Ditte und Giovanni Bandini: "Das Zwergenbuch"

Heinzelmännchen, Kobolde und Zwerge ...


Rundreise durch den mystischen Minimundus des Kleinen Volkes

"Hobbits" in Indonesien

Im September des Jahres 2003 staunte die Wissenschaft nicht wenig. Auf dem kleinen indonesischen Eiland Flores wurden die Knochenreste einer nur knapp ein Meter großen Frau gefunden. Zusammen mit ihrem Skelett lagen die Gebeine sieben weiterer Artgenossen in einer Sandsteinhöhle. Gelebt hatten die als Homo floresiensis benannten menschenähnlichen Wesen vor etwa 18.000 Jahren. War damit der Paläontologie der Beweis für die Existenz von "Zwergen" gelungen? Schwer zu sagen, die gelehrten Köpfe streiten immer noch, wie der Fund auf Flores zu klassifizieren sei. In der Presse erlangten Floresfrau und Floresmann als "Hobbits" weltweite Bekanntheit. Eine Artbezeichnung für puschelfüßige Halblinge, die dank J.R.R. Tolkiens Erzählungen und der daraus resultierenden Filme allgemein geläufig ist. Doch Vorsicht! Jeder Hobbit, der etwas auf sich hält, würde sich dagegen verwehren, als Zwerg bezeichnet zu werden - und umgekehrt noch mehr!

Drolliges Durcheinander

Das Autoren-Ehepaar Ditte und Giovanni Bandini ist sich dieser Crux wohl bewusst, weshalb es eindeutige Definitionen betreffs der Spezies von Zwergen und anderer Geistwesen von vornherein ablehnt. Klare Artunterscheidungen sind aufgrund Jahrtausende alter kultureller Eigenheiten und fehleranfälliger mündlicher Traditionen einfach nicht zu treffen. Man möchte meinen, wenigstens der Unterschied zwischen Elben und Zwergen wäre einfach auszumachen - falsch gedacht. Nachschlagen in der "Edda" legt das Problem dar. Sie zeugt zwar von Schwarzelben und Weißelben - jedoch nur als Überbegriff! Völlig offen bleibt zudem, ob sich die Farbbezeichnung auf Hautfarbe, Kleidung oder im übertragenen Sinne auf Charaktereigenschaften bezieht. Nächstes Beispiel gefällig? Trolle. In Norwegen, vor allem im Norden des Fjordstaates, sind Trolle als monströse, riesenhafte Geschöpfe mit körperlichen Deformierungen im Volkstum verwurzelt. Menschenfleisch würden sie fressen und könnten nur durch Blitz und Donner getötet werden. Ganz anders im benachbarten Schweden - oder noch ein Stückchen weiter südlich - in Dänemark, wo Trolle im wahrsten Sinn des Wortes drollig durch die Sagas streifen. Als klein und verschroben, aber durchaus für Freundlichkeiten zu haben, werden sie beschrieben. Den Bandinis ist daher klar: Trolle, Zwerge, Elben, etc. sind Sammelbezeichnungen, "jeder konnte sich im Prinzip darunter vorstellen, was er wollte." Ein wahres Wort, zieht man in Betracht, dass viele dieser Naturgeister zu allem Überdruss der Menschen auch noch über die Fähigkeit des Gestaltwandelns verfügen können.

Eigenheiten des Kleinen Volkes

Als systematische Forscher versuchen die Bandinis (beide sind studierte Indologen und Religionswissenschafter) dennoch etwas Klarheit ins anderweltliche Tohuwabohu zu bringen. Im "Zwergenbuch" beschränken sie sich daher auf das klassische Erscheinungsbild der Miniaturwesenheiten. Formwandelnde Riesen oder Drachen bleiben damit außen vor. Als kleinsten gemeinsamen Nenner für das Zwergsein legen die Bandinis gewisse charakteristische Eigenschaften fest. Ob solitärer Kobold, geselliges Heinzelmännchen oder familiärer Gnom, alle neigen zu recht altertümlicher Kleidung. Egal, in welchem Jahrhundert man sie antrifft, ihr modischer Geschmack scheint immer weitere Jahrhunderte davor angesiedelt. Während die Körpergröße vom Däumling bis zum stolzen Gardemaß von 1,50 m variiert, tragen fast alle Zwergartigen Bärte (auch die Damen!). Ihre Gesichter sehen alt und verrunzelt aus. Extravagante Hüte oder Zipfelmützen sind als zwergisches Muss anzusehen. Beim Umgang mit den Wichten ist Vorsicht geboten, die Mimosenhaftigkeit und Rachsucht des Kleinen Volkes ist berühmt-berüchtigt. Ein falsches Wort, ein scheeler Blick, schon hat man einen Fluch auf sich geladen. Will man sich` s hingegen gut stellen, lohnt es sich nachts einen Teller mit Grütze und Butter vor die Türe zu schieben. Halt! Der Gaumen der Nörgel und Nissen (weitere Namen der Kleinen) ist sehr heikel. So muss die Butter immer über der Grütze sein, niemals darunter - allenfalls kann der Speiseobolus leicht als Provokation missverstanden werden.

Wer seine kleinwüchsigen Mitbewohner gut versorgt und gebührlich behandelt, wird von ihnen reichlich entlohnt, man denke nur an die im Haushalt überaus emsigen Heinzelmännchen oder den Klabautermann auf Schiffen. Über Letzteren heißt es: "Er ist hilfsbereit, fleißig und treu, solange er (durch Essen am Tisch des Kapitäns) belohnt wird und die Menschen ihn nicht ärgern." Robert Louis Stevenson, Verfasser der "Schatzinsel", erklärte unumwunden, Brownies (ein englischer Zweig der Heinzelmänner) hätten den Großteil seiner Schreibarbeiten erledig, während er schlief. Na bitte, nicht dem Rum, sondern literarisch begabten Kobolden ist ein Stück Weltliteratur zu verdanken.

Wer hingegen Hab und Gut nicht mit den kleinen Wesenheiten teilen will, der sollte Kümmel und Anis ausstreuen - beides ist ihren knolligen Nasen ein Gräuel. Als ebenso probat, aber denkbar unartig erweisen sich aufgeklappte Scheren.

Kobalt, Nickel, Quarz und Gartenzwerg

Hand aufs Herz, wer von uns unwissenden Menschen weiß schon, dass wir den Zwergen den Bergbau zu verdanken haben? Skeptisch? Tja, dann folgt der etymologische Beweis auf den Fuß. Gemäß der Bandini-Recherchen soll Kobalt seinen Namen von Kobold herleiten, während Nickel und Quarz von Niss und Querx herrühren, zwei der vielen Bezeichnungen für Zwergenarten. Die kleinen muskulösen Wesen schlegeln nicht nur gerne in den Stollen (eine gewisse Gier für Metall und Edelstein wird ihnen nachgesagt), sie gelten auch als begnadete Schmiede. Einst soll auf Kreta ein ganzer Zwergenstamm Bergbau betrieben haben. Aus Kleinasien wären diese Daktylen ("Fingerlinge") gekommen, heißt es, und hätten ihre roten Zipfelmützen mitgebracht, die in Phrygien ganz groß in Mode waren.

Viel gäbe es noch zu erzählen: von Alberich, dem kampfestüchtigen Nibelungen, der die Tarnkappe der Zipfelmütze vorzog und derart bekränzt selbst dem Recken Siegfried lange trotzte. Von Laurin, dem unglücklich verliebten Zwergenkönig, bekannt für seinen Rosengarten. Auch Puck, ein schlauer Pooka, sei zu erwähnen, der mit List in nur einer Sommernacht Eingang in Shakespeares Werke fand. Nicht zu vergessen Rumpelstilzchen/Purzinigele, ein gar explosiver Alpenwicht.

Vielleicht lohnt sich auch ein Ausflug in das schöne Thüringen. Präzise gesagt, nach Gräfenroda, wo eine ganz besondere Spezies einst das Licht der Porzellanmanufakturen erblickte: der Gartenzwerg, in der Fachwelt der "Nanologen" auch als Nanus hortorum vulgaris bekannt. Wem Alberich zu albern oder Gartenzwerge einfach zu vulgär wirken, dem sei zur Reise nach Alençon geraten. Dort, in der wilden Normandie, wirkt die FNLJ. Eine Organisation, mit der man fürderhin zu rechnen hat. Denn die Front de Libération des Nain de Jardin hat es sich auf die Fahnen geheftet, Gartenzwerge aus ihrer misslichen Zurschaustellung auf getrimmten Rasenflächen endlich zu befreien. Dem Hörensagen nach agieren ihre kämpfende Zellen auch schon in Eng- wie Deutschland. Durchflutet von Alberichs Kampfesmut schallt die Parole der FNLJ: "Wir fordern, dass Gartenzwerge nicht länger lächerlich gemacht und in ihre natürliche Heimat, den Wald, entlassen werden."

Kleines Zwergenglossar

"Das Zwergenbuch" schließt ab mit einem Glossar, das in wenigen Worten nochmals viel vom Kleinen Volk verrät. Boggarts, versierten Harry-Potter-Lesern bestens bekannt, werden als "schalkhafte und spitzbübische" Kobolde der Grafschaft Lancashire enttarnt, während die südwestenglischen Pixies mit Vorliebe zum Tanz auf Hünengräbern schreiten. Ähnliche Fußfertigkeit verspüren die bretonischen Korrigans bei Menhiren, während die in Ruinen hausenden Redcaps ihre Kappen in Menschenblut zu färben pflegen. Irische Leprechaun üben gerne das Schusterhandwerk aus, tragen Zylinder oder Melone, sprechen Tabak samt Alkohol zu und sind stets für einen Raufhandel zu haben. Ein Farfadet aus Frankreich hingegen lebt kultiviert und hilfreich, sofern er sich an Milch mit Honig laben darf. Goblins knüpfen nicht etwa edle Gobelins, sondern trachten eher nach Schabernack, ganz wie ihre deutschen Verwandten, die Haus- und Waldschratte. Schwedische Tomte spielen für ein gutes Paar Holzschuhe auch mal das Kindermädchen, während Herakles von zwei winzigen Kerkopen nicht nur der Waffen beraubt worden war, sondern sich auch noch derbe Witze über sein allzu behaartes Hinterteil anhören musste. Der griechische Halbgott bewies Humor und freundete sich mit den Plagegeistern letztendlich an. Nach der Lektüre vom "Zwergenbuch" werden Sie ihn gut verstehen. Der Schalk sitzt einem bei dieser Reise durch den mystischen Minimundus Seite für Seite spürbar im Nacken.

(lostlobo; 06/2005)


Ditte und Giovanni Bandini: "Das Zwergenbuch"
dtv, 2004. 238 Seiten.
ISBN 3-423-24441-0.
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Einige weitere Bücher des Autorenduos:

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Zwerg: Das altgerm. Substantiv mhd., ahd. twerc, niederl. dwerg, engl. dwarf, schwed. dvärg ist unsicherer Herkunft. Vielleicht hängt es im Sinne von "Trugwesen" mit ahd. gidrog "Gespenst" zusammen. (...)
(Quelle: "DUDEN - Das Herkunftswörterbuch")

 

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