Rajzel Zychlinski: "di lider - Gedichte 1928-1991"
Gelesen von Iris Berben
(Hörbuchrezension)
Es gibt Hörkunstwerke, die von
Anfang an einen eigenen Zauber ausstrahlen. So erging es dem Rezensenten in
diesem Fall. Gleich das erste Gedicht Heut sah ich umspült Herz und Seele
mit Nachdrücklichkeit. Ein Mann spricht mit einem Mülleimer und tut dies mit
Begeisterung. Die kleine Beobachtung spielt
ebenso
in New York wie viele weitere lyrische und prosaische Werke, die folgen
werden.
Rajzel Zychlinski erzählt von den gestrandeten Existenzen, von den Außenseitern,
den traurigen Helden, den Hoffnungslosen, den aus dem Leben gespülten Individuen.
Jede ihrer Miniaturen und jedes Stück Prosa kann sich im Kopf des Hörers festsetzen,
wenn er es zulässt. Besonders erschütternd die Erzählung Die Waise, welche
von einer jungen Frau handelt, die auf einer Parkbank in New York ein Buch liest.
Sie ist gebürtige Ungarin und hat nichts mehr, auf das sie noch hoffen könnte.
Traurig und eingesponnen in suizidale Gedanken verbringt sie ihren Tag. Ihren
wichtigsten Lebensmenschen, ihre Schwester, hat sie schon vor langer Zeit verloren.
Und nun fragt sie sich, wozu sie überhaupt noch am Leben ist. Sie ist wie festgefroren
in der Mühsal des Lebens. Nicht viel anders geht es der Frau in Ohne Krone.
Stolz ging sie mit ihrem Hund fast jeden Tag durch den Park, und plötzlich taucht
sie nicht mehr auf. Erst einige Monate später sieht sie die Autorin wieder und
fragt sie, warum sie nicht mehr in den Park geht. Der Hund der Frau ist gestorben,
und dieser Hund ist alles für sie gewesen. Das einzige Lebewesen, das für sie
da war. Sie war stolz auf diesen Hund, den sie einst auf der Straße aufgelesen
hatte. Neun Jahre lief er krank an ihrer Seite. Und nun war es vorbei. Sie wolle
sich keinen neuen Hund
mehr zulegen. Jetzt trägt sie keine Krone mehr, und sie hat nichts mehr, auf
das sie hinleben könnte.
Mit sehr viel Einfühlungsvermögen werden diese Geschichten erzählt. Es
sind kostbare Juwelen im Werk der Autorin, da sie nur selten Prosa
geschrieben hat. Die Gedichte handeln von Güte, von der
Verkommerzialisierung der Welt, von alltäglichen Beobachtungen und
jüdischer Identität.
Das Werk von Rajzel Zychlinski blieb zeitlebens von der Erfahrungswelt des jiddischen
Schtetl bestimmt, wo sie als Nachfahrin einer Rabbinerfamilie aufgewachsen ist.
Sie wuchs in Gombin auf, arbeitete als Verwalterin eines Waisenhauses, lebte
in Warschau,
überlebte die Bombardierung und das Wüten der Nazis in der besetzten Stadt,
floh in die Sowjetunion; durchlitt das Trauma, dass Mutter und Geschwister in
den Gaskammern Chelmnos ermordet worden waren. Nach dem Krieg kehrte sie nach
Polen zurück, in dem die wenigen überlebenden Juden mit einem einheimischen
Antisemitismus konfrontiert wurden.
Ihr Leben in der Vielvölkerstadt New York bestimmte ihre späteren
Gedichte und auch einige ihrer Prosastücke. Sie erhielt im Jahre 1975
den bedeutendsten jiddischen Literaturpreis, den Itzik-Manger-Preis. Im
Juni 2001 verstarb Rajzel Zychlinski im Alter von 90 Jahren.
Vorliegendes Hörbuch basiert auf der ersten umfassenden Edition ihres
literarischen Gesamtwerks inklusive der wenigen Prosatexte.
Zu einem einzigartigen Hörerlebnis machen diese CD zudem zwei Komponenten:
Iris Berben verleiht den Geschichten Flügel, und ihre
verwandlungsfähige Stimme wird dementsprechend manchmal auch zornig
oder zerfahren. Die Musik von RADA synergica ergänzt die Texte auf
beeindruckende Weise. Diese CD ermöglicht den Hörern, einer Autorin
nahe zu kommen, von der in deutscher Übersetzung bislang nur
Auswahlausgaben ihrer Gedichte erschienen. Es gibt also viel Neues;
insbesondere die fantastische Prosa zu entdecken.
(Al Truis-Mus; 10/2005)
Rajzel Zychlinski: "di lider - Gedichte 1928-1991"
Randomhouse Audio, 2005. 1 Audio-CD; Laufzeit ca. 70 Minuten. Mit Beiheft.
ISBN 3-86604-029-6.
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Buchausgabe:
Zweitausendeins Verlag, 2003.
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