Ein Schüler erzählt: "Mein Lehrer, Rabbi Jechiel Michal, hörte einmal in seinem Betstübchen zu Brody, wie ein Mann die sechshundertunddreizehn Gebote hersagte. Er sprach scherzend: 'Was sagt ihr nur die Gebote her! Die sind zum Erfüllen gegeben und nicht zum Hersagen.' Ich fragte ihn, was er damit meine; man müsse doch die Gebote auch lernen und lernen.'Man soll', anwortete er, 'bei jedem Gebot zu ergründen suchen, wie es erfüllt werden will. Laßt uns mit dem ersten aller Gebote beginnen: 'Seid fruchtbar und mehret euch!' Warum werden hier wohl zwei Zeitwörter statt eines verwandt?' Ich schwieg, weil ich mich schämte zu reden; als er aber seine Frage wiederholte, sagte ich: 'Raschi deutet es so: wenn es nur hieße: 'Seid fruchtbar!' könnte man meinen, einer solle stets einen zeugen.' 'Dann brauchte ja', wandte er ein, 'nur 'Mehret euch!' dazustehn.' Der Sohn des Rabbi Sußja von Hanipol, der dort betete, wies darauf hin, es heiße anderswo: 'Und ich will euch fruchtbar machen und will euch mehren!', auch hier stünden beide Zeitwörter nebeneinander. 'Auch dies ist schwierig', sagte Rabbi Michal und fragte mich wieder. Ich erwähnte, daß Raschi das Wort 'und will euch mehren' auf den aufrechten Wuchs deutet, der den Menschen von den Tieren unterscheide. 'Aber was hat das mit dem aufrechten Wuchs zu tun?' fragte der Rabbi. Ich wußte nichts zu antworten. Er sprach: 'Den Satz der Mischna, 'Wer auf dem Esel ritt, steige ab und bete', ist so ausgelegt worden: 'Wer das Tierische in sich meistert, kann davon Abstand nehmen, es zu unterdrücken, da er, in einem ewigen Gebet, mit allem, was er tut, Gott hingegeben und geweiht, vom Leibe frei geworden ist.' So kann der Mensch in der Welt das Körperliche tun, er kann die Begattung vollziehen, und mag er auch, von außen gesehen, die Bewegungen des Tiers ausführen, in seinem Innern ist er ein abgelöster Engel; denn er ist mit dem, was er tut, Gott hingegeben und geweiht. Dies ist es, was das Gebot meint: 'Seid fruchtbar, aber nicht wie die Tiere, sondern mehret euch', seid mehr als sie, geht nicht gebückt wie sie, sondern aufrechten Wuchses und haftet an Gott, wie der Zweig an der Wurzel haftet, und eure Begattung sei ihm geweiht. Dies ist Gottes Wille: er will uns nicht allein fruchtbar machen, sondern auch mehren.'


aus "Erzählungen der Chassidim"
übersetzt, kommentiert
und herausgegeben von Martin Buber