Mathias Mertens: "Kaffeekochen für Millionen"

Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web


Einzelne Phänomene, die unerwartet das Internet revolutionierten

Fünfzehn Jahre World Wide Web: keine lange Epoche, scheint es, und doch hat sie die Kommunikation revolutioniert. Da lohnt es sich durchaus, einmal Internet-Ereignissen nachzuspüren, die weit reichende Entwicklungen anstießen. Denn es gab, wie der Autor aufzuzeigen weiß, keine einzelne "Mondlandung" des WWW, sondern diverse, unvorhersehbare "Mondlandungen".
Mathias Mertens stellte die vierzehn von ihm ausgewählten Ereignisse in chronologischer Reihenfolge vor. Zunächst geht es um die titelgebende Trojan-Room-Coffee-Machine des Computer Science Departments der Universität Cambridge, die ab 1993 erste Live-Bilder im Internet lieferte. Sie dienten dazu, den Wissenschaftlern einen Hinweis zu geben, ob der Weg zur Kaffeemaschine lohnte oder nicht (da offensichtlich niemand einen starken Anreiz zum Kaffeekochen verspürte). Aus im Grunde unerfindlicher Ursache wurde die Seite millionenfach angeklickt und gewann Kultstatus.
Mit dem Spiel "Doom" etablierte sich das Shareware-Prinzip, das bei geringstem Marketingaufwand enorme Gewinne abwarf. "Doom" brachte nebenbei mit seinen Systemanforderungen den rasanten Fortschritt der Hardware-Entwicklung ins Rollen. Und als Netscape, die Firma, die den ersten bequemen Browser herausbrachte, an die Börse ging, läutete dies die Geburt des "Neuen Marktes" ein.
Die Pathfinder-Mission 1997 und die Lewinsky-Affäre 1998 lenkten über das Internet die Aufmerksamkeit von Millionen auf Ereignisse, die eigentlich wenig spektakulär waren und erst durch das im Internet gezündete Interesse medientauglich wurden. 1999 bewies das Blair Witch Project, dass eine geschickt eingefädelte Vorab-Werbekampagne im Internet einem Produkt von mäßiger Qualität zu hoher Nachfrage verhelfen kann. Das Projekt SETI@home wiederum vernetzte mehrere hunderttausend private PCs, deren vereinigte Rechenkapazität außerirdische Radiosignale entschlüsseln sollte - und deren Besitzer sich als mögliche Handlanger bei einer epochalen Entdeckung fühlen konnten. Interessant ist auch der von einem Spaßvogel künstlich herbeigeführte "Boom" der unbeholfenen privaten Website des zuvor gänzlich unbekannten Türken Mahir Cagri, deren "Authentizität" die Internetnutzer ebenso faszinierte wie später, während des Irakkriegs, das Kriegstagebuch des Bagdad-Bloggers.
Die kurze Lebensspanne von "Napster" leitete das Aufkommen von auch heute trotz der gesetzlichen Grauzonen weit verbreiteten digitalen Tauschbörsen ein. Napster war ebenso ein Geistesblitz wie eBay, das ursprünglich ebenfalls als Tauschplatz gedacht war - für Sammler skurriler und antiquarischer Objekte. Ein Kapitel befasst sich mit einer für die Wirtschaft gefährlichen Nebenwirkung des Internets am Beispiel des I-love-you-Virus. Und ICANN, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, ist der einzige zentralistische Aspekt des Internets, unterliegt aber zumindest vordergründig dem Demokratieprinzip.
2003 wurden erste im großen Maßstab erfolgreiche Machinima entwickelt, Filme, die aus Computerspielen hervorgingen (den Anfang machte Red vs. Blue) und von der Spieleindustrie sogar unterstützt wurden, weil sich ein enormer Werbeeffekt ergab.
Den Abschluss bildet der Kult um den Ratzinger-Golf, eine Art moderner Reliquie, dessen spektakuläre Versteigerung im Internet für den Käufer eine großartige Reklame darstellte.
Im mit "Vom akkumulativen Charakter des Internetereignisses" betitelten Nachwort geht es um den Unterschied zwischen dem Internet und den anderen Massenmedien, insbesondere aber um die Funktion des klassischen Journalismus, dem die Meinungsbildungshoheit während des Hochschwappens der Lewinsky-Affäre entglitten zu sein schien, der sich aber als Sieb für die zahllosen Informationen des Internets alsbald reetablierte. Denn kaum ein Leser wusste den chaotischen Gerüchte- und Datenwust auf eigene Faust zu durchdringen. Daher hat das Internet die Bedeutung des Print-, Fernseh- und Radiojournalismus nicht beeinträchtigt.

Trotz oder gerade aufgrund der subjektiven Auswahl der genannten Meilensteine des Internets lässt sich dessen sprunghafte Geschichte vorzüglich nachvollziehen. Auch wenn der Leser vielleicht eine andere Gewichtung vornehmen würde, machen die genannten "Mondlandungen" das entmaterialisierte Medium Internet begreiflich und zeigen auf packende Weise die von ihm gebotenen enormen Chancen, aber auch seine Grenzen und Gefahren auf. Das Buch füllt eine Marktlücke, denn über technische Aspekte hinaus findet man kaum allgemeinverständliche Veröffentlichungen zum "WWW". Der Autor pflegt einen sachlichen, aber keineswegs trockenen Stil und wendet sich ebenso an ein Fachpublikum wie auch an den am Internet interessierten Laien.
Bis auf einige kleine sprachliche Nachlässigkeiten des Lektorats bzw. Korrektorats überzeugen auch die Aufmachung und die gesamte Umsetzung. Ein Buch, das ein in der Öffentlichkeit eher selten diskutiertes, aber höchst interessantes Thema vorzüglich aufbereitet!

(Regina Károlyi; 04/2006)


Mathias Mertens: "Kaffeekochen für Millionen"
Campus, 2006. 183 Seiten.
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Mathias Mertens, Dr. phil., Literatur- und Medienwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen sowie Lehrbeauftragter für Film- und Computerspielgeschichte an den Universitäten Hannover und Hildesheim. Er schreibt u. a. für "DE:BUG", "SPEX", "Freitag", "GEE" und "Financial Times Deutschland".