Juli Zeh: "Schilf"


Überzeugender Krimi von einer sprachbegabten Autorin

Ich habe bislang nur wenige gute, überzeugende Krimis gelesen, Juli Zehs "Schilf" ist einer davon. Bevor ich nun aber zum Thema und Inhalt des Buches komme, möchte ich die Hauptbeteiligten der Geschichte kurz vorstellen, als da sind: Sebastian und Oskar, zwei miteinander befreundete Physiker; Sebastians Ehefrau Maike und deren gemeinsamer Sohn Liam; ein radelnder Oberarzt, dessen plötzlich zu Tage tretende Kopflosigkeit nicht nur für ihn selbst gravierende Folgen nach sich zieht; dann ein Kommissar, der Zwiesprache hält mit einem inneren Beobachter, dessen Kopf aber darüber hinaus noch einen weiteren, allerdings gänzlich unerwünschten Untermieter beherbergt; eine höchst eigenwillige Kriminalkommissarin mit ganz erstaunlichen Fähigkeiten, ein verliebter Polizeiobermeister und schließlich Julia, die neue Freundin von Kommissar Schilf, dem Titel-Taufpaten. Diese relativ begrenzte Anzahl von handelnden Personen macht es dem Leser zunächst einmal leicht, die Zusammenhänge der Geschichte schon recht früh zu erahnen. Trotzdem ist der Roman weit davon entfernt, langweilig zu sein, zumal die Verfasserin dieses literarischen Juwels über eine nur selten erreichte sprachliche und erzähltechnische Brillanz verfügt. Gleich der erste Absatz des ersten Kapitels, den ich hier zitieren möchte, zeugt von der sprachlichen Meisterschaft der Autorin und erweckt so natürlich auch hohe Erwartungen beim Leser.

Zitat: "Im Anflug aus Südwesten, aus einer Höhe von fünfhundert Metern betrachtet, gleicht Freiburg einem ausgefransten hellen Fleck in den Falten des Schwarzwalds. Es liegt da, als wäre es eines Tages vom Himmel gefallen und den angrenzenden Bergen bis vor die Füße gespritzt. Belchen, Schauinsland und Feldberg sitzen im Kreis und überschauen eine Stadt, die nach Zeitrechnung der Berge vor etwa sechs Minuten entstanden ist und trotzdem so tut, als hätte sie schon immer da unten am Fluss mit dem komischen Namen gelegen. 'Dreisam'. Wie Einsamkeit zu dritt."

Diese Zeilen sprechen für sich und für die Autorin, mehr als alle Worte des Rezensenten es vermöchten. Juli Zeh ist sicherlich ein literarisches Ausnahmetalent. Sie schreibt in einer anderen Liga als Mankell, Donna Leon, Ingrid Noll und wie ihre Schriftsteller-Kolleginnen und Kollegen alle heißen mögen. Mir fällt unter den Krimi-Autoren der jüngeren Generation nur der Name Jan Costin Wagner ein, der mich gleichermaßen beeindrucken konnte. Die Melange zwischen wissenschaftlicher Diskussion, philosophischer Spekulation und kriminalistischer Rahmenhandlung, die Juli Zeh hier in ihrem "Schilf" anrührt, kann man als durchweg gelungen betrachten. Bemerkenswerte Theorien über das Wesen der Zeit oder über den Ursprung des Universums, die von den beiden befreundeten Physikern und auch vom Kommissar diskutiert werden, tiefschürfende Gedanken also, lassen die Handlung fast ein wenig in den Hintergrund treten. Der Tatort wird zu einem Nebenschauplatz.

Es ist eine Idylle von Freundschaft und von Familienglück, die noch im ersten Kapitel vorherrscht, das wie alle Kapitel in mehrere Unterkapitel strukturiert und mit quasi humorvoll pointierten Überschriften versehen ist. Doch der siebente und letzte Teil dieses ersten Kapitels beendet die Idylle schlagartig. Dieser Abschnitt ist nur etwa eine halbe Seite lang, aber voll an richtungsweisender Bedeutung, ein Orakelspruch, der Dunkles heraufbeschwört: "Es ist der letzte glückliche Abend in dieser Wohnung, und mehr noch als für die anderen ist es für Sebastian pure Gnade, dass der Mensch nicht in die Zukunft sehen kann." Eine dramaturgisch geschickt platzierte Andeutung, die die spannungsvolle Erwartung im Leser wirkungsvoller schürt als das plumpe, brachiale Hantieren mit dem Schürhaken der Gewalt.

Kurze, spannungsgeladene Sätze kennzeichnen allgemein den Stil der Autorin, doch sind sie keinesfalls so kurz oder gar nichtssagend, dass man sie in die Nähe des Trivialen rücken möchte. Im Gegenteil, die Sätze treffen auf den Punkt und sind häufig auch gehaltvoll. Die Gedanken, die sie ausdrücken, sind von aphoristischer Bündigkeit. Einzig der übermäßige Gebrauch von Metaphern hat auf mich etwas störend gewirkt, obwohl die meisten dieser Metaphern der Kategorie "Spitzenklasse" zuzuordnen sind. Einige jedoch wirken mir zu aufgesetzt, wie, um Originalität um jeden Preis und nur um der Originalität willen zu erreichen. N. G. Dávila nennt die vorsätzliche und systematische Originalität "die zeitgenössische Uniform der Mittelmäßigkeit".

Mittelmäßigkeit jedoch möchte ich der Autorin auf gar keinen Fall unterstellen. Wenn sie sich nur noch ein wenig in der schwierigen Kunst übte, ein Höchstmaß an Ausdruck und Gehalt mit einem Minimum an Metaphern auszudrücken, um so ihren Stil noch weiter zu vervollkommnen, dann kann ihr kaum jemand unter den jüngeren Autoren das Wasser reichen. Mich hat Juli Zeh mit ihrem Roman "Schilf" nicht nur überzeugt, sondern sogar begeistert.

(Werner Fletcher; 09/2007)


Juli Zeh: "Schilf"
Verlag Schöffling & Co., 2007. 384 Seiten.
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Hörbuch:
Der Audio Verlag, 2007. Gelesen von Tatja Seibt.
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Juli Zeh, geboren am 30. Juni 1974 in Bonn, absolvierte 1998 das erste juristische Staatsexamen, 2003 das zweite. Gleichzeitig studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Auslandsaufenthalte, u.a. in Krakau, Zagreb, Sarajevo und New York. Juristischer Aufbaustudiengang "Recht der Europäischen Integration" (Magister, LL.M.Eur.).
Lien zur Netzseite der Autorin: https://www.juli-zeh.de.

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