Leseprobe aus "Alphabet
meines Lebens"
von Juri Rytchëu
Solange
ich zurückdenken kann, gab es in unserer Jaranga
Bücher. Anfangs
war es eine ziemlich zerfledderte Bibel in russischer Sprache, die
schon fast
auseinanderfiel. Sie hatte meinem Großvater, dem
großen Schamanen Mletkin, gehört.
Meine Großmutter hütete sie eifersüchtig
und holte sie nur sehr selten
heraus, nur wenn ihr plötzlich in den Kopf kam, eine Revision
ihrer versteckten
Sachen zu machen. Dieses heilige Buch durfte niemand berühren,
obwohl sie
selbst nicht lesen konnte.
Dann tauchten bei meiner älteren Tante Lehrbücher
auf, und das
Erstaunlichste war, darunter gab es auch Bücher in
tschuktschischer Sprache.
Einige waren mit lateinischen Buchstaben gedruckt, und die erste Fibel
hieß
CELGYRALEKAL, was "Rotes Lesebuch" bedeutet. Diese Fibel war von den
ersten
Studenten des Instituts der Völker des Nordens
in Leningrad
zusammengestellt
worden, unter ihnen auch Landsleute von uns, Uëlener. Wir
kannten ihre Namen,
und die wenigen des Lesens und Schreibens mächtigen
Uëlener lasen mit
besonderer Genugtuung die Geschichten laut vor: Wie Wukwol einen Ball
wirft und
Tusyna Fellstiefel näht. Das hat mich stark beeindruckt. Mir
schien, als wären
unsere Menschen, die ich leibhaftig kannte, auf die Buchseiten
umgezogen und hätten
eine andere, wundersame Existenz begonnen.
Keine einzige Erfindung der Tangitan konnte meine Neugier so stark
erwecken
wie das Buch, das für mich ein Zauberbrunnen war, in den jeder
Mensch steigen
konnte, der des Lesens mächtig war. Als ich noch nicht zur
Schule ging und
keinen einzigen Buchstaben kannte, nahm ich gern ein Buch in die Hand,
spürte
die Schwere der auf den Seiten eingeschlossenen Buchstaben, Gedanken
und
Wortbilder, der ganzen, mir noch unzugänglichen Welt, in der
Menschen lebten,
die ich nicht kannte. Sie redeten miteinander, arbeiteten, unternahmen
Reisen,
entdeckten neue Länder, überwanden schwere Wege,
kletterten auf die Spitze
hoher Berge.
So wurde mein wichtigstes Motiv, das Lesen und Schreiben zu
beherrschen, der
Wunsch, so ein wundersames und rätselhaftes Buch aufzuschlagen
und in sein
Inneres zu schauen. In den ersten Klassen wurde der Unterricht vor
allem in
Tschuktschisch durchgeführt. Ich beherrschte die Schrift
ziemlich schnell.
Allerdings gab es nur wenige Bücher in meiner Muttersprache.
Ich erinnere mich
bis heute ganz genau an sie. Das war vor allem die prächtige
Ausgabe der
Verfassung der UdSSR im Taschenformat. Obwohl das Buch in die
tschuktschische
Sprache übersetzt worden war, konnte ich es nur sehr schwer
lesen und noch
weniger verstehen. Viele Wörter, die aussahen wie
tschuktschische, waren in
Wirklichkeit russische, tschuktschisch waren nur die Suffixe, die
Endungen. Die
tschuktschischen Wörter sahen sehr merkwürdig aus und
klangen auch
schrecklich, wenn sie überhaupt auszusprechen waren. Besonders
hässlich waren
die politischen Termini, von denen die Verfassung nur so wimmelte. Ich
habe
mehrmals versucht, die Verfassung der UdSSR zu lesen und zu verstehen,
ohne
Erfolg. Dafür las ich mit großem Vergnügen
und nicht nur ein Mal den Band mit
tschuktschischen Nomadenmärchen. Für mich war das wie
ein Wunder - meine
Muttersprache erklang von den Papierseiten. Und noch ein weiteres
wundervolles
Buch gab es: Die Abenteuer des
Baron Münchhausen.
Warum man gerade
dieses Buch für die Übersetzung ins Tschuktschische
ausgewählt hat, ist für
mich bis heute ein Rätsel geblieben.
Einmal hatte ich Riesenglück! Unter den Kisten, die vom
Dampfer geladen
wurden, waren auch einige mit Büchern! Das war eine reiche
Beute! Darunter
befanden sich Romane von Walter Scott, Dickens, Maupassant, ein
Erzählungsband
von Jack London, ein Band mit Stücken von
Anton
Tschechow, einige Bücher von
Maxim Gorki ... Ich entdeckte auch die prachtvollen Bände von
Brehms Tierleben.
All diese Bücher wurden in die Schulbibliothek gebracht und in
eilig
zusammengezimmerte Regale gestellt, die mit einfachen Platten aus
Furnierholz
verschlossen wurden. Diese Platten konnte man mühelos mit dem
Jagdmesser
herausnehmen, das am Gürtel jedes Uëlener Jungen
hing. Die
leidenschaftlichsten Bücherwürmer,
von denen ich wohl der Erste war, holten
sich die Bücher sofort aus den Schränken und stellten
sie, wenn sie sie
ausgelesen hatten, ordentlich wieder zurück.
Für mich begann eine glückliche Zeit des Leserauschs.
Ich wählte mir zwei
Orte, wo ich mich mit den Büchern verstecken konnte. Diese
verborgenen Plätze
waren für mich so etwas wie heimliche Lesestuben. Das erste
Versteck befand
sich in einer kleinen Senke, die von drei Seiten verschlossen war, die
vierte
Seite bot einen wundervollen Blick auf das Eismeer. Das Versteck lag
hinter dem
alten Leuchtturm auf der Anhöhe, darunter nisteten
Dickschnabellummen und
Seeschwalben. Das durchdringende Vogelgeschrei störte mich
kein bisschen beim
Lesen und bei meinen Traumreisen in ferne Welten, Länder und
Kontinente. Kaum
hatte ich eine Seite aufgeschlagen, trug mich der Wind des gedruckten
Wortes in
die Ferne. Die zweite heimliche Lesestube war eine alte,
löchrige Schaluppe,
die auf dem Kieselstrand lag. Ich machte es mir am Bug bequem, wo ich
nicht nur
vor fremden Augen geschützt war, sondern auch vor dem eisigen
Meereswind. Das
Rauschen der Wellen, ihr rhythmisches Aufschlagen begleiteten meine
Wanderungen
durch die Weiten der russischen Felder, unter großen
Bäumen, durch die
blutigen Schlachten mittelalterlicher Krieger, pompöse
Bälle in Palästen und
Schlössern, in denen auf glänzendem Parkett junge
schöne Frauen
dahinschlitterten wie auf dem Eis der gerade zugefrorenen
Uëlener Lagune.
Ehrbare Damen wurden von hochgewachsenen schönen
Männern in Uniform geführt,
ich bildete mir ein, sogar die Musik zu hören, und kein Rufen
der Walrosse und
kein Brausen der Walfontänen konnte sie
übertönen. (...)
Juri
Rytchëu: "Alphabet meines Lebens"
Mit Bildern aus Juri Rytchëus Familienalbum.
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Unionsverlag, 2010. 384 Seiten.
Buch
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Geboren in einer traditionellen Fellhütte am Polarkreis, geht er seinen Weg und bewahrt sich immer den wachen, heiteren, ironischen Blick auf die seltsamen Gebräuche der "zivilisierten" Welt. Juri Rytchëu erzählt persönlich, verschmitzt und anrührend darüber, was ihm, dem Tschuktschen aus dem äußersten Winkel Asiens, auf seiner Lebensreise widerfuhr.