Hugh Barnes: "Der Mohr des Zaren"
Eine Spurensuche
Mut
zur Lücke: Biografie des
Urgroßvaters von Puschkin
Sklaven hinterlassen keine Spuren in der Geschichtsschreibung, wenn man
von
Ausnahmen wie Spartakus absieht. Und von Abram Petrowitsch Gannibal,
dessen
Leben so außergewöhnlich verlief, dass es auch einer
Biografie würdig wäre,
wenn er nicht den russischen Dichter
Alexander
Puschkin zu seinen Nachfahren zählte.
Gannibals Herkunft lässt sich nicht leicht nachvollziehen. War
er Äthiopier
oder Westafrikaner? Der Autor findet eine plausible Lösung,
ohne dafür den
Anspruch auf Richtigkeit zu erheben. Fest steht, dass Gannibal als
kleiner Junge
Sklave des türkischen Sultans wurde. Er fiel dem russischen
Diplomaten und
Spion Tolstoi auf, Vorfahr eines
anderen
großen russischen
Dichters, und wurde
zusammen mit zwei anderen "Mohren"knaben von diesem für den
Zaren
geraubt (oder gekauft, je nach Quelle).
Jedenfalls entwickelte sein Ziehvater Peter der Große rasch
Zuneigung zu ihm:
Der "Neger" erwies sich als überaus intelligent, weshalb der
Zar ihn
nach besten Möglichkeiten förderte. Außer
einer enormen Sprachbegabung besaß
der Junge auch außergewöhnliche mathematische und
logische Fähigkeiten und
tat sich schon früh beim Militär hervor.
In Frankreich erweiterte er seine Studien zum Militärwesen,
versuchte sich als
Agent und geriet als Söldner in den Spanischen Erbfolgekrieg.
Zurück in
Russland baute er bedeutende Festungen, darunter Kronstadt.
Als sein Zar und Pate starb, sank Gannibals Stern rapide. Der
nachfolgende
De-facto-Herrscher, Fürst Menschikow, hasste Gannibal schon
allein aufgrund von
dessen weit überlegener Bildung und schickte ihn nach Sibirien
ins Exil. Nach
Menschikows Entmachtung konnte sich Gannibal ein wenig reetablieren, er
mischte
auch beim Staatsstreich von Katharina der Großen mit, doch
mit der Zeit musste
er sich mit der Rolle eines anachronistisch anmutenden Privatiers
abfinden, als
der er schließlich auf seinem Landgut starb.
Dem Autor ist es gelungen, viel Licht ins Dunkel um die Geschichte des
Ziehsohns
Peters des Großen zu bringen, dem Puschkin selbst als "Mohr
des
Zaren" ein Denkmal gesetzt hat. Kritisch sichtet der Autor die Quellen
aus
Gannibals und Puschkins Familie, die versuchen, den exotischen
Stammvater möglichst
vorteilhaft zu präsentieren, vor allem als afrikanischen
Fürstensohn. Hugh
Barnes hat die wahrscheinliche Heimatstadt des "Mohren" aufgesucht und
eine logische Erklärung für dessen Herkunft gefunden.
Barnes hat aber auch in Sibirien
recherchiert, wo Gannibal Jahre der
Verbannung
verbrachte. Während einige Perioden aus Gannibals Leben
bestens durch Quellen
belegt sind, gibt es hier und da unangenehm klaffende Lücken.
Der Autor
versucht keineswegs, diese krampfhaft zu stopfen. Er diskutiert
Möglichkeiten,
die von Quellen gestützt werden, ohne je kühn zu
spekulieren.
Die Biografie bleibt also unvollständig. Dennoch gelingt es
Barnes, ein
erstaunliches und sehr abwechslungsreiches Leben spannend darzulegen,
behutsam,
manchmal vielleicht etwas arg bemüht um eine "politisch
korrekte"
Darstellung: Dass Rassismus im 18. Jahrhundert nicht minder
präsent war als
heute, wird kaum jemand leugnen wollen.
Über das Leben des Abram Petrowitsch Gannibal hinaus zeichnet
die Biografie
auch das Russland im Zeichen der Aufklärung unter Peter dem
Großen nach,
ebenso wie die anschließenden unruhigen Zeiten, in denen
Gannibal sich zu einer
Art "lebendem Fossil" entwickeln sollte, das den ihm für seine
wissenschaftliche und technische Arbeit gebührenden Ruhm
letztlich nicht recht
auskosten konnte.
(Regina Károlyi; 09/2007)
Hugh
Barnes: "Der Mohr des Zaren. Eine Spurensuche"
(Originaltitel "The Stolen Prince")
Deutsch von Michael Müller.
Knaus, 2007. 432 Seiten.
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Hugh Barnes wurde 1963 geboren.