Die Glücksmaschinen und der
Augenblick
Das Glück macht uns Beine. Entweder treibt es uns in die
Flucht, Flucht vor dem Augenblick, und setzt dazu als Lockmittel ein Ziel ein.
Oder es versenkt uns in eben diesen Augenblick selbst und löst uns mit einem
Schlag die Glieder. Auf jeden Fall zieht es uns langsam und hartnäckig aus uns
selbst heraus und liefert uns zwei unterschiedlichen Ekstasen aus: der Ekstase
des Zieles und der Ekstase des Augenblicks.
Die Ziele sind jedoch keine
im Voraus gegebenen Naturdinge wie Bäume oder Sterne. Als Objekte des Begehrens
sind sie eher so etwas wie kollektive Kunstwerke. Jede Kultur produziert im
Verborgenen Ziele, die mit ihren Glücksverheißungen an den Menschen saugen und
das große Triebwerk ihrer Welt in Gang bringen. Unter dem hektischen Atem des
Glücks drehen sich die Autoräder, kreist das Blut in den Körpern, heben und
senken sich die Bierkrüge, steigt und fällt der DAX-Index, pendeln die Züge auf
ihren Intercity-Schienen. Denn sie sollen unsere Bedürfnisse befriedigen und uns
glücklich machen.
Aber machen alle diese Maschinen, diese seelischen,
physischen, physiologischen, ökonomischen Vorrichtungen uns denn wirklich
glücklich? Das war die Frage der herkömmlichen Kulturtheorien und
Technikphilosophien. Doch im Verlauf der Versuche, darauf zu antworten, hat sich
die Richtung der Frage umgekehrt. Heute fragen wir nicht mehr: "Machen die
Maschinen glücklich?" - sondern: "Was macht das Glück mit den Maschinen?".
Hinter dieser Frage steckt eine neuartige Kulturkritik und eine neue Logik der
Erfahrung. Nicht die Maschinen sichern das Glück, eher bewegt das Glück die
Maschinen. Oder besser noch: Das Glück funktioniert selbst als Maschine, als
eine Maschine der Maschinen.
Der Einsatz dieser Supermaschine bedarf
vielfältiger Stützpunkte in der Landschaft des modernen Begehrens. Denn die
Macht des Glücks offenbart sich erst anhand der Macht der konkreten
Glücksbringer, etwa der Macht der neuen Produkte, die regelmäßig an die Strände
des Konsums geschwemmt werden; oder der Macht der fremdartigen Geografien, von
der jedes Jahr Massen von Menschen in die Ferne gejagt werden; oder der Macht
der sexualisierten Körper, an der die Mode, die Medien und die Politik der
Personalabteilungen partizipieren. In der Welt dieser Glücksbringer gibt es
keinen Superlativ: Es gibt nicht das beste Produkt, den sexuellsten Körper, die
fremdartigste Landschaft. Die endlose Beweglichkeit dieser Welt verdankt sich
einem absolut gewordenen Komparativ: Das Neue wird von einem immer Neueren
abgedrängt und das alt gewordene Neue landet auf einem immer höher wachsenden
Müllberg, der seinerseits eine eigene Betriebsamkeit der Wiederverwertung
stimuliert. Die
rastlose
Dynamik des Komparativs und die mit ihr gekoppelten Glückseffekte werden mit
Hilfe einzelner Maschinen des Glücks geschürt, kontrolliert und in Grenzen
gehalten. Solche Maschinen sind für den Bereich der Produkte die Werbung, für
den der Körper die Sexualität und für den Bereich der Exotik der Tourismus. Es
gibt zahlreiche andere Maschinen des Glücks, wie das Star-System, das
Lottospiel, das Internet, die Börse. Letztlich aber laufen in der Welt des
entfesselten Komparativs alle Bewegungs- und Kraftlinien auf das Glück selbst
hinaus, das wie eine Vernetzung und Koordinierung der einzelnen Maschinen des
Glücks funktioniert. In den weniger als 250 Jahren seit der Industriellen
Revolution hat sich nicht nur die Welt der Produktions- und
Dienstleistungsmittel in eine große Maschine verwandelt, sondern die Macht
selbst, einschließlich der Macht des Glücks.
Alle diese Glücksmaschinen,
angefangen mit dem schlichten Glücksrad bis hin zum Räderwerk des Glücks;
brauchen Ziele, um überhaupt in Gang zu kommen. Sie stellen zwar Schleifen und
Prozeduren zur Erlangung von Zielen bereit. Aber die Ziele selbst müssen erst
produziert werden, immer neue Ziele, die jeweils als das Glück an sich
identifiziert werden müssen, damit die Maschinen des Glücks in Bewegung geraten.
Im Kontext des modernen Lebens handelt es sich dabei insgesamt um die Ziele des
unbegrenzten Konsums. Das Glück des unbegrenzten Konsums der Produkte bewegt die
Werbungsmaschine. Das Glück des unbegrenzten Konsums der Fremdheit bewegt die
Tourismusmaschine. Das Glück des unbegrenzten Konsums der Körper bewegt die
Sexualitätsmaschine. Jedes Mal wird das Glück mit der Möglichkeit eines
unbegrenzten Konsums identifiziert. Die moderne Seligkeit entzündet sich nicht
an der Unbegrenztheit Gottes, sondern an der unerschöpflichen Konsumtiefe der
Produkte, der fremden Räume, der Körper. An die Stelle der Unendlichkeit Gottes
ist die endlose Konsumierbarkeit der Dinge getreten.
Solange wir uns den
Zielen zuwenden, rattern also die Glücksmaschinen. Aber wir stehen nicht nur im
Sog der Ziele, sondern auch in dem des Augenblicks. Auf unseren vielfältigen von
den Glücksmaschinen entworfenen Wegen beschattet uns der Augenblick wie unser
höchst persönlicher Abgrund. Darin uns zu verlieren versetzt uns einerseits in
Panik, denn wir befinden uns diesseits der Glücksmaschinen, mit einem Schlag von
ihnen verlassen, in unbekanntem Fahrwasser und ganz auf uns gestellt, auf ein
"uns", das gerade im Begriff ist, uns zu entgleiten und sich neu zu ordnen.
Andererseits aber erleben wir eine ungeahnte Freiheit, denn die engen Mauern
unserer alltäglichen und von den Glücksmaschinen festgelegten Identität lockern
sich erst im Raum des Augenblicks, der die Möglichkeit freigibt, dass uns ganz
andere Dinge geschehen können, als wir je vermutet haben. Aus den Tiefen des
Augenblicks steigt ein spontaner und fast naturwüchsiger Widerstand gegen die
Glücksmaschinen auf. Von dorther wird unseren Absichten und Strategien ein
Strich durch die Rechnung gemacht. Der Einblick ist die elementarste Quelle der
sozialen Entropie.
Deshalb erscheint er wie ein Loch in der Zeit der
Glücksmaschinen. Er ist die Brutstätte der unfreiwilligen Pausen und zu seinen
Grundmerkmalen gehört die Plötzlichkeit. Plötzlich klafft der Augenblick auf und
zieht uns in seinen Strudel, wenn der Strom ausfällt, der Computer abstürzt, das
Auto auf Glatteis ins Schleudern gerät, aber auch wenn wir uns verlieben oder im
Lotto gewinnen. Aus den Tiefen des Augenblicks schlägt uns unverdienter
Schrecken wie unverdientes Glück entgegen, sodass wir mitten auf der Jagd nach
dem Glück stolpern und aus dem vertrauten Gesichtskreis von Schuld und Sühne
herausfallen. Deshalb bietet der Augenblick wahrscheinlich die einzige wirklich
moralfreie Zone des Lebens. Er gibt sich gegenüber jeder Motivsuche taub,
blendet den Blick jeder psychologisierenden Vernunft und hält uns einen Spiegel
vor, in dem das archaische Drama unserer Existenz mit ihrem grundlosen Aufstieg
und Scheitern offenbar wird.
Deshalb räumen alle archaischen Gesellschaften dem Augenblick eine privilegierte
Stellung ein. Jedes Fest feiert einen kosmischen Augenblick, besonders das Neujahrsfest,
das den Weltschöpfungsakt wiederholen und damit die Welt erneuern und die lineare
Zeit vernichten soll. Das babylonische Neujahrsfest, der Ursprung der späteren
Karnevalszüge, die bis zur Renaissance Europa alljährlich heimsuchten, ging
auf ein Loch in der astrologischen Zeitrechnung zurück. Die zwölf Mondzyklen
gingen in dem einen Sonnenzyklus nicht auf. Das Entsetzen der astrologischen
Vernunft führte zur Einrichtung eines ausgezeichneten Augenblicks oder einer
Pause zwischen zwei aufeinander folgenden Jahren, eines Interregnums, in dem
der Schrecken und das Lachen sich vermischen und die vertrauten Ordnungen auf
den Kopf gestellt werden durften. In den modernen Gesellschaften ist der Augenblick
sich selbst überlassen. Die Feste
nehmen einen beliebigen Platz im Kalender ein und ihre sinnlose Mechanik
überlagert ihre archaischen Ursprünge. Der Augenblick, zu dem es keinen kollektiven
Zugang mehr gibt, ist eine kaum noch vernehmliche Privatsache geworden.
(Aus "Die Macht des Glücks" von Pravu Mazumdar.)
Das Glück lockt uns mehr denn je, aber
das Erlebnis des Augenblicks, der verweilen soll, verblasst zusehends. Es
scheint, als ob die Menschen in immer rascherem Tempo nach dem Glück jagen und
doch nie ans Ziel kommen, ja sogar den Moment des Glücks nicht mehr genießen
können. Aber was ist das Glück? Ist es eher eine Glückssache, im wörtlichen
Sinne, eine Sache des glücklichen Zufalls, die letztlich nicht erarbeitet, aber
vorbereitet werden kann?
Pravu Mazumdar hat für unsere Zeit verschiedene
"Glücksmaschinen" - Sexualität, Werbung, Tourismus - ausgemacht und befasst sich
mit ihrer Entwicklung und Wirkung auf die Menschen. Er plädiert für die
Glückssache, wagt den Entwurf einer "Glücksformel", und legt schließlich
Bausteine einer Glückskunst vor.
Buch
bestellen