Das Weltbild von Amarna kennt keine
Götterwelt mehr, sondern nur noch den einen Gott. So können sich auch
Götterwelt und Menschenwelt nicht mehr spiegeln. Es gibt nur noch eine einzige
Welt, in der Gott handelt. Sein Handeln ist nicht mehr anthropomorph, sondern
anthropozentrisch; es richtet sich auf den König und die Menschen. Ihretwegen
geht er auf und unter, fährt über den Himmel und erfüllt die Erde mit Licht. Der
ganze Sonnenlauf ist eine Veranstaltung um der Menschen willen. Dieses Handeln
hat eben - im Horizont einer positiven Kosmologie - keinen
politisch-herrscherlichen, sondern nur noch kosmischen Sinn. Es geht um die
Belebung, und zwar in einem elementar natürlichen, vegetativen Sinne. Die
traditionelle Kategorie der Ordnungs- und Staatsangewiesenheit von Kosmos und
Gesellschaft (die nur im Horizont negativer Kosmologie und Anthropologie
sinnvoll ist) wird ersetzt durch die Kategorie der Lichtabhängigkeit
alles Lebendigen. Diese Abhängigkeit teilt der Mensch mit allem Lebendigen, ja
sogar mit allem Sichtbaren ("Acker, Weg und Fluss"). Alles, was Augen hat,
(jrt nbt) und alles, was sichtbar ist, verdankt sich den Strahlen der
Sonne. Das bedeutet "direkte Kausation".
Die entscheidenden Elemente des
Gottesnamens der Amarna-Religion sind jtn "Sonne" und 'nh
"lebend". Beide Elemente sind polemisch zu verstehen. Das Element jtn
richtet sich gegen den Sonnengott des polytheistischen Sonnenlaufs als einer
mythischen Herrschaftsinstitution (...). Das Element 'nh richtet sich
gegen die Vorstellung der Grenze zwischen der Welt der Lebenden (...) und einer
geistigen Welt der Götter und Toten. Der Gott der Amarna-Religion ist nicht
distant-jenseitig, sondern präsent und diesseitig. Er ist in Gestalt des Lichts
auf Erden leibhaftig gegenwärtig. Daher ist er nicht abbildbar, nicht
repräsentierbar, auch nicht durch den König (ebensowenig wie durch Kultbilder).
Er herrscht direkt, aber sein Herrschen ist kosmisch.
Der König hat an dieser Herrschaft nicht den Anteil des "Bildes", der Repräsentation,
wie im traditionellen Weltbild, sondern den eines Mitregenten. Dies wird als
Vater-Sohn-Beziehung ausgeformt und dadurch sichtbar gemacht, dass man die Namen
beider Partner, des Königs und Gottes, in Königsringen oder "Kartuschen"
schreibt. Beide teilen sich die Herrschaft. Der Teil des Gottes ist die kosmisch-vegetative
Belebung der Welt durch Licht und Bewegung, d.h. die Sphäre des Sichtbaren.
Der Teil des Königs ist die Verkündung der Wahrheit, d.h. die Sphäre des Hörbaren.
Einer der auffallendsten Züge des Gottesbildes von Amarna ist die Stummheit:
Er spricht nicht. Keine einzige Inschrift enthält eine Rede des Aton. Dem korrespondiert
die ungeheuere Rolle, die im Königsbild die Stimme und die Lehre spielen. Am
Hören auf die Stimme des Königs entscheidet
sich, wer in der Ma'at lebt. Daher monopolisiert der König die Ma'at und nennt
sich in seiner offiziellen Titulatur "Der von der
Ma'at
lebt". Wie das Licht der Sonne die Erde mit Leben, so erfüllt seine Stimme die
Welt mit Wahrheit. Die Wahrheit ist identisch mit seiner "Lehre".
Gewisse Elemente des Weltbildes
von Amarna finden sich auch in Texten früherer und späterer Zeit. Das zeigt,
dass wir es hier nicht mit einem erratischen Einbruch von außen zu tun haben,
sondern mit Spannungen und Widersprüchen, die bereits im traditionellen Weltbild
angelegt sind. Dieses Weltbild ist mit dem Neuen Reich in eine Krise geraten.
Die Revolution des Echnaton ist als Versuch einer Lösung dieser Krise ein
Ausdruck solcher Spannungen. Das betrifft nicht die positive Kosmologie
und Anthropologie: Dies scheint Amarna-spezifisch. Es betrifft aber die
Anthropozentrik, d.h. die Vorstellung, dass die Götter nicht - oder nicht nur -
in Bezug auf einander handeln, sondern vor allem in Bezug auf den Menschen und
dass vor allem die Herrschaftsinstitution des Sonnenlaufs einen unmittelbar
menschenweltlichen Bezug hat. (...)
Dieser menschenweltliche Bezug des
Sonnenlaufs hat aber nicht nur (wie in Amarna) den rein kosmischen Sinn der
Belebung, sondern auch (und vor allem) den der Ma'atverwirklichenden
Rechtsprechung. "Um sie zu sehen, fährt er am Himmel dahin" (und nicht:
damit sie sehen können), "wenn sie weinen, hört er", also erstreckt sich sein
Wirken auch in die Sphäre der Sprache. Und es ist genau dieser Aspekt
einer ethischen Instanz, der mit dem Epithet "Herr der Ma'at" angerufen
wird.
Manche Elemente der Amarna-Religion richten sich offensichtlich weniger
gegen die traditionelle Religion, als vielmehr gegen solche Innovationen. Die
anthropozentrische Konzeption wird zwar aufgegriffen und verabsolutiert
(radikalisiert), aber sie wird im Sinne kosmischer Theologie vereinseitigt.
Alles lebt durch das Licht der Sonne, und das Licht der Sonne hat keinen anderen
Sinn und Zweck, als Leben zu schaffen und zu erhalten. Nur um des Lebens und der
Lebewesen willen scheint sie. Daher ist dieses Weltbild anthropozentrisch. Es
wird aber in dieser göttlichen Fürsorge kein Unterschied zwischen
Gut und Böse,
Mensch und Tier, Lebewesen und Dingen gemacht: Alles, was sichtbar wird, lebt im
und vom Licht. So hat diese Fürsorge keinen providentiellen Charakter, sie
stiftet keinen Zusammenhang zwischen Tun und Gelingen und ist in dieser Hinsicht
ohne moralischen Sinn. Im Zeichen des Einen wird die Religion
entpolarisiert, entpolitisiert und damit auch entmoralisiert.
Da ist es nun
höchst bezeichnend, dass der Mythos von der Spaltung der Welt, dem das
Amarna-Weltbild so diametral widerspricht, genau in dem Augenblick erstmals
aufgezeichnet wird, wo es gilt, die Revolution des Echnaton zu überwinden.
(...)
(Aus "Ma'at. Gerechtigkeit und
Unsterblichkeit im Alten Ägypten"
von Jan Assmann.)