(...) Margarita
Nikolajewna saß vor dem Spiegel, sie trug nur einen Bademantel auf dem nackten
Körper und schwarze Wildlederschuhe. Die goldene Armbanduhr lag vor ihr neben
dem Golddöschen von Asasello, und Margarita ließ kein Auge vom Zifferblatt.
Zeitweilig hatte sie das Gefühl, dass die Uhr kaputt sei und die Zeiger stillstünden.
Aber sie bewegten sich, wenn auch sehr langsam und scheinbar klebend, und endlich
erreichte der große Zeiger die neunundzwanzigste Minute der zehnten Stunde.
Margaritas Herz tat einen harten Schlag, so dass sie nicht sofort nach dem Döschen
greifen konnte. Sie bezwang sich jedoch, öffnete es und erblickte eine fettige,
gelbliche Creme, die nach Sumpfschlamm zu riechen schien. Mit der Fingerspitze
strich sie sich etwas davon auf die Hand, wodurch der
Geruch
nach Wald und Sumpfpflanzen noch stärker wurde, dann verrieb sie sie auf
Stirn und Wangen.
Die Creme trug sich leicht auf und schien sofort einzuziehen. Nach einigen Reibungen
blickte Margarita in den Spiegel und ließ die Dose auf das Uhrglas fallen, das
sich mit Rissen überzog. Sie schloss die Augen, blickte nochmals in den Spiegel
und brach in stürmisches Gelächter aus.
Die mit der Pinzette schmal gezupften Augenbrauen hatten sich verdichtet und
lagen als gleichmäßige Bögen über den grün gewordenen Augen. Die dünne senkrechte
Kerbe über der Nasenwurzel, entstanden im Oktober, als der Meister verscholl,
war spurlos verschwunden. Verschwunden waren auch die gelblichen Schatten an
den Schläfen und die beiden kaum wahrnehmbaren Faltennetze an den äußeren Augenwinkeln.
Die Wangenhaut war von gleichmäßigem Rosa, die Stirn weiß und klar, und die
Friseurlocken hatten sich geglättet.
Der dreißigjährigen Margarita blickte aus dem
Spiegel
eine Frau von etwa zwanzig mit naturgewelltem schwarzem Haar entgegen, die unablässig
lachte und die Zähne zeigte.
Nachdem Margarita sich satt gelacht hatte, schlüpfte sie mit einem Ruck aus
dem Bademantel, schöpfte reichlich von der leichten Fettcreme und verrieb sie
mit kräftigen Bewegungen auf dem Körper. Im Nu beruhigte sich, als hätte man
ihr eine Nadel aus dem Gehirn gezogen, ihre Schläfe, die den ganzen Tag seit
dem Treffen im Alexandergarten geschmerzt hatte, die Arm- und Beinmuskeln kräftigten
sich, dann wurde ihr Körper gewichtslos.
Sie sprang in die Höhe und schwebte über dem Teppich, dann sank sie langsam
wieder herab.
"Eine tolle Creme! Eine tolle Creme!" schrie sie und warf sich in
den Sessel.
Die Einreibung hatte sie nicht nur äußerlich verändert. In jeder Faser ihres
Körpers brodelte die Freude gleich prickelnden Bläschen. Margarita fühlte sich
frei, frei von allem. Außerdem begriff sie mit aller Klarheit, dass genau das
eingetreten war, was das Vorgefühl ihr am Morgen geweissagt hatte, und dass
sie die Villa und ihr bisheriges Leben für immer aufgeben würde. Aber von dem
früheren Leben bohrte in ihr noch der Gedanke, dass sie eine letzte Pflicht
zu erfüllen hatte vor dem Beginn des Neuen, Ungewöhnlichen, das sie in die Luft
emporzog. Nackt, wie sie war, lief sie aus dem Schlafzimmer hinüber ins Arbeitszimmer
ihres Mannes, wobei sie immer wieder emporschwebte. Hier riss sie ein Blatt
vom Notizblock und schrieb mit Bleistift rasch mit großen Buchstaben die Mitteilung:
"Verzeih mir und vergiss mich so schnell wie möglich. Ich verlasse dich
für immer. Suche nicht nach mir, das wäre nutzlos. Ich bin eine Hexe geworden
vor Kummer und Nöten, die über mich hereingebrochen sind. Ich muss weg. Leb
wohl. Margarita."
Mit erleichtertem Herzen flog Margarita zurück ins Schlafzimmer, und gleich
nach ihr kam, mit Sachen beladen, Natascha hereingelaufen. Sofort ließ sie die
Sachen - ein Kleid am Holzbügel, Spitzentücher, blaue Seidenschuhe auf Spannern
und einen Gürtel - zu Boden fallen und schlug die Hände überm Kopf zusammen.
"Na, gefalle ich dir?" schrie Margarita Nikolajewna heiser.
"Wie ist denn das möglich?" flüsterte Natascha und wich zurück. "Wie
machen Sie das, Margarita Nikolajewna?"
"Das ist die Creme! Die Creme, die Creme!" antwortete Margarita, zeigte
auf das funkelnde Golddöschen und drehte sich vorm Spiegel.
Natascha vergaß das zerdrückte Kleid auf dem Fußboden, lief zum Spiegel und
starrte mit gierig funkelnden Augen auf den Cremerest. Ihre Lippen flüsterten
etwas. Wieder wandte sie sich Margarita zu und sagte andächtig: "So eine
Haut! So was von Haut! Margarita Nikolajewna, die leuchtet ja richtig!"
Sie besann sich, lief zum Kleid, hob es auf und schüttelte es aus. (...)
In diesem Moment schrillte hinter Margarita im Schlafzimmer das Telefon. Sofort
vergaß sie Nikolai Iwanowitsch, schnellte sich vom Fensterbrett und nahm den
Hörer ab.
"Hier Asasello", sagte es im Hörer.
"Lieber, lieber Asasello", rief Margarita.
"Es ist soweit. Fliegen Sie los", sprach Asasello in den Hörer, und
seinem Ton war anzumerken, dass ihr ehrlicher Freudenausbruch ihn freute. "Wenn
Sie übers Tor fliegen, rufen Sie laut 'unsichtbar'. Fliegen Sie dann erst ein
Weilchen über die Stadt, um sich ein bisschen zu gewöhnen, dann nach Süden,
weg von der Stadt, direkt zum Fluss. Sie werden erwartet!"
Margarita hängte auf, und schon hörte sie aus dem Nebenzimmer ein hölzernes
Hinken und ein Klopfen an der Tür. Sie öffnete, und der Stubenbesen kam, die
Borsten vorneweg, tänzelnd ins Zimmer geflogen. Der Stiel trommelte einen Wirbel
auf den Fußboden, dann legte sich der Besen hin und schlug zum Fenster hin aus.
Margarita kreischte vor Begeisterung und sprang rittlings auf den Stiel. Erst
jetzt durchblitzte sie der Gedanke, dass sie in all dem Durcheinander vergessen
hatte, sich anzuziehen. Sie galoppierte zum Bett, ergriff das erste, was ihr
in die Hand fiel, ein blaues Hemdchen, schwenkte es wie eine Standarte und flog
zum Fenster hinaus. Und der Walzer überm Garten dröhnte noch lauter. Vom Fenster
glitt Margarita abwärts und erblickte Nikolai Iwanowitsch auf der Bank. Der
war völlig erstarrt und horchte, wie vor den Kopf geschlagen, auf das Geschrei
und Gepolter aus dem erleuchteten Schlafzimmer der oberen Mieter.
"Adieu, Nikolai Iwanowitsch!" schrie Margarita und tänzelte vor ihm
auf und ab.
Nikolai Iwanowitsch stöhnte, schob sich, Hand über Hand greifend, die Bank entlang
und stieß dabei seine Aktentasche herunter.
"Adieu für immer! Ich fliege weg!" überschrie Margarita den Walzer.
Dann kam ihr zum Bewusstsein, dass sie das Hemd gar nicht mehr brauchte. Mit
bösem Lachen warf sie es Nikolai Iwanowitsch über den Kopf. Geblendet stürzte
er von der Bank und krachte auf den ziegelsteingepflasterten Gartenweg.
Margarita drehte sich um, sie wollte einen letzten Blick auf die Villa werfen,
in der sie so lange gelitten hatte. Im hellerleuchteten Fenster erblickte sie
das vor Verblüffung verzerrte Gesicht Nataschas.
"Leb wohl, Natascha!" schrie Margarita und riss den Besen hoch. "Unsichtbar!
Unsichtbar!" schrie sie noch lauter und flog zwischen den Zweigen des
Ahorns,
die ihr ins Gesicht peitschten, über das Tor in die Gasse. Ihr nach flog der
wie wahnsinnig tobende Walzer. (...)
Aus dem Roman "Der Meister und Margarita"
von Michail Bulgakow
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