schrie und lachte, strampelte, murmelte unsinniges Zeug auf Spanisch und
Deutsch und sah sich so fröhlich um wie jemand, der die Welt zum ersten Mal zur
Kenntnis nimmt und alles, was er sieht, für gut befindet. In seinem Fall war es
auch so.
Ach, wie glücklich wäre doch der kleine Telémaco, wenn er nur wüsste, dass er
glücklich war, wie Vergil sagen würde.
Ulises wuschelte ihm
mit der linken Hand durchs Haar. Anmutig verdrehte das Kind so lange den Kopf,
bis der Vater genau in seinem Blickfeld lag; seine weit aufgerissenen Augen
hatten die Farbe einer frisch aufgeschnittenen Mandel. Er schenkte Ulises ein
breites, mit Sabber garniertes Lächeln der Zufriedenheit.
Er war ein
entzückendes Kind, fröhlich und verspielt. Keiner käme auf die Idee, dass ihm
eine Mutter fehlte.
Als er auf Zehenspitzen und den Kleinen im Arm den Raum
betrat, hatte die Sitzung schon seit geraumer Zeit
begonnen.
"Selbstverständlich bist du ein guter Mensch. Und ein glücklicher
sowieso", sagte Carlota Rodríguez mit einem beschwichtigenden Lächeln zu einem
der Anwesenden. Sie hatte prachtvolle lange rote Haare, und trotz ihrer Brille
strahlten ihre Augen methylenblau.
Roberto Olazábal schickte seinerseits ein
Lächeln zurück, das aber eher wie ein unfreiwilliges Zwinkern wirkte. Dadurch
kam er etwas ins Stocken. Er wollte nicht, dass die Frau es falsch
interpretierte. Er schaute sie noch einmal an, aber in ihrem Gesicht waren keine
Anzeichen von Ärger zu entdecken, fast könnte man sagen: ganz im
Gegenteil.
Na gut. Umso besser.
Ulises setzte sich so unauffällig wie
möglich in eine Ecke, nahm den Kleinen auf den Schoß und gab ihm ein
Plastikfigürchen, um ihn zu beschäftigen.
"Stimmt schon", bestätigte der Mann, diesmal in Richtung Vili. "Ich stehe ja
auch jeden Morgen auf und sage mir: Mann, Mann, Mann ... Du bist vielleicht
ein Glückspilz. Und du hast so einen Haufen von Vorteilen. Ich meine, das Universum
ist riesig groß, und ausgerechnet
dir gelingt es, auf der Erde geboren zu werden, einem kleinen
Planeten irgendwo am Rand einer mittleren Galaxie, wo es eine Atmosphäre,
fließend kaltes und warmes Wasser und Lebensmittelgeschäfte gibt. Und hier auf
der Erde landest du ausgerechnet in Europa, Spanien, Madrid. Hmmm ... Ist doch
gar nicht schlecht für den Anfang. Und dann hast du auch noch einen Job, einen
richtig guten Job. Besser gesagt, einen Superjob, wenn man bedenkt, in welchen
Zeiten wir leben. Und weiß bist du auch noch, genau die richtige Hautfarbe für
diese Breitengrade. Jeden Morgen beim Aufstehen sage ich mir das." Roberto
lehnte sich in seinen Stuhl zurück und kratzte sich am Ohr. Er holte Luft, bevor
er fortfuhr. "Aber, ehrlich gesagt, wenn auch nur einer dieser Pluspunkte
wegfiele, dann hätte ich verschissen. Wenn ich zum Beispiel keine Arbeit hätte
oder wenn ich ein Schwarzer wäre oder wenn ich in Uganda leben müsste ... Fiele
nur eines meiner Privilegien weg, dann wäre ich am Arsch. Es sind also nur dann
Privilegien, wenn man sie alle auf einmal hat, oder nicht?"
Vili nickte
müde.
"Ja, jaaa ...", murmelte er.
Dann war Chantal Porcel an der Reihe.
Sie war vierundfünfzig Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter zusammen. Als einmal
jemand ihren Ex-Mann nach den Gründen für die Scheidung fragte, wies er auf
seine Schwiegermutter hin und benutzte die gleichen Worte wie seinerzeit Lady
Di, als sie im Fernsehen die ganze Welt zu Tränen rührte: "In dieser Ehe waren
wir zu dritt, da wurde es ein bisschen eng."
"Also ..." Sie rutschte nervös
auf ihrem Stuhl herum. Wenn sie an der Reihe war, wusste sie fast nie, was sie
sagen sollte. Sie hasste es, vor anderen Leuten zu sprechen. Am Telefon hingegen
war sie eine richtige Quasselstrippe. Und manchmal ließ sie sich zu dieser Art
von Selbstentblößung hinreißen, die schüchterne Menschen sich von Zeit zu Zeit
erlauben. "Ich kriege die Panik, immer wenn ich in ein Flugzeug steige. Kaum
dass ich den Fuß auf die unterste Stufe setze, fange ich an zu beten. Ich bete
zu Gott, bitte ihn, falls das Flugzeug abstürzt, dass mein Leichnam verkohlt,
damit ja keiner merkt, dass ich vor dem Sterben keine Zeit mehr hatte, mich zu
enthaaren."
Vili wölbte die Augenbrauen und lachte, während er es sich in
seinem roten Ledersessel bequem machte, die Beine ausstreckte und den linken Fuß
über den rechten legte.
"Und? Was hat das mit dem zu tun, was wir gerade
besprochen haben?", fragte Jacobo Ayala mit einem unwirschen
Kopfschütteln.
Chantal blickte betreten zu Boden, als wäre sie kurzsichtig
und suchte etwas.
"Vermutlich nichts", räumte sie ein. "Ich wollte nur, dass
ihr es wisst ... vielleicht ist es ja für irgendwas gut."
Irma Salado war
genauso wie Chantal geschieden. Nur war sie erst einunddreißig und hatte darüber
hinaus seit neuestem einen gut aussehenden jungen Griechen als Freund.
"Um zu überleben", sagte sie, während sie einige Strähnen ihrer platinblonden
Haare um den Finger wickelte, "relativiere ich alles, versteht ihr? Das ist
das ganze Geheimnis: die Relativität. Wenn ihr's nicht glaubt, lest nach bei
Einstein.
Ich sage mir zum Beispiel: Gut, du bist vielleicht nicht naturblond, aber du
kannst dir wenigstens die Haare färben, und selbst wenn die Färbemittel nicht
halten, was sie versprechen, auch egal, du hast wenigstens Haare." Sie sah sich
in der Gruppe um, suchte bei jedem Einzelnen nach Zustimmung. "Und o.k., ja,
stimmt, ich geb's zu, ich habe vielleicht nicht so einen tollen Job wie Roberto,
aber ich habe wenigstens einen Job, und auch wenn der Job nichts Besonderes
ist und mir nicht liegt, kann ich doch wenigstens meine Rechnungen bezahlen.
O.K., ich bin nicht groß, aber ich kann ja Absätze tragen, oder? Ich habe mir
zwar mit diesen Scheißabsätzen schon dreimal den Knöchel verstaucht, aber meine
Beine waren gesund, bevor ich täglich Absätze getragen habe, von Verstauchung
keine Spur." Sie holte Luft und blähte stolz ihre Brust, bevor sie fortfuhr.
"Gut, ich habe kein Geld,
stimmt. Aber ich habe Taschen, die nur darauf warten, gefüllt zu werden, womit
ich sagen will, dass ich eine Jacke trage und mir diese Jacke kaufen konnte,
obwohl ich leere Taschen habe. Ja, richtig, mein Leben ist nicht gerade aufregend,
das Aufregendste an meinem Tag sind die Fernsehnachrichten. Es ist wahr, mein
Leben ist nichts Besonderes, aber ich habe wenigstens ein Leben, womit ich sagen
will, dass ich lebendig bin, was gar nicht zu verachten ist, wenn man bedenkt,
dass, wenn es nicht so wäre, ich mich ja über gar nichts mehr beschweren könnte."
Sie zuckte mit den Schultern und machte eine lange Pause, die sie mit einem
beunruhigenden Seufzer füllte. "... weil ich dann nämlich tot wäre. Seid ihr
damit einverstanden oder nicht?"
"Geht das
jetzt nicht ein bisschen zu weit?" Jacobo Ayala, der von Geburt an blind war,
schüttelte erneut unwirsch den Kopf hin und her.
Ulises streichelte seinen
Sohn, damit er ruhig blieb. Dann hielt er sich automatisch die Ohren zu. Immer
wenn Jacobo redete, hörte es sich an wie bei den Bee Gees, ein summender Ton,
der ihn im Ohr kitzelte. Wobei die Bee Gees wenigstens sangen. Oder doch
angenehm trällerten. Was bei dem Blinden nicht der Fall war.
Später sah er
sich Irma genauer an. Sein Blick blieb auf ihren rosigen Fingern haften, die zu
einer Dame gehören könnten, die einer Ballade würdig war. Sie hatte kleine
Hände, mit denen sie nervös herumnestelte. Nach den Kriterien der reinen Kunst
war Irma weder hübsch noch hässlich, aber sie hatte ihren eigenen Stil und ihre
besondere Art, die Dinge zu betrachten, und das allein war schon etwas. Etwas
sehr Wichtiges.
Schon seit einigen Wochen interessierte sich Ulises für sie,
er hatte sie nach ihrer Arbeit in einem Kindergarten gefragt. "Ist nicht
schlecht", hatte die junge Frau mit einem misstrauischen Blick auf Telémaco
geantwortet, "obwohl die Kleinen meistens echte Nervensägen sind."
Ihre
Brüste hoben und senkten sich, während sie sprach, bebten unter dem eng
anliegenden, schwarzen Sweatshirt, versprachen eine Art von Belohnung, die sich
genauerer Analyse entzog, aber das Vergnügen ihres Anblicks irgendwie
erhöhten.
Eine weibliche Brust, die erwartungsvoll bebte, war an sich schon
dazu angetan, Ulises' Aufmerksamkeit auf der Stelle in eine bestimmte Richtung
zu lenken, die ihm nicht immer zum Vorteil gereichte. Irmas Brüste hatten
jedenfalls diese Wirkung, und daher sah er sie erneut an, mit wachsendem
Interesse.
Sein ebenfalls geschiedener Freund Jorge Almagro,
stellvertretender Direktor beim Finanzamt und ein Netsexjunkie, rückte leise
seinen Stuhl näher an Ulises heran.
"Hast du gesehen, was für einen
Ausschnitt Irma heute hat?", flüsterte er Ulises ins Ohr und jagte ihm dabei mit
seiner schlecht ausbalancierten Atemmischung aus Menthol und Nikotin einen
gehörigen Schrecken ein. "Wenn ich nur weniger gehemmt wäre, würde ich sie zu
mir nach Hause einladen und ihr mein Handbuch des häuslichen Überlebens
zeigen."
Ulises sah Jorge erstaunt an und nahm Telémacos Hände von den
schlecht gebügelten Jackettaufschlägen seines Freundes.
"Du weißt schon ...",
sagte der zerstreut, den Blick fest auf Irmas blonde Haarmähne gerichtet. "Mein
Habitus. Gewohnheiten sind stärker als die Leidenschaft, falls du das noch nicht
bemerkt hast. Ich führe ein geordnetes Leben, so richtig bürgerlich. Ein Leben,
das den Frauen gefällt, das ihnen das Gefühl von Sicherheit gibt. Ich würde Irma
mit nach Hause nehmen und ihr meinen sonnenstudiogebräunten Körper zeigen. Mein
altes Bidet. Und mein Ding, das sich nach ehelicher Routine sehnt. Weil es aber
so groß ist, mein Ding, meine ich ... na ja, bestimmt würde sie es nicht mal
anschauen. Ich spreche von meinem Penis. Meiner Frau ging es immer so, sie
konnte ihn einfach nicht anschauen. Sie sagte, er sei zu mächtig, als dass eine
Frau seinen Anblick lange ertragen könnte." Mit einer Handbewegung wischte er
den aufwühlenden Gedanken an seine Ex-Frau beiseite und zwinkerte boshaft mit
einem Auge. "Trotzdem könnte ich Irma noch einiges beibringen, könnte ihr Sachen
zeigen, die sie bestimmt noch nie gesehen hat, unter anderem meinen Schwanz. Ich
bin mir sicher, dass meine Hausmannsmanien für jemanden wie sie ein Ereignis
wären."
Ulises lächelte seinen Freund an.
"Na ja, ich weiß nicht. Was den
Sex angeht, kann ich nur sagen: das meiste erfunden, aber das wenigste echt
gefühlt, was heißt, dass du immer eine Chance bei Frauen hast, bei ihr oder bei
einer anderen. Du musst es nur versuchen. Nicht so viel reden, mehr handeln. Ich
glaube aber, dass Irma seit ein paar Wochen einen neuen Freund hat."
"Ach ja?
Gut zu wissen: Aber eines ist klar, wenn ich meine Haare noch hätte, würde ich
das Terrain bei ihr trotzdem mal abchecken. Seit meiner Scheidung habe ich so
etwas nicht mehr gemacht. Wenn ich noch alle Haare auf meinem Schädel hätte,
wenn sie ihn noch schön bedecken und warm halten würden, dann hätte ich auch den
Mut, eine Frau wie Irma anzusprechen."
Er verschränkte die Arme und sah zu
dem Teilnehmer hinüber, der gerade das Wort ergriffen hatte. Wie ein
Erstklässler saß er da in seiner Schulbank und tat so, als widmete er dem
Sprecher alle Aufmerksamkeit. "Aber meine Ex hat ja alles mitgenommen. Alles.
Mein Selbstwertgefühl, mein Häuschen in den Bergen, mein Herz, mein Girokonto,
die Anrichte meiner Oma, den kleinen Jorgito! Das Einzige, was sie mir gelassen
hat, ist mein katastrophaler Haarausfall. Und die paar Strähnen, die ich bis vor
kurzem noch hatte, hat der Fahrtwind weggeblasen, weil ich so viel mit dem
Motorrad rumfahren muss, seit sie mir nämlich auch mein Auto weggenommen
hat."
"Komm schon, hör auf, dich zu beklagen, wir sind doch hier, um das
Glück zu suchen, oder?" Ulises deutete auf die nachdenkliche und eindrucksvolle
Gestalt Vilis, der in der Mitte des Zirkels saß, den die Leute in der
überfüllten Akademie um ihn gebildet hatten.
"Das Glück?" Jorge verzog
traurig seine dünnen Lippen. "Ja, natürlich, das Glück ..." Nachdenklich kniff
er die Augen zusammen. "Ich hätte schon Lust, ihm irgendwann mal zu begegnen,
ich gäbe wer weiß was drum, wenn ich dieser Hure Glück mal eine knallen
könnte."
Ulises versuchte, seinen Sohn festzuhalten, der auf den Boden
klettern und im Saal herumkrabbeln wollte. Draußen war es dunkel geworden, und
die Straßenlichter überzogen die Scheiben der riesigen Fensterwand mit einer
Patina künstlicher Helligkeit.
"Wir sind alle so schrecklich allein in dieser
Welt!", hörte er jemanden mit dumpfer Stimme sagen.
Er wandte den Kopf und
erblickte einen Mann mittleren Alters, den er nicht kannte, der heute vielleicht
zum ersten Mal hierher gekommen war, obwohl, gut möglich, dass er ihm bisher
einfach nur nicht aufgefallen war. Er trug Handschuhe, sein ängstliches,
misstrauisches Gesicht war wie die Vorankündigung eines schrecklichen
Ereignisses, das keiner der Anwesenden würde verhindern können.
Ulises hätte
nie gedacht, dass er mit seiner Vorahnung Recht behalten sollte. Der Mann weckte
augenblicklich seine Aufmerksamkeit: Er sah irgendwie mitgenommen aus und hatte
an den Schläfen merkwürdige Hautrisse, man hatte den Eindruck, er habe in seinem
Leben so viel nachgedacht, bis die Knochen dem unerbittlichen Abrieb durch die
an den Kopf gepressten Finger Tribut gezollt hatten; fasziniert betrachtete er
ihn noch einen Moment, musste seine Observation aber ohne weiteres Ergebnis
abbrechen, da Telémaco unruhig wurde und seine ganze Aufmerksamkeit auf sich
lenkte.
(Aus "Die Schule des Glücks" Ángela
Vallvey.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.)
Erinnern Sie sich an
Homers Odyssee? An
Odysseus, Penelope und ihren Sohn Telemach? In Ángela Vallveys bezauberndem und
humorvollem Roman ist allerdings Penelope diejenige, die auf der Suche nach mehr
Lebenssinn ihren Mann verlässt, um eine erfolgreiche Modedesignerin zu werden.
Der Frauenheld Ulyses dagegen muss seine Malerei an den Nagel hängen, um sich zu
Hause um den gemeinsamen Sohn Telemaco zu kümmern. Als Hausmann aber, der von
den Alimenten seiner Frau lebt, bleibt seine Sehnsucht nach dem Fest des Lebens
ungestillt. Trost inmitten von Windeln und Babybrei findet er nur in der
Akademie seines steinreichen Schwiegervaters, des Privatphilosophen Don Vili. In
dessen Schule des Glücks versammeln sich Glückssuchende, Wissbegierige und
verwirrte Wesen, die Erleuchtung suchen oder ein Zeichen, und sei es auch ein
noch so flüchtiges, dass das Leben irgendeinen Sinn hat.
Ángela Vallvey hat
einen warmherzigen und intelligenten Roman über das Glück geschrieben.
Unterhaltsam, witzig und voller Hochachtung gegenüber der Weisheit der alten
Griechen und Römer gibt sie hier Hilfe zur Selbsthilfe. Augenzwinkernd und
verständnisvoll widmet sich die Autorin den großen und kleinen Nöten der
Menschen.
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