Gottes verbotene Worte
"Sie werden lachen: die
Bibel!",
lautete die vielzitierte Antwort, die Bert Brecht 1928 auf die Frage nach dem
Buch gab, das ihn in seinem dreißigjährigen Leben am meisten beeindruckt habe.
Die überraschende Antwort entsprach der Wahrheit, Brecht - nicht gerade ein
begeisterter Schüler - genoß den Bibelunterricht des Pastors Paul Desser im
Augsburger Königlich Bayrischen Realgymnasium und hatte als Fünfzehnjähriger
ein Drama mit dem Titel Die Bibel verfaßt. Doch niemals in seinem Leben hatte
Brecht den Trost der Religion gesucht und die Kulturleistung, die in der Fixierung
des Monotheismus liegt, galt ihm wenig; den Stückeschreiber, dem auch eine Begeisterung
für Kriminalromane nachgesagt
wird, faszinierten - so sein Biograph Klaus Völker - "die drastischen Schilderungen
und das prächtige
Lutherdeutsch des Buches".
Lassen wir all die heiklen Fragen einer göttlichen Offenbarung der biblischen
Botschaft fürs erste beiseite und sprechen wir zunächst einmal von einem Buch,
einer Kollektivarbeit unzähliger Autoren, der Gattung nach eine Anthologie,
und zwar die berühmteste Anthologie aller Zeiten, deren Entstehungszeitraum
mehr als tausend Jahre umfaßt. Die Geschichte des Buchdrucks beginnt mit der
Bibel, sie darf wohl den Status des meistgedruckten Buches für sich beanspruchen
und ist heute in zahlreichen Versionen auch im Internet präsent. Druckquoten
und Verkaufszahlen sagen wenig über die tatsächliche Zahl der Leser eines Buches
aus; das gilt wohl auch für das "Buch der Bücher". Die Zeiten, wo die Bibel
als einziges Buch einer Haushaltung täglich (vor)gelesen wurde, sind lange vorbei,
doch das Buch hat sich in seiner großen Zeit einen heute noch wirksamen Einfluß
erobert und ist auch in unserer religiös lauen Zeit und selbst dort, wo seine
spirituelle Bedeutung mit allen ihren Konsequenzen geleugnet wird, ein Basistext
unserer westlichen Kultur. Die Botschaft der Bibel ist in untergründiger Form
selbst bei ihren Gegnern präsent - so gibt es etwa kaum eine politische Befreiungsphantasie,
die nicht Spuren des Mythos vom Exodus aufweist, die Botschaft der Bergpredigt
liegt zahlreichen konkurrierenden politischen Konzeptionen zugrunde, die Erlösungsidee
in ihrer trivialisierten Form steuert unser Verhalten gegenüber Konsumgütern,
und die protestantische Mentalität gilt als ein
Fundament
des Kapitalismus. In der Bibel konstituieren sich vielfältige Archetypen,
sie ist einer jener literarischen Orte, wo alles scheinbar das erste Mal geschieht:
die Schöpfung der Welt, der erste Verrat,
der
erste Mord, kollektive Rettung und Untergang. Was der Botschaft ihre Macht
gibt, ist das sie illustrierende Netz von Bildern und Geschichten, das uns alle
im Alltag umgibt und in der Hoch- und Populärkultur unentwegt reproduziert wird.
Es scheint, als ob es erst der Avantgarde gelungen wäre, Kunst von der vielfältigen
Bilderwelt der Mythologie im weitesten Sinne zu emanzipieren.
So gibt es also mehrere Wege zur Bibel: den Weg des Gläubigen, der die Botschaft
eines heiligen Textes in einer von der Amtskirche verkündeten Form oder in einer
ihr gegenüber dissidenten sucht, den Weg des kulturhistorisch Interessierten,
der den Einfluß des Christentums bis in seine private Existenz verfolgt, aber
auch den desjenigen, der - wie
Bert
Brecht - sich an einer Fülle von archaischen Erzählungen, Briefen und Reflexionen
erfreut. Dem Gläubigen kommt die Bibel von Gott, dem loyalen Mitglied einer
Amtskirche ist sie das Produkt der Kanonisierung, einer autoritativen Auswahl
unter den Texten, die sich mit prinzipiell biblischem Material beschäftigen.
Die Kanonisierung der Schriften beider Teile der Bibel war ein mehr als tausend
Jahre währender, folgenschwerer und bis heute mit zahlreichen Geheimnissen umgebener
Prozeß. Die Kanonisierung der alttestamentarischen Schriften der hebräischen
Bibel ereignete sich in etwa im Zeitraum von 300 bis 150 vor unserer Zeitrechnung,
die endgültige Festlegung des alttestamentarischen Kanons für Katholiken erfolgte
1545 während des Konzils von Trient. Der Kanon von Trient ist um sechs Bücher
- die sogenannten deuterokanonischen - weiter als der jüdische, er enthält auch
jene Schriften, die in den protestantischen Bibeln als "apokryph" bezeichnet
werden. "Apocrypha: das sind Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten/
vnd doch nützlich vnd gut zu lesen sind" - so Martin Luther. Die
Kanonisierung
der neutestamentlichen Schriften ist eng mit der Entwicklung des Römischen
Reiches, dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion und der Spaltung in
ein westliches und ein östliches Reich verbunden. Die heute gültige Kanonisierung
hat sich zunächst im Westen durchgesetzt, der Status des Neuen Testaments mit
seinen 27 Büchern war um 400 fixiert und wurde am Tridentinum bestätigt. Hinter
diesem bewußt farblos beschriebenen Prozeß verbergen sich Kämpfe, deren Ausmaß
das im Anhang unserer Edition abgedruckte Gelasianische Dekret verrät. Das Dekret
verwirft eine Unzahl von Autoren und Texten, schließt sie aus der Römischen
und Katholischen Kirche aus und verdammt ihre Verfasser und deren Anhänger "unter
der unauflöslichen Fessel des Anathema in Ewigkeit". Die aggressive Sprache
des Dekrets verrät uns: An vielen der apokryphen Texte klebt das Blut der Menschen,
die einstmals an sie geglaubt haben.
(Aus "Die Andere Bibel" von Alfred Pfabigan.)
(Eichborn)
Buch
bestellen