Eulenspiegel sah sich klüglich vor, als er nach Lübeck kam, und verhielt sich gebührlich, damit er dort niemandem einen Streich spielte, denn es herrschte in Lübeck ein strenges Recht. Nun war zu der Zeit im Ratskeller in Lübeck ein Weinzäpfer, der war ein sehr hochmütiger und stolzer Mann. Ihn dünkte, niemand sei so klug wie er. Er war dreist genug, von sich selber zu sagen und von sich sagen zu lassen: ihn gelüste es, den Mann zu sehen, der ihn betrügen und in seiner Klugheit überlisten könne. Darum war er bei vielen Bürgern unbeliebt.
Als nun Eulenspiegel von diesem Übermut des Weinzäpfers hörte, konnte er den Schalk nicht länger verbergen und dachte: das mußt du versuchen, was er kann. Und er nahm zwei Kannen, die beide gleich waren, und goß in eine Kanne Wasser und ließ die andere Kanne leer. Die Kanne, in der das Wasser war, trug er unter dem Rock verborgen, die leere trug er offen. Mit den Kannen ging er in den Weinkeller und ließ sich ein Maß Wein einmessen. Die Kanne mit dem Wein nahm er unter den Rock, zog die Kanne mit dem Wasser hervor und setzte sie auf die Zapfbank, ohne daß es der Weinzäpfer sah. Dann sprach er: "Weinzäpfer, was kostet das Maß Wein?" Der Weinzäpfer sagte: "Zehn Pfennige." Eulenspiegel sprach: "Der Wein ist mir zu teuer, ich habe nicht mehr als sechs Pfennige, kann ich ihn dafür haben?" Der Weinzäpfer wurde zornig und sagte: "Willst du meinen Ratsherren den Weinpreis vorschreiben? Das ist hier ein Kauf nach festgesetzten Preisen. Wem das nicht gefällt, der lasse den Wein im Ratskeller." Eulenspiegel sprach: "Das muß ich wohl lernen. Ich habe sechs Pfennige, wollt Ihr die nicht, so gießt den Wein wieder aus!"
Da nahm der Weinzäpfer in seinem Zorn die Kanne und meinte, es sei der Wein. Aber es war das Wasser, und er goß es oben zum Spundloch wieder hinein und sprach: "Was bist du für ein Tor! Lässest dir Wein einmessen und kannst ihn nicht bezahlen!" Eulenspiegel nahm die Kanne, ging hinaus und sagte: "Ich sehe wohl, daß du ein Tor bist. Es ist niemand so klug, daß er nicht von Toren betrogen würde, auch wenn er ein Weinzäpfer ist." Und damit ging er hinweg. Die Kanne mit dem Wein trug er unter dem Mantel, und die leere Kanne, in der das Wasser gewesen war, trug er offen.
(Aus: "Ein kurzweiliges Buch von Till Eulenspiegel aus
dem Lande Braunschweig." von Hermann Bote; um 1467 - um 1520)
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