Yi Munyol: "Der entstellte Held"
Schnell merkt er, dass hier
eine
von den Lehrern unbemerkte Diktatur vorherrscht, gegen die er sich zunächst
entschieden auflehnt. Doch die Erlösung kommt aus einer ganz anderen Ecke. Denn
weder kann Pyongtae seine Lehrer oder Eltern gegen seinen Gegner effektiv ins
Feld führen, noch gelingt es ihm, seine Schulkameraden gegen den Tyrannen in
ihrer Mitte zu mobilisieren.
Tatsächlich treiben ihn seine Anstrengungen in der Schule immer mehr in die
Resignation, bis er schließlich die Waffen streckt und einer der vertrautesten
Diener des heimlichen Gewaltherrschers wird. Allein hierin zeigt sich schon sehr
schön, wie leicht und mit welchen Mechanismen Menschen dazu gebracht werden können,
ein System - geradezu hingebungsvoll - zu unterstützen, das ihnen im Endeffekt
nichts als Nachteile einbringt.
Die "Rettung" kommt ebenso unerwartet wie aus einer neuen Richtung,
und Pyongtae wird fassungslos Zeuge, wie viele vermeidliche Parteigänger des
"Tyrannen" plötzlich Laut geben und sich aus der Deckung wagen -
dabei häufig solche, die die Schreckensherrschaft sehr aktiv und handgreiflich
unterstützt haben. Und er sieht auch, wie schwierig es nach solchen Erfahrungen
sein kann, in eine sogenannte "demokratische Lebensweise" überzuwechseln
- ein Problem, das sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zerfall der
UdSSR in vielen Ländern gezeigt hat. Freiheit und Eigenverantwortung sind den
Menschen wahrlich nirgendwo in die Wiege gelegt und "müssen" durchaus
erst aktiv gelernt werden.
Wie das ausführliche Nachwort von Heidi Kang deutlich macht, weist dieser Roman
einen sehr deutlichen Bezug zur koreanischen Geschichte auf. Aber auch ohne
diesen zeigt "Der entstellte Held" einige interessante Gedanken auf,
die sicherlich weiterdenkenswert sind.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2005)
Yi Munyol: "Der entstellte Held"
Aus dem Koreanischen von Kim Hiyoul und Heidi Kang.
Unionsverlag, 2004. 124 Seiten.
ISBN 3-293-20291-8.
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Yi Munyol wurde 1948 in Yongyang
in Südkorea geboren. Da seine Familie durch den Koreakrieg auseinandergerissen
wurde, hatte er eine turbulente Kindheit und Jugend, war eine Zeit lang
obdachlos und brach das Studium in Seoul ab. Heute gehört er zu den
bedeutendsten und meistgelesenen koreanischen Schriftstellern der Gegenwart,
seine Romane und Erzählungen sind in viele Sprachen übersetzt. Yi Munyol ist
u. a. 1992 mit dem Koreanischen Preis für Literatur und dem französischen
Verdienstorden für Kultur und Literatur ausgezeichnet worden. Er lebt in Südkorea.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Jugendjahre"
Korea in den 1960er Jahren: In einem kleinen Hafenort bereitet sich ein junger
Mann auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vor. Nebenbei arbeitet er
als Buchhalter für seinen Bruder, der in einem kleinen Kahn aus einem Fluss
Sand baggert, um damit Geld zu machen. Er begegnet dem "Geschwisterpaar aus
der Villa" und freundet sich mit den beiden an. Als er aber erfährt, dass
die Schwester die Mätresse eines reichen Mannes ist, der sie und ihren Bruder
aushält, bringt er seine Prüfungen hinter sich und verlässt das Dorf. Er
beginnt mit seinem Studium und gerät sehr schnell in Konflikte mit dem
herrschenden gesellschaftlichen System. Ihm, dem mittelosen Student, begegnet in
Seoul seine erste große Liebe, die aber an den bestehenden Standesschranken
zerbricht. Daraufhin begibt er sich auf eine Reise durch Südkorea und sucht
nach einer neuen Perspektive für sein Leben. Die Reise endet mit seiner Ankunft
am Meer, von dem er sich eine Antwort erhofft. (Pendragon)
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Leseprobe:
Es muß Anfang Juni gewesen sein, denn die Akazien am Dammweg zu unserer Schule
blühten. Yun Byongjo von der Wäscherei hatte etwas Besonderes mit in die
Schule gebracht und prahlte in der Klasse damit. Es war ein teures vergoldetes
Feuerzeug, eins von denen, die wir "runde Feuerzeuge" nannten. Es ging
von Hand zu Hand und verursachte etwas Unruhe. Sokdae, der einen Moment draußen
gewesen war, sah es, sobald er zurückkam. Er kam näher, streckte seine Hand
aus und sagte:
"Zeig mal her!"
Die Schüler, die bis dahin lachend ihre Bewunderung gezeigt hatten,
verstummten, und das Feuerzeug gelangte in Sokdaes Hände. Er drehte und wendete
es eine Weile.
"Wem gehört es?" fragte er Byongjo ausdruckslos.
"Meinem Vater", antwortete dieser mit plötzlich erstickter Stimme.
"Hat er es dir geschenkt?"
"Nein, ich hab es nur mitgebracht."
"Wer weiß, daß du es genommen hast?"
"Nur mein Bruder."
Ein leichtes Lächeln umspielte Sokdaes Mund. Er begann, das Feuerzeug mit neuem
Interesse zu untersuchen.
"Toll", sagte Sokdae schließlich, noch immer das Feuerzeug haltend,
und blickte Byongjo fest an.
Ich hatte Sokdae von Anfang an beobachtet und war plötzlich gespannt. Aus
meiner Erfahrung wußte ich, daß er mit seinen Worten etwas anderes meinte, als
man allgemein darunter verstand.
Wenn er etwas haben wollte, das einem anderen gehörte, bedeutete sein Toll!, daß
er es verlangte. Im allgemeinen reichte das aus, damit man es ihm gab, aber
manchmal zögerte ein Schüler. Dann pflegte Sokdae zu sagen: "Leih es
mir!" Natürlich wollte er damit sagen: "So gib schon her!"
Niemand konnte sich dem widersetzen. Nie nahm er also den Jungen direkt etwas
weg, es wurde ihm tatsächlich gegeben. Ich hatte damals noch keinen Begriff für
indirekte Erpressung und hatte diese "Geschenke" immer in Ordnung
gefunden, aber an diesem Tag erkannte ich, daß nicht einmal mehr ein Minimum an
Schein gewahrt wurde.
Wie zu erwarten, war Byongjo den Tränen nahe und verlangte flehentlich:
"Gib es wieder her! Ich muß es zurücklegen, bevor mein Vater
heimkommt."
"Wo ist denn dein Vater?" fragte Sokdae ruhig, indem er Byongjos
ausgestreckte Hand geflissentlich übersah.
"In Seoul. Er kommt morgen zurück."
"Ach so", sagte Sokdae gedehnt und betrachtete wieder das Feuerzeug.
Plötzlich schien ihm etwas eingefallen zu sein und er warf mir einen Blick zu.
Ich hatte ihn beobachtet und wartete auf den entscheidenden Fehler, aber unter
seinem plötzlichen Blick schrak ich zusammen. Er schien zu besagen, daß ich
ihm auf die Nerven ging, und sein Aufblitzen zeigte, wie wütend er war, so daß
ich weiter zurückfuhr. Aber das dauerte nur einen Moment lang. Völlig gelassen
gab er Byongjo das Feuerzeug zurück und sagte: "Schade. Ich wollte es nur
leihen. Dann eben nicht."
Ich war sehr enttäuscht, daß Sokdae so leicht verzichtete. Seine Augen, die
geradezu an dem Feuerzeug geklebt hatten, während er es in seinen Fingern
spielen ließ, hatten mir deutlich seine Habgier gezeigt. Seine Fähigkeit, sich
zu kontrollieren und plötzlich sein Verhalten zu ändern, flößten mir erneut
Furcht ein.
Aber selbst Sokdae hatte seine Grenzen. Auf dem Heimweg bemerkte ich, daß
Byongjo ganz anders war als am Morgen. Er schien bedrückt, und während die
anderen lärmend aus dem Schultor stürmten, folgte er ihnen in einiger
Entfernung mit hängenden Schultern. Ich wußte sofort, was mit ihm los war.
Wir wohnten im gleichen Viertel, und ich hätte mit ihm zusammen gehen können,
entschloß mich aber, einen gewissen Abstand zu halten, denn ich spürte, daß
Sokdae uns heimlich beobachtete. Erst als die anderen sich hier und da in ihren
Vierteln getrennt hatten und Byongjo sich nun allein mutlos dahinschleppte,
beschleunigte ich meinen Schritt.
"He, Byongjo!" rief ich.
Er ging langsam, in Gedanken verloren. Plötzlich aufgeschreckt, schaute er sich
um.
"Sokdae hat dir das Feuerzeug weggenommen, nicht?" fragte ich ohne
Umschweife, ohne ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen. Er schaute sich nach allen
Seiten um und sagte dann mutlos: "Weggenommen eigentlich nicht,
geliehen."
"Das ist doch wegnehmen, oder? Dein Vater kommt doch morgen nach
Hause."
"Ich sag meinem Bruder, er soll nichts verraten."
"Du willst also Sokdae das Feuerzeug schenken, das du deinem Vater
gestohlen hast? Sagt dein Vater denn nichts, wenn sein teures Feuerzeug weg
ist?"
Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr.
"Das ist es eben. Es ist ein Geschenk von meinem Onkel in
Japan."
Endlich war er mit der Wahrheit übergekommen. Mit einem ganz unkindlichen
Seufzer fügte er hinzu: "Was soll ich machen?
Sokdae wollte es haben."
"Du hast es ihm geliehen, oder? Dann kannst du es doch zurückfordern", sagte
ich höhnisch, denn ich konnte seine absurde Resignation nicht
ertragen. Aber der arme Teufel steckte so tief in seinen Sorgen, daß er
meinen Spott gar nicht merkte und ihn wörtlich nahm.
"Er gibt es sicher nicht zurück."
"So? Das nennst du also leihen? Weggenommen hat er es."
Er schwieg.
"Sei nicht so dumm. Warum gehst du nicht zum Lehrer? Das ist besser, als
dich von deinem Vater ausschimpfen zu lassen."
"Das kann ich nicht!"
Seine Stimme war diesmal lauter. Er schüttelte den Kopf, um seine
Entschlossenheit zu zeigen. Wieder einmal war ich auf die besondere Seelenlage
dieser Schüler gestoßen, die sich meinem Verständnis entzog.
"Hast du solche Angst vor Sokdae?"
Ich hielt dies für eine Gelegenheit, endlich einen Beweis zu bekommen, und
packte ihn bei seinem Stolz. Vergeblich. Trotz des momentanen Aufblitzens in
seinem beschämten Blick antwortete er fest: "Du hast keine Ahnung. Halt
dich also da raus!"
Trotzdem war das Gespräch nicht völlig ergebnislos. Byongjo ging schweigend
weiter, die Lippen wie eine Muschel fest aufeinandergepreßt, während ich ihm
folgte und ihn weiter aufhetzte.
Wenigstens hatte ich unwiderleglich festgestellt, daß Sokdae das Feuerzeug
weggenommen, nicht geliehen hatte. Das war immerhin etwas Greifbares in meinem
Bestreben, Sokdaes Missetaten aufzudecken.
Als ich am nächsten Morgen in die Schule kam, suchte ich gleich den
Klassenlehrer im Lehrerzimmer auf. Ohne das geringste Gefühl dafür, etwas
Feiges zu tun, erzählte ich ihm die Sache mit Byongjo und ähnliche, die ich
selbst gesehen oder gehört hatte. Aber obgleich dies doch ein prächtiges
Beispiel für die Gewitztheit eines Schülers aus Seoul darstellte, war die
Reaktion des Lehrers unerwartet. "Was sagst du da? Bist du ganz
sicher?"
An seinem Ausdruck konnte ich deutlich ablesen, daß er die Sache höchst lästig
fand. Irritiert begann ich, auch von anderen Missetaten Sokdaes zu berichten,
Dinge, die bis dahin reine Vermutungen waren. Der Lehrer wollte nichts davon hören
und warf mich mit verärgerter Stimme hinaus.
"Schon gut. Geh jetzt in die Klasse. Wir werden das gleich klären."
Obwohl die Reaktion des Lehrers nicht vielversprechend war, machte es mir doch
ein wenig Hoffnung, daß er der Sache nachgehen wollte, und ich wartete
ungeduldig auf den Unterrichtsbeginn. Aber in der Freistunde kurz vor der
Morgenversammlung geschah etwas, das alles ändern sollte. Ein Botenjunge kam
durch die hintere Tür, machte Sokdae ein Zeichen und flüsterte ihm etwas zu.
Der Junge hatte die Grundschule vor zwei Jahren absolviert und war nun als Bote
angestellt. Sobald ich ihn sah, schwante mir nichts Gutes. Mir fiel ein, daß er
während meines Berichts über Sokdaes Missetaten ganz in der Nähe am Kopierer
gearbeitet hatte.
Wie erwartet ging Sokdae an seinen Platz zurück, überlegte einen Augenblick,
zog das Feuerzeug aus der Tasche und ging zu Byongjo. "Kommt dein Vater
nicht heute? Da, gib es ihm zurück!"
Er reichte Byongjo das Feuerzeug und sagte dann laut: "Ich hab es an mich
genommen, damit nicht aus Versehen ein Brand entsteht. Das ist kein
Spielzeug."
Er sprach so laut, daß die ganze Klasse ihn hören konnte. Byongjo war zunächst
völlig verdutzt, doch dann leuchtete sein Gesicht auf.
Knapp fünf Minuten später betrat der Lehrer mit steinerner Miene die Klasse.
"Om Sokdae!" rief er, sobald er das Pult erreicht hatte. Sokdae
antwortete und erhob sich gelassen. Mit ausgestreckter Hand forderte der Lehrer
ihn auf: "Gib das Feuerzeug her!"
"Wie bitte?"
"Das Feuerzeug von Byongjos Vater."
Sokdae antwortete, ohne rot zu werden: "Ich hab es Byongjo schon zurückgegeben.
Ich habe es nur aufbewahrt, damit kein Feuer ausbricht."
"Was sagst du?"
Der Lehrer warf mir einen erzürnten Blick zu, befragte aber noch Byongjo, um
sich von dem Sachverhalt zu überzeugen. "Stimmt das? Wo ist das
Feuerzeug?"
"Ja. Hier ist es," antwortete Byongjo rasch. Ich war völlig perplex.
Betäubt saß ich da und wußte nicht, wie ich diese Wendung der Dinge erklären
sollte. Da rief der Lehrer mich auf.
"Was sagst du dazu?"
Es war weniger eine Frage als ein Tadel. Ich sprang auf und schrie: "Er hat
es heute morgen zurückgegeben, gerade eben erst..."
Meine Stimme zitterte so vor Empörung, daß der Lehrer mir keinen Glauben
schenkte.
"Halt den Mund! So viel Theater um nichts!" schnitt er mir das Wort
ab. Ich konnte also nicht mehr erklären, daß der Bürojunge Sokdae gewarnt
hatte. Tatsächlich gab es keinen Beweis dafür, daß Sokdae etwas erfahren
hatte.
Der Lehrer ignorierte mich weiter und wandte sich nun an die ganze Klasse:
"Stimmt es, daß Sokdae euch drangsaliert? Ist einer von euch mißhandelt
worden?"
Da wir nun schon einmal damit begonnen haben, schien seine Stimme zu sagen,
gehen wir der Sache auf den Grund. Die Gesichter der Jungen waren plötzlich
starr. Als er das merkte, wurde der Lehrer mißtrauisch und sagte im sanfteren
Ton: "Ihr könnt hier ganz offen sprechen, ihr braucht keine Angst vor Om
Sokdae zu haben.
Erzählt mal. Wo wurde wem etwas weggenommen, wer wurde grundlos verprügelt,
irgendwer?"
Niemand meldete sich oder stand auf, niemand sagte auch nur einen Ton. Mit einer
gewissen Erleichterung blickte der Lehrer eine Weile auf die Klasse und fragte
dann noch einmal: "Niemand? Ich habe gehört, es sollen nicht wenige
sein."
Die Hälfte der Klasse in der Gruppe um Sokdae rief: "Niemand." Das
Gesicht des Lehrers erhellte sich merklich, und er hakte noch einmal nach:
"Seid ihr sicher? Ist nichts vorgefallen?" "Nein, nichts!"
riefen diesmal alle Schüler aus vollem Hals außer Sokdae und mir.
"Also gut. Beginnen wir mit dem Unterricht."
Der Lehrer, der die ganze Untersuchung so geführt hatte, als kenne er das
Ergebnis von vorn herein, öffnete das Klassenbuch. Er ließ mich in Ruhe, und
ich konnte froh sein, daß er mich nicht vor der versammelten Klasse abkanzelte.
Er vertraute einfach Sokdae und der Klasse und ließ die Sache auf sich beruhen.
Schließlich begann der Unterricht, aber aufgebracht durch diese irre Verkehrung
der Umstände, war ich völlig außerstande, den Worten des Lehrers zu folgen.
Das einzige, was ich mitbekam, war das eigenartige Brummen von Sokdaes Stimme in
meinem Kopf. Mit ganz neuem Triumphgefühl beantwortete er sämtliche Fragen.
Erst am Ende der Stunde nahm ich die Stimme des Lehrers wahr.
"Han Pyongtae, komm einen Augenblick zum Lehrerzimmer,"
sagte er beim Hinausgehen mit verhaltenem Ärger. Ich stand automatisch auf und
folgte ihm. Feindlich dröhnte mir eine Beschimpfung hinterher: "Scheißkerl!
Was für ein ekelhafter Petzer!" (...)