Jean Starobinski: "Die Zauberinnen"
Macht und Verführung in der Oper
Die
Oper als Schauplatz stark verdichteter, dem Menschen ureigener
Gefühle
Die Spannung zwischen den Geschlechtern ist ein zentrales Thema in der
Oper.
In einer geradezu unendlichen Vielfalt von Variationen wird es
verarbeitet, und aufgrund seines Bezugs zum Alltagsleben zieht es,
wiewohl Situationen und Personen oftmals verfremdet vorliegen, die
Zuschauer immer wieder in seinen Bann.
Jean Starobinski, ein großer Opernfreund und -kenner,
ergründet in seinem Buch den Zauber, den die weiblichen
Opernrollen auf ihre männlichen Pendants und das Publikum
ausüben. Während im ersten Teil "Singen,
verführen" nebst den allgemeinen Ursachen der Zauberwirkung
von Opern vor allem literarische Vorlagen und deren Umsetzung durch
Librettisten und Komponisten untersucht werden, geht es im zweiten Teil
ganz speziell um Mozarts Opern. Dem Librettisten
da
Ponte, mit dem Mozart vorzüglich zusammenarbeitete,
kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, denn er verstand es
meisterlich, die oftmals allzu komplexen Vorlagen operntauglich
umzuarbeiten. Dennoch zeigt Starobinski auf, dass es in Mozarts Werken
vor allem der Musik zukommt, Spannung und Verführung
unmittelbar auf den Zuschauer und -hörer zu
übertragen. Die erotischen Verwirrspiele in der "Hochzeit des
Figaro", die Exzesse eines Don Giovanni, Idomeneos egoistisches,
für seinen Sohn fatales Versprechen, die "Zauberflöte"
und ihre zwischen Macht und Liebe scheinbar hoffnungslos aufgeriebenen
Charaktere: Auch nach über zweihundert Jahren ist es kaum
möglich, sich den starken, durch die Mittel der Oper
zusätzlich verdichteten Gefühlen zu entziehen, die
Mozarts Bühnenwerke prägen.
Im dritten Teil "Usurpationen und Revolten" werden Opern untersucht,
die auf starke literarische Vorbilder zurückgehen und von
diversen Komponisten und ihren Librettisten ebenfalls fesselnd
umgesetzt wurden. Zu den hier diskutierten großen Heldinnen
gehören unter anderem die Zauberin Alcina,
Julia
(natürlich einschließlich Romeos), Manon Lescaut und
Elektra, die ganz unterschiedliche Nuancen des Zusammenspiels von Macht
und Verführung repräsentieren und zugleich auch das
breite Spektrum weiblicher Charaktere aufzeigen.
Der abschließende Teil schließlich befasst sich mit
dem Zauber einzelner Interpretinnen und Interpreten, deren Stimmen und
Schauspiel das Publikum vor allem in bestimmten Rollen in ihren Bann
schlugen. Auch fasst der Autor hier die Faszination der Oper noch
einmal treffend und beeindruckend zusammen.
Dieses Buch ist zugleich packend und sehr informativ verfasst - der
Leser bemerkt sofort, dass er es mit einem ausgesprochen fachkundigen
Autor zu tun hat, der zugleich aufrichtige Begeisterung für
sein Thema empfindet, eine Begeisterung, die sich rasch auf den Leser
überträgt.
Für "Einsteiger" eignet sich das Buch dennoch nicht in idealer
Weise. Die Lektüre erweist sich vor allem dann als wertvoll,
wenn man zumindest einen Teil der besprochenen Werke bereits kennt und
den starken Zauber der Figuren und ihrer Interaktionen unmittelbar
erfahren hat. Umso mehr erschließt das Buch dann die
Gründe für diese Faszination; besonders interessant
sind in diesem Zusammenhang die Vergleiche der Libretti mit den
literarischen Vorlagen und die Einbettung einzelner Werke in das
Gesamtoeuvre der jeweiligen Komponisten sowie die Betrachtungen der
Umsetzung bestimmter Stoffe durch unterschiedliche Librettisten und
Komponisten.
Das Buch ist sehr gut allgemeinverständlich, sodass
Vorkenntnisse nicht erforderlich sind, abgesehen von der
erwähnten wünschenswerten "Opernerfahrung".
Doch auch sachkundige Leser werden interessante und nützliche
Erkenntnisse und Betrachtungen im Buch finden, da es einen eher selten
ausgeführten, aber bedeutsamen Aspekt des Operngeschehens
anspricht: die starken Gefühle, die wir alle kennen, Liebe,
Hass, Erotik, Verführung, Rache, verstärkt durch die
Macht der Musik.
(Regina Károlyi; 04/2007)
Jean
Starobinski: "Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der
Oper"
Aus dem Französischen von Horst Günther.
Mit farbigen Abbildungen von Karl-Ernst Herrmann.
Hanser, 2007. 326 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars"
Begriffsgeschichte
als Abenteuergeschichte? Ein scheinbar paradoxes Unterfangen. Wenn aber
ein Gelehrter vom Format Jean Starobinskis erzählt, wie unsere
Vorstellung entstanden ist, dass eine Handlung zwangsläufig
eine Reaktion hervorruft, dann entwickelt sich daraus eine Geschichte
voller überraschender Querverbindungen und Entwicklungen, die
2000 Jahre europäischen Wissens umspannt.
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"Die Melancholie im Spiegel.
Baudelaire-Lektüren"
Seine Neigung zur Melancholie, die - so Jean Starobinski - die intime
Gefährtin des Dichters war, kultivierte
Baudelaire
stets mit Wonne und Schrecken. In unterschiedlich gebrochener
Intensität stets gegenwärtig, durchzieht sie die
"Blumen des Bösen" und kann als die beherrschende Figur
gelesen werden. Die Interpretationen Starobinskis fördern
nicht nur viele Einsichten in die Geschichte der Melancholie zutage,
sondern sie sind auch Beispiele einer Lese-Kunst, die den Texten ihre
Unverwechselbarkeit und Schönheit belässt. (Hanser)
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