Peter Sloterdijk: "Zorn und Zeit"
Politisch-psychologischer Versuch
Thymos
statt Eros
Der Professor für Ästhetik und Philosophie (Jg. 1947)
und eigentlicher Gesprächsführer des 'Philosophischen
Quartetts' disputiert hier Weltpolitik, weil er als nachheideggerscher
Ontologe mehr das Welt- als das Seinsgeschichtliche reflektiert. Das
vorliegende Buch ist ein 'Politisch-psychologischer Versuch'
(Untertitel), die wahren Triebkräfte der Führer,
Massen und Ideologien zu entlarven bzw. zu bannen. Es heißt,
unverwechselbares Kennzeichen des Denkens und Schreibens von Sloterdijk
sei die "Einbettung aktueller Fragen in eine Geschichte der langen
Dauer" (vgl. Klappentext). Das vorliegende Buch wird übrigens
als "Essay" bezeichnet, was ungewöhnlich ist bei diesem Umfang.
Es wäre gleich zu Beginn zu fragen, ob Sloterdijks
Ausgangsthese nicht naiv zu nennen sei: nur weil in den Anfangsversen
von Homers 'Ilias' der Begriff "Zorn" auftaucht ("Den Zorn singe,
Göttin, des Peleussohns Achilles / den unheilbringenden
Zorn"), ist dies für Sloterdijk der "erste Appell unserer
Kulturüberlieferung" - und bliebe bestimmend für den
Rest unserer Geschichte?! Wie historisch sinnvoll und intellektuell
haltbar ist es wohl, diesen "unheimlichsten und menschlichsten der
Affekte" als dermaßen effektiv und unausweichlich zu
postulieren - und damit Homers 'Ilias' die Weihe einer vorchristlichen
Biblischen Geschichte zukommen zu lassen?! Klar wird jedenfalls in der
Einleitung, dass die antike Auffassung einer "Gewaltverherrlichung" den
Heroismus der "Tatentäter" meinte. Seit Homer gibt es also
dieses "vom Vorrang des Kampfes geprägte Bild der Dinge" - und
"auch die Modernen haben die Aufgabe, den Krieg zu denken, nie
völlig vernachlässigt" - warum ist dies aber eine
"Aufgabe"?! Soll denn da immer noch dieser dämliche Satz vom
Krieg als "Vater aller Dinge" (Heraklit,
Hegel) unwidersprochen bleiben
(müssen, dürfen)?
Der Zorn als Primärenergie, als Quintessenz: "Der Held und
seine menis bilden für Homer ein
unzertrennliches Gespann." Der Zorn ist für den antiken Helden
quasi ein ihm von den Göttern verliehener Genius - und der
Heros verkündet der Welt die "Botschaft seiner Kraft", wodurch
er den Göttern seinen Dank abstattet. Im weiteren Verlauf der
Geschichte kommt es zur "Domestikation" des Zorns, bis er über
den Mannesmut zur Beherztheit wird und in der Zivilcourage endet. Der thymos,
der "Regungsherd des stolzen Selbst", wird schließlich zur
"Feldkraft, die dem gemeinsamen Willen zum Erfolg Form verleiht" - so
gelangt Sloterdijk zu einer "politischen Thymotik".
Indem nun Sloterdijk die seit langem beliebte Opposition gegen die
Psychoanalyse verstärkt, setzt er neben die
"Libidodynamik"
den "Pol der thymotischen Energien", welcher beinhaltet: "Stolz ... Mut
... Beherztheit ... Geltungsdrang ... Verlangen nach Gerechtigkeit ...
Gefühl für Würde und Ehre ... Indignation
... kämpferisch-rächerische Energien." Sloterdijk
möchte all diese Regungen aus dem Ruch der Sublimation und des
Minderwertigkeitskomplexes befreien zur gleichwertigen
Eigenständigkeit. Was haben wir nun aber anderes, als dass des
Menschen Psyche ein Konstrukt aus Libido und Aggression sei - und wo
bleibt die Vernunft, Herr Sloterdijk, der Sie doch immerhin schon
einmal zur 'Kritik der zynischen Vernunft' angesetzt hatten?!
Vielleicht stellt sie sich ein durch die Forderung, neben der
"Korrektur des erotologisch halbierten Menschenbildes" auch "Abstand zu
gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der christlichen
Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als
Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch
Glaubensdemut geholfen werden kann." Wacker gesprochen - so
gefällt er uns, der Herr Philosoph! Wenn er dann auch noch
gegen die Ökonomen schießt, die uns Menschen nur als
"konsumierende Tiere" sehen, dann wird tatsächlich einsehbar,
dass Freiheit ein Begriff ist, "der nur im Rahmen einer thymotischen
Menschensicht Sinn ergibt."
Sloterdijk verweist darauf, dass sich im 4. Buch der
'Politeia' von
Platon "die Umrisse zu einer thymós-Lehre
von großem psychologischen Reichtum und weittragender
politischer Bedeutsamkeit" findet. Im übrigen verdanke man
Francis Fukuyama "eine der besten Zusammenfassungen der der antiken und
neueren Diskurse über den Thymos" in seinem Buch 'Das Ende der
Geschichte. Wo stehen wir?' (1992). Während die Stoiker alle
zornhaften Impulse verwarfen,
hat bei Aristoteles der legitime Zorn
noch "ein Ohr für die Vernunft". Der bürgerlich
konditionierte Thymos ist der psychologische Sitz des Strebens nach
Anerkennung. In der Moderne registriert Sloterdijk einen
"Strukturwandel des Zorns", eine regelrechte "Zornwirtschaft", wobei
die christliche "Ethik des Racheaufschubs" sich klar auf die "Erwartung
eines überhistorischen Leidensausgleichs" gründet -
während die kapitalistische Ökonomie moralische
Schuld in monetäre Schulden verwandelt bzw. umwertet. In der
"Thymotisierung des Kapitalismus" sieht Sloterdijk eine
"schöpferische Aggression" - zunächst durchaus
verknüpft mit einer gewissen Generosität aus quasi
meta-kapitalistischer Perspektive. Süffisant verweist
Sloterdijk darauf, wie der Fabrikant aus Manchester, Engels, seine
Überschüsse dazu verwendete, um die Familie Marx in
London "über Wasser zu halten" - während der
Familievorstand Karl "die Zuwendungen benutzte, um die Ordnung der
Dinge zu verwerfen, in der ein Engels möglich und
nötig war."
In seinem Kapitel 'Zorngeschäfte im Allgemeinen' macht
Sloterdijk darauf aufmerksam, dass "wir" immer noch "Feinde" haben,
obwohl wir die Existenzform der "Harmlosigkeit" gewählt haben.
Noch nie hat jemand dermaßen dezidiert "unsere" Situation
beschrieben: "Die Bewohner der wohlhabenden Nationen schlafwandeln
zumeist im unpolitischen Pazifismus. Sie verbringen ihre Tage in einer
vergoldeten Unzufriedenheit. Inzwischen vertiefen sich an den
Rändern der Glückszonen ihre Belästiger, ja
ihre virtuellen Henker in Lehrbücher der Sprengstoffchemie,
entliehen aus den öffentlichen Bibliotheken des Gastlandes."
Zynischer und realistischer lässt sich die Situation wohl kaum
umreißen - und wir erkennen hier auch die
Berührungspunkte von Philosophie, Psychologie, Politik,
Ökonomie und Realität. Und wir registrieren hier
ebenso die Ohnmacht des elaborierten Codes gegenüber der
bornierten Brutalität.
Auch in die Literatur blickt Sloterdijk, um "eine Fülle von
Hinweisen auf die Elementarmacht des Zorns und die Feldzüge
des rächerischen Furors" zu finden - von den
'Eumeniden'
über die 'Räuber'
bis zur 'Alten Dame'. Zur Debatte
stehen die Weltordnung oder eine persönliche Kränkung
- im Grunde immer eine Restitution von Gerechtigkeit. Dabei spricht
Sloterdijk von "Zornkollektiv", von "Zornunternehmen", "Zornguthaben"
auf einer "Zornbank" - und unterscheidet die "pure
Impulsivität" von der "Konzeption von Angriffen gegen den
Weltzustand im ganzen." Schließlich spricht Sloterdijk gar
von einem "Zornmanagement", das nur im globalen Umfang zu leisten sei.
Bedeuten würde das eine "Unterordnung der Politik unter die
Moral". Im Zusammenhang damit macht Sloterdijk auf die
Widersprüchlichkeit in der christlichen Religion aufmerksam -
stehen doch Allmacht und Apokalyptik der Behauptung von Liebe und
Gerechtigkeit gegenüber. Mit einem gewissen Schmunzeln
verweist er auf den dritten Weg zwischen ewiger Verdammnis und ewiger
Seligkeit: das Purgatorium, welches er als kirchliches "Kreditsystem"
bezeichnet, in dem sich der Zorn Gottes quasi in Ratenzahlungen mindern
lässt. In allen Lebensbereichen, besonders im
religiösen und im politischen, ist immer wieder eine Art
"psychologische Nachrüstung bei den Verlierern nötig."
Schließlich kommt Sloterdijk auf verschiedene Revolutionen zu
sprechen, in denen mit einem "weltverändernden Zorn" sich das
sich das "Zornwissen der Menschheit" entlädt - indem bei dem
jeweils betroffenen Volk "Zorn und Gerechtigkeit eins" werden. Er
registriert die "bei weitem folgenreichste Zornköperbildung"
in der marxistischen Arbeiterbewegung - dieser "thymotischen
Wir-Gruppe" speziell des Industrieproletariats. Im Kern sollten die
Menschen als "Schöpfer ihres eigenen Daseins" auch Anspruch
auf den "Genuss der Resultate ihrer Tätigkeit" haben.
Diesbezüglich wurde also an die "thymotischen Regungen des
arbeitenden Kollektivs" appelliert. Aufschlussreich ist die
Beobachtung, dass es schließlich an bestimmten Knackpunkten
praktizierter Revolutionen zur "politischen Suspension der Moral" kam -
so wie Lenin es etwa sah: der Kampf gegen die Barbarei dürfe
vor barbarischen Methoden nicht zurückschrecken. Dass das
"Töten im Dienst der großen Sache" direkt in den
Faschismus führt(e), ist die tragische Variante der
Thymos-Theorie - oder die Ironie des "revolutionären Thymos".
Die Kommintern als "Weltbank des Zorns" erwies sich allerdings als
Unterdrücker- und Erpresserbande der Massen - und "die
Früchte des Zorns, die in Wahrheit Früchte der Angst
vor den Zornpolitikern waren", schmeckten bitter - Sloterdijk spricht
hier auch von "psychischen Enteignungen" des Volkes und verurteilt den
millionenfachen Terror Stalins
und Maos.
Im Schlusskapitel registriert Sloterdijk eine "Zornzerstreuung" und
bemerkt: "Wir sind in eine Ära ohne Zornsammelstellen mit
Weltperspektive eingetreten" - was ihn besonders verwundert, da man
andererseits von der "Vernetzung der Welt durch die neuen Medien"
spricht. Heute sieht Sloterdijk eine Ablösung der Thymoskultur
durch eine Gierkultur - und damit eine Entpolitisierung, eine
"politische Regression der linken Zornkultur". Wir bemerken Symptome
einer "Epidemie der Negativität", eines unorganisierten
Vandalismus, destruktiver fanatischer Hassgefühle - und es
ereignen sich jede Nacht Millionen von "isolierten
Betäubungen". Nach dem Katholizismus und dem Kommunismus sieht
Sloterdijk im Islamismus die dritte mögliche "Weltbank des
Zorns". Getragen werde diese "Riesenwelle" von jungen Männern,
den nicht Erstgeborenen, die arbeits- und hoffnungslos sich an den
islamistischen "Aggressionsprogrammen" beteiligen. Es handelt sich
demografisch um eine "desparate Bewegung aus ökonomisch
Überflüssigen und sozial Unverwendbaren" - diese
These stammt übrigens ursprünglich von Gunnar
Heinsohn (vgl. 'Söhne und Weltmacht', 2003).
Sloterdijk sieht weiterhin die bereits von John Locke 1689
vorformulierten "Grundrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum" als das
zukunftsträchtigste Programm für die Menschheit an.
Er erachtet ein Zusammenwirken der "elitären und
egalitären Kräfte" als nötig und fordert
eine "Rationalitätskultur", um den "Wettlauf mit den
entropischen Prozessen, vor allem der Umweltzerstörung und der
Demoralisierung" zu bestehen. Das eigentliche Ziel muss eine
"Weltkultur" sein! In einem Interview in der taz
(Juni 2006) spricht Sloterdijk von "produktiver Verwirrung" durch
Aufbruchsbewegungen und nennt Systematik und Ordnung letztendlich
unproduktiv, museal. Von wem allerdings diese "produktive Verwirrung"
konkret zu erwarten ist, weiß er offensichtlich auch nicht so
genau - zumal einerseits weltweit der Kampf um die
Kapitalmärkte tobt, während die "Linke" (?) nicht
mehr als "Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn"
fungiert bzw. agiert. Die Arbeitslosen versinken in Depression, es gibt
für sie keine "Sprache des Zorns" mehr, keine historische (und
damit auch keine persönliche) Perspektive. Es fehlt die
messianische Idee, eine neu orientierte und neu orientierende Vision.
Und so leben wir mit Überanstrengung und Vergnügen
zugleich und haben entsprechend Sloterdijks höchsteloquenten
"Essay" durchgearbeitet, um am Ende weder den Vorhang
schließen noch die nachwachsende Anzahl von Fragen
beantworten zu können.
Peter Sloterdijk - der John McLaughlin der Philosophie - jeder Satz
brilliert filigran, manchmal bis zum ästhetischen Orgasmus,
manchmal aber auch bis an die Grenzen eines schon ins Ridiküle
umkippenden Pathos. Fast jeder Satz bedürfte einer eigenen
Würdigung und Interpretation. Die Raffinessen kulminieren bis
zur totalen Überforderung der Rezipienten - hier demonstriert
uns einer, wie man mit Sprachakrobatik ein Lesepublikum ganz klar
polarisieren, ja selektieren kann. Als ob das Inhaltliche nicht schon
kompliziert genug wäre! Wen möchte denn Sloterdijk
eigentlich mitnehmen in seine bessere Zukunft?
(KS; 02/2007)
Peter
Sloterdijk: "Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch"
Suhrkamp, 2006. 356 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors:
"Im Weltinnenraum des Kapitals"
Der Verknüpfung von Erzählung und Philosophieren, dem
hervorstechenden Merkmal der Bücher Peter Sloterdijks, ist es
zu verdanken, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwas
Grundstürzendes über
Globalisierung zu erfahren ist.
Denn der Autor nimmt die mit der Erde als Kugel verbundenen
historisch-philosophischen Eigenarten ernst und gelangt zur These: Was
als Globalisierung gelobt oder verschrien wird, ist die Endphase eines
mit der ersten Erdumrundung einsetzenden Prozesses. Und: Es lassen sich
bereits Elemente für eine neue Epoche jenseits der
Globalisierung registrieren.
In der Endphase der terrestrischen Globalisierung hat sich das
Weltsystem vollständig entwickelt und bestimmt als
kapitalistisches die gesamten Lebensverhältnisse. Der Londoner
Kristallpalast, Ort der ersten Weltausstellung 1851, dient Peter
Sloterdijk als ausdrucksstärkste Metapher für diese
Situation: Er stellt die unvermeidliche Exklusivität der
Globalisierung vor Augen. Dieser Begriff meint demnach die Errichtung
eines Komfortgebildes, also den Auf- und Ausbau eines Weltinnenraums,
dessen Grenzen unsichtbar, von außen jedoch nahezu
unüberwindbar sind und der von anderthalb Milliarden
Globalisierungsgewinnern bewohnt wird - die dreifache Zahl von Menschen
steht vor der Tür. (Suhrkamp)
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