Leseprobe aus "Piranesis
Zukunft. Essays
zu Literatur und Kunst"
von Martin Meyer
Philosophie
wird zumeist als
Wahrheitssuche verstanden. Daher wird sie in unserer Zeit auch selten
praktiziert - und zwar aus zwei Gründen. Erstens kommt man
durch das Studium
der Philosophiegeschichte meistens zu dem Schluss, dass die Wahrheit
unerreichbar ist und es deswegen auch wenig sinnvoll ist, sich auf die
Suche
nach ihr zu begeben. Und zweitens hat man das Gefühl, dass es,
wenn es die
Wahrheit doch gäbe, nur die halbe Sache wäre, sie zu
finden. Viel schwieriger
wird es, die gefundene Wahrheit zu verkaufen, um davon in
einigermaßen
gesicherten Verhältnissen leben zu können. Und an
dieser Aufgabe kommt man
erfahrungsgemäß nicht vorbei. Der heutige
Wahrheitsmarkt scheint mehr als
saturiert zu sein. Der potenzielle Wahrheitskonsument wird mit dem
gleichen
Überfluss konfrontiert wie
der Konsument in anderen
Marktsegmenten. Wir werden
von allen Seiten von Wahrheitswerbung regelrecht attackiert. Wahrheiten
finden
wir überall und in allen Medien, seien es wissenschaftliche,
religiöse,
politische oder lebenspraktische Wahrheiten. So rechnet sich der
Wahrheitssuchende geringe Chancen aus, den Schatz, den er
möglicherweise
findet, unter die Leute zu bringen - und gibt seine Suche rechtzeitig
auf. Was
die Wahrheit anbelangt, so ist der heutige Mensch also gleichzeitig mit
zwei
Grundüberzeugungen ausgestattet: dass es keine Wahrheit gibt
und dass es zuviel
Wahrheit gibt. Diese zwei Überzeugungen scheinen sich zu
widersprechen, aber
sie führen beide zur gleichen Schlussfolgerung: Wahrheitssuche
ist kein gutes
Geschäft.
Nun ist diese Szene, wie sie als die Szene der heutigen Wahrheitssuche
beschrieben wurde, zugleich die Urszene der Philosophie. Im Kleinformat
konnte
man diese Szene auf der griechischen Agora beobachten, zu der Zeit, als
der
erste vorbildliche Wahrheitskonsument, nämlich Sokrates, damit
begann, das
damals auf dem Markt vorhandene Wahrheitsangebot zu
überprüfen. Es waren die
Sophisten, die behaupteten, Wahrheiten gefunden zu haben. Sie boten
diese
Wahrheiten zum Verkauf an. Sokrates aber definierte sich bekanntlich
nicht als
Sophist, sondern als Philosoph, d. h. als derjenige, der die Wahrheit
(die
Weisheit, das Wissen, die Sophia) liebt, aber nicht besitzt. Oder,
anders
gesagt: als derjenige, der zwar keine Wahrheit zum Verkauf hat, aber
zugleich
gerne bereit ist, Wahrheit zu erwerben, wenn er überzeugt
werden kann, dass es
sich dabei tatsächlich um die Wahrheit und nicht
bloß um einen Schein von
Wahrheit handelt. Der Wechsel von der Position des Sophisten zur
Position des
Philosophen ist der Wechsel von der Wahrheitsproduktion zum
Wahrheitskonsum. Der
Philosoph ist kein Wahrheitsproduzent. Er ist auch kein
Wahrheitssuchender in
dem Sinne, in dem es Schatzsuchende oder Rohstoffsuchende gibt. Der
Philosoph
ist ein einfacher Mensch von der Straße, der sich im globalen
Supermarkt der
Wahrheiten verirrt hat - und der jetzt versucht, sich dort
zurechtzufinden, um
zumindest den Wegweiser zum Ausgang zu finden.
Oft wird beklagt, die Philosophie habe sich im Lauf ihrer Geschichte
nicht
entwickelt - dass sie keine Ergebnisse hervorbringe, keinen Fortschritt
aufweise. Nun wäre es absolut verheerend, wenn sich die
Philosophie historisch
entwickeln würde, denn die Situation des Wahrheitsproduzenten
verändert sich
zwar mit der Zeit, aber die Situation des Wahrheitskonsumenten bleibt
immer die
gleiche. Nur das Wahrheitsangebot ändert sich - nicht aber die
Ratlosigkeit
des Konsumenten angesichts dieses Angebots. Jede "authentische"
Philosophie
ist nichts anderes als die sprachliche Artikulation dieser
Ratlosigkeit. Warum
soll dann diese Ratlosigkeit überhaupt artikuliert und
formuliert werden, warum
nicht einfach stumm bleiben?
Und in der Tat bietet
Sokrates das uns ohnehin vertraute Bild eines
missgünstigen, chronisch unzufriedenen, permanent
schlechtgelaunten und
streitsüchtigen Konsumenten. Immer, wenn Sokrates den
schönen Reden der
Sophisten zuhört, zerstört er die gute Stimmung,
indem er in diesen Reden
irgendwelche logische Defizite und Unzulänglichkeiten findet,
die sonst
niemanden interessieren oder gar stören. Solche Figuren
begegnen uns übrigens
auch oft im Alltag - in Geschäften, Hotels und Restaurants.
Sie sind immer
unzufrieden, beginnen gern Streit mit dem Personal und gehen anderen
Konsumenten
mächtig auf die Nerven. Unwillkürlich sehnt man sich
angesichts solch
ärgerlicher und nervender Gestalten nach den guten alten
Zeiten zurück, in
denen man solche Gestalten mit Hilfe eines Schierlingsbechers schnell
beruhigen
konnte.
Darüber hinaus scheint die kritische Argumentation im Fall
Sokrates' höchst
ambivalent zu sein. Wenn man Sokrates zuhört, wird in dem
einzelnen Fall nicht
vollständig klar, ob er als ein kritischer Konsument auftritt,
der das hier und
jetzt vorhandene Wahrheitsangebot kritisiert, aber die Hoffnung nicht
aufgibt,
dass er doch irgendwann mit der wahren Wahrheit konfrontiert werden
könnte.
Oder ob er es grundsätzlich ablehnt, die Wahrheit als Ware zu
behandeln und auf
den Markt zu bringen. Vieles deutet darauf hin, dass die letzte
Vermutung
plausibler ist. Sokrates ist der eigentliche Erfinder der Marktkritik.
Die
bloße Tatsache, dass ein bestimmtes Wahrheitsangebot als Ware
im Rahmen der
Marktökonomie fungiert, reicht Sokrates im Grunde schon aus,
um dieses Angebot
abzulehnen. Die Freilegung aller anderen Unzulänglichkeiten
und Widersprüche,
die Sokrates in jedem einzelnen Wahrheitsangebot außerdem
entdeckt, ist
vielleicht per se lehrreich und spannend, aber für den
allgemeinen Gestus der
Ablehnung im Grunde überflüssig. Die Feststellung der
Kommerzialisierung einer
Wahrheitslehre, die Einsicht in die Warenförmigkeit der
entsprechenden
Wahrheit, die Entdeckung der ökonomischen Interessen, die
hinter der
Formulierung und Verbreitung dieser Lehre stecken, genügen, um
den
Wahrheitsanspruch dieser Wahrheitslehre abzulehnen. Von Sokrates
über Marx bis
zur Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz gilt, dass die Wahrheit,
wenn sie
als Ware auftritt, keine Wahrheit ist. Und das bedeutet eigentlich,
dass es
überhaupt keine Wahrheit gibt, denn unter den Bedingungen der
Marktökonomie
kann sich keine Wahrheitslehre dem Status der Ware entziehen. Es bleibt
zwar die
oft postulierte "schwache messianische Hoffnung" auf das Aufkommen der
Wahrheit jenseits der Wahrheit - einer absolut anderen Wahrheit, die
nicht
einmal als Wahrheit auftreten würde, nicht als Lehre, nicht
als Buch, nicht als
Theorie, nicht als Methode, nicht einmal bewusst oder unbewusst, und
die sich so
ihrer möglichen Kommerzialisierung grundsätzlich
entziehen würde. Aber
offenbar wird diese Hoffnung nur postuliert, um immer wieder
enttäuscht zu
werden.
Diese Hoffnung ist übrigens schon bei Platon zu
diagnostizieren. In seinem
Höhlengleichnis beschreibt er die Figur eines
Wahrheitssuchenden, dem es
gelungen ist, die Wahrheit zu sehen, und der zu den Menschen
zurückkehrt, um
ihnen über sein Erlebnis zu berichten. Im
Höhlengleichnis handelt es sich also
nicht um einen Philosophen, wie oft behauptet wird (denn dem
Philosophen ist die
Betrachtung der Wahrheit verwehrt), sondern um einen Sophisten - aber
um
einen, wie man so sagen darf, wahren Sophisten, der die Wahrheit
tatsächlich
gesehen hat. Doch gerade weil er sie gesehen hat, ist er von der
Wahrheit
dermaßen geblendet und überwältigt, dass es
ihm die für Sophisten typischen,
glatten, wohl durchdachten, schön klingenden Reden
verschleißt. Dieser Sophist
ist ein ungeschickter, tollpatschiger Sophist - und zwar gerade
deswegen, weil
er ein wahrer Sophist ist. Daher bringen die Menschen, die vom
Sophisten eine
bestimmte Geschicklichkeit in der Ausübung seines Berufs
erwarten, ihn auch um.
Dieser tollpatschige Sophist ist das Vorbild nicht nur für die
Figur des
Gottessohns, der gerade, weil er der wahre Gottessohn ist, am Kreuz
endet,
sondern auch für alle romantischen Künstler, Dichter
und Revolutionäre, die
gerade deswegen als wahre Künstler, Dichter und
Revolutionäre gelten wollen,
weil sie nicht richtig malen, dichten und gelungene Revolutionen
veranstalten
können. Inzwischen aber wissen wir, dass auch das kalkulierte
Scheitern eine
Ware sein kann und ist. Und um die kritische Diagnose nicht
unvollständig zu
lassen: Auch diese Diagnose selbst entzieht sich nicht der Warenform.
Die philosophische Kritik hat also dazu geführt, dass jede
Wahrheit als Ware
identifiziert und damit auch diskreditiert wird. Dieses Ergebnis
lässt
allerdings einen anderen Verdacht aufkommen: Ist es nicht die
Philosophie
selbst, die jede Wahrheit in eine Ware verwandelt? Und in der Tat: Die
philosophische Einstellung ist eine passive, kontemplative, kritische
und somit
letztendlich konsumistische Einstellung. Im Licht dieser Einstellung
erscheint
alles Vorhandene als Warenangebot, das man auf seine Tauglichkeit
prüfen soll,
um es eventuell zu erwerben. Nehmen wir aber an, dass der Mensch keine
Zeit mehr
verwenden wird, um diesen Prüfungsvorgang
durchzuführen, sondern einfach das
nimmt, was ihm per Zufall in die Hände kommt: Bekanntschaften,
Verliebtheiten,
Bücher, Gespräche, Theorien, Religionen,
Autoritäten und Wahrheiten. In
diesem Fall verliert die Wahrheit ihre Warenform, denn sie wird nicht
überprüft, sondern praktiziert - so wie man die
Atmung praktiziert, indem
man die Luft einatmet, die einen gerade umgibt. Unter
Umständen kann die Luft,
die man atmet, auch tödlich sein, aber nicht zu atmen ist
bekanntlich auch
tödlich. In beiden Fällen kann man also kein
distanziertes, kontemplatives,
kritisches, konsumistisches Verhalten zur Atmung entwickeln - man atmet
nämlich auch in der Zeit, in der man ein neues Gerät
fürs Air Conditioning
kauft.
Aus dieser Einsicht entstand ein neuer Zweig der Philosophie, den man
in
Analogie zur Anti-Kunst als Anti-Philosophie bezeichnen kann. Diese
Wende, die
mit Marx und
Kierkegaard beginnt, operiert nicht mit Kritik, sondern
mit Befehl.
Es wird befohlen, die Welt zu verändern, statt sie zu
erklären. Es wird
befohlen, zum Tier zu werden, statt nachzudenken. Es wird befohlen,
alle
philosophischen Fragen zu verbieten und über das zu schweigen,
was nicht gesagt
werden kann. Es wird befohlen, den eigenen Körper in einen
Körper ohne Organe
zu verwandeln und rhizomatisch statt logisch zu denken etc. Alle diese
Befehle
wurden erteilt, um die Philosophie als ultimative Quelle der
konsumistischen,
kritischen Einstellung abzuschaffen und dadurch die Wahrheit aus ihrer
Warenförmigkeit zu befreien. Denn einem Befehl Folge zu
leisten oder sich ihm
zu verweigern ist etwas ganz anderes, als eine Wahrheitslehre infolge
einer
kritischen Untersuchung zu bejahen oder zu verwerfen. Die
Grundvoraussetzung der
befehlsgebenden (Anti-)Philosophie besteht nämlich darin, dass
sich die
Wahrheit erst zeigt, wenn der Befehl erfüllt wird: Erst muss
die Welt
verändert werden, dann zeigt sie sich in ihrer Wahrheit. Erst
muss der Sprung
des Glaubens erfolgen, dann manifestiert sich die Wahrheit der Religion
etc.
Oder, um zu Platon zurückzukehren: Erst muss man aus der
Höhle hinaustreten - dann sieht man die Wahrheit. Es handelt
sich hier um eine Wahl vor der Wahl,
um eine Entscheidung im Dunklen, die jeder möglichen Kritik
vorausgeht, da sich
das Objekt dieser Kritik erst infolge dieser Entscheidung zeigt - und
zwar
allein infolge der Entscheidung zur Erfüllung des Befehls.
Eine Entscheidung
zur Verweigerung des Befehls lässt einen dagegen für
alle Zeiten im Dunklen - man kann nicht einmal kritisch sein, denn man
weiß nicht, was man
überhaupt kritisieren soll. Somit zeichnet sich die
Entscheidung zwischen
Befehlserfüllung und Befehlsverweigerung sowohl durch ihre
Unausweichlichkeit
aus wie auch durch ihre Dringlichkeit, die keine Zeit zur Pflege einer
ruhigen,
kritischen, konsumistischen Einstellung lassen. Es handelt sich hier
nämlich um
keine rein philosophische, sondern um eine Lebensentscheidung, die
nicht vertagt
werden kann, weil das Leben dafür zu kurz ist.
Diese anti-philosophische Wende innerhalb der Philosophie selbst ist
nicht ohne
Konsequenzen geblieben. Jeder, der heute Philosophie unterrichtet oder
über
Philosophie schreibt, weiß: Wir leben in Zeiten, in denen
jede kritische
Einstellung, sei es im Bereich der Politik, der Kunst oder der
richtigen
Ernährung, das Publikum bloß irritiert - und von ihm
quasi reflexartig
abgelehnt wird. Der Grund dafür liegt freilich nicht darin,
dass in letzter
Zeit die "affirmative" Welteinstellung, das innere
Einverständnis mit
dem allgemeinen Verblendungszusammenhang oder die Akzeptanz der
herrschenden
Verhältnisse plötzlich eine unwidersprochene
Hegemonie im öffentlichen
Bewusstsein erlangt hätten. Der heutige Leser glaubt nicht
daran, was in einem
Text wie auch in allen anderen Medien steht, und hat nicht einmal vor,
daran zu
glauben - gerade deswegen hat er auch keine Veranlassung, diesen Text
oder
diese Medien zu kritisieren. Vielmehr tut er das, was dort steht - oder
er tut
es eben nicht. Texte werden heutzutage nicht analysiert, sondern als
Handlungsanweisungen wahrgenommen, die man praktisch umsetzen kann,
falls man
sich dazu entschließt. Texte, die solche Anweisungen explizit
enthalten, liest
man besonders gern: Es sind Bücher mit Kochrezepten, mit
Garten- und Maltipps,
Bücher über richtige Marktstrategien, Anleitungen zur
Bekämpfung des
amerikanischen Imperiums mit Hilfe von "Multitudes",
zur Herstellung
des zeitgemäßen Images eines
linken oder rechten Aktivisten etc. Aber auch
andere Bücher, die keine solchen klaren Anweisungen geben,
werden zunehmend als
Anleitungen für ein bestimmtes Verhalten gelesen. Der Leser
dieser Bücher, der
den entsprechenden Anweisungen folgt, fühlt sich durch jede
Kritik an diesen
Büchern notwendigerweise persönlich getroffen - und
lehnt jede kritische
Einstellung zu ihnen ab. Und er lehnt auch jede Kritik an den Texten
ab, denen
er selber nicht folgt - und zwar aus Gründen des Anstands und
der Toleranz,
d.h. um diejenigen nicht unnötig zu verletzen, die diesen
Texten folgen. In
beiden Fällen fühlt das Publikum, dass jede Kritik an
einem Text ungerecht
ist, weil sie an der Sache vorbeizielt. Diese Sache ist
nämlich nicht der Text
selbst, sondern das, was der Einzelne in seinem eigenen Leben daraus
gemacht hat
und macht. So wie unterschiedliche Menschen aus dem Koran
unterschiedliche
Schlüsse ziehen - und somit jede Kritik am Koran als Text
unnötig und
eigentlich unmöglich machen. Oder so wie Künstler oft
kontern, wenn man in
ihrer Anwesenheit eine Theorie kritisiert: Du hast wahrscheinlich
recht, und es
ist eine blöde Theorie, aber ich habe gute Sachen gemacht, als
ich sie gelesen
habe - und deswegen glaube ich daran und möchte mir deine
Kritik nicht weiter
anhören. Wenn der Text als solcher nicht mehr als Ort
verstanden wird, an dem
die Wahrheit erscheint, um sich dem kritischen Leser darzubieten,
sondern nur
als Summe von Anweisungen für einen Leser, der aufgerufen
wird, zu handeln
statt zu denken, dann wird allein die Art und Weise relevant, auf
welche der
Leser diese Anweisungen in seiner Lebensführung umsetzt. Diese
kann man aber
nicht kritisieren, denn das Leben selbst beginnt hier als oberster
Richter zu
fungieren.
Der Leser meiner Essays, die in diesem Band versammelt sind, wird
merken, dass
alle Helden dieser Essays moderne befehlsgebende Autoren sind. Sie sind
allesamt
Anti-Philosophen. Die Essays selbst geben allerdings keine Anweisungen
- und
können im Sinne der heute herrschenden Post-Anti-Philosophie
nur enttäuschen.
Gleichzeitig vollziehen diese Essays aber auch keine Rückkehr
zur Tradition der
philosophischen Kritik. Vielmehr ist die Haltung des Autors in diesem
Fall eine
wohlwollend-beschreibende. Diese Haltung hat ihre Wurzeln in der
Phänomenologie
Husserls, der sich relativ früh die Frage gestellt hat, wie
man auf den neuen
befehlsgebenden Ton in der Philosophie reagieren soll, ohne dabei die
alten
Fehler der kritischen Philosophie zu wiederholen. So hat Husserl den
folgenden
Befehl erteilt: Bevor man überhaupt zu denken beginnt, hat man
die
phänomenologische Reduktion zu vollziehen. Die
phänomenologische Reduktion
besteht darin, dass ihr Subjekt von seinen eigenen Lebensinteressen,
inklusive dem Interesse an seinem eigenen Überleben,
gedanklich Abstand nimmt
und dadurch einen Horizont der Weltbetrachtung eröffnet, der
von den Nöten
seines empirischen Ichs nicht mehr verengt ist. Unter dieser breiten
phänomenologischen Perspektive gewinnt man die
Fähigkeit, allen Befehlen recht
zu geben, indem man beginnt, mit ihrer Erfüllung und ihrer
Verweigerung frei zu
experimentieren. Gleichzeitig sieht sich das Subjekt der
phänomenologischen
Reduktion nicht mehr genötigt, die Befehle, die es
empfängt, in seiner
Lebensführung umzusetzen oder, umgekehrt, sich ihnen zu
widersetzen, denn das
phänomenologische Ich denkt so, als ob es nicht lebte. Auf
diese Weise
errichtet man für sein phänomenologisches Ich ein
Reich des "als ob"
- eine imaginäre Perspektive des unendlichen Lebens, in der
alle
Lebensentscheidungen ihre Dringlichkeit verlieren, so dass sich die
Opposition
zwischen Befehlserfüllung und Befehlsverweigerung im
unendlichen Spiel der
Lebensmöglichkeiten auflöst. (...)
Martin
Meyer: "Piranesis Zukunft. Essays
zu Literatur und Kunst"
Hanser, 2009. 272 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Die
Welt des großen Zeichners
Piranesi ist eine Welt der Ruinen und der Labyrinthe. Wer heute seine
im Italien
des 18. Jahrhunderts entstandenen Veduten - etwa die "Carceri
d'Invenzione"
- betrachtet, dem drängen sich Assoziationen zur Gegenwart
auf. Martin Meyer,
der sich über die Schweiz hinaus einen Ruf als Universalist im
deutschsprachigen Feuilleton erworben hat, stellt eine
Piranesi-Interpretation
ins Zentrum seiner Essays. Von dort aus spannt er Verbindungslinien zu
Thomas
Mann, Heidegger und
Goya. Abstecher führen ihn bis zu "Tim und
Struppi": denn
auch sie gehören in einen Denkzusammenhang, der die Gegenwart
mit dem Wissen
von Kunst, Literatur und Philosophie konfrontiert.
Der Journalist, Publizist, Essayist und Buchautor Martin Meyer wurde
1951
geboren.