Renate Wiggershaus: "Virginia Woolf"
Eine
Frau mit Geld und eigenem Zimmer
Bei Virginia Woolf (1882-1941), seit 1910 aktiv in der Frauenbewegung,
trafen sich in ihrem Haus im Londoner Stadtteil Bloomsbury die
Intellektuellen ihrer Zeit - eine Diskussionsrunde an
Donnerstagabenden, später auch als Bloomsbury-Gruppe
bezeichnet. 1905 mieteten die Woolfs das Hogarth House, kauften sich
später eine Druckerpresse und veröffentlichten in der
sogenannten Hogarth Press ihre Werke. Im Mai 1927 erschien Virginia
Woolfs wohl wichtigster Roman 'To the Lighthouse'
(dt. 'Zum Leuchtturm'); später publizierte sie auch
sozialkritische Schriften. Sie kannte u.a. T.S. Eliot und
Sigmund Freud, sie trat z.B. im Arbeiterbildungsverein
Brighton auf - im März 1941 ertränkte sie sich - und
das vorliegende Buch versucht zu erläutern, wie es zu alledem
kam.
Virginia Woolfs Desinteresse an heterosexuellem Sex rührte
wohl daher, dass sie und ihre Schwester Vanessa in ihrer Kindheit von
ihren Halbbrüdern George und Gerald sexuell missbraucht worden
waren. Ihren ersten psychischen Zusammenbruch erlitt die
13jährige Virginia beim Tod ihrer Mutter, den zweiten nach dem
Tod ihres Vaters 1904. Es war ihr älterer Bruder, der den
Donnerstag als jour fixe etablierte und auch den
sogenannten Freitagsclub gründete, wo Leute wie D.H. Lawrence,
Clive Bell, John Maynard Keynes und
Bertrand Russell zusammenfanden.
Ihre Ehe (seit 1912) mit dem Schriftsteller Leonard Sidney Woolf
bezeichnete Virginia als glücklich, obwohl sie keine Kinder
bekommen konnte, Beziehungen zu Frauen pflegte, an Depressionen litt
und 1913 ihren ersten Selbstmordversuch unternahm. Damals galt es
offensichtlich auch nicht als ehrenrührig, dass Virginia Woolf
quasi im Eigenverlag ihre Bücher publizierte. Im August 1925
erfolgt ihr dritter Zusammenbruch, 1935 versucht sie sich auf einer
Europareise von einer weiteren psychischen Erkrankung zu erholen.
Mit 'A Room of One's Own' (1929; dt. 'Ein eigenes Zimmer') und 'Three
Guineas'
(1938; dt. 'Drei Guineen') publizierte Virginia Woolf zwei
vielbeachtete feministische Essays. Im Jahr 1941 fiel sie in eine nicht
mehr enden wollende
Depression, in der sie fürchtete, die
psychischen Störungen aus der Vergangenheit könnten
sich wiederholen, als sie Stimmen hörte und unfähig
war zu arbeiten. Am 28. März 1941 wählte
Virginia Woolf im Fluss Ouse bei Lewes in Sussex den Freitod. In den
Jahren 1974 bis 1984 wurden ihre Tagebücher in fünf
Bänden veröffentlicht, zwischen 1975 und 1980 ihre
Korrespondenzen. Seit 1989 erscheinen ihre Gesammelten Werke auf
Deutsch in neuen Übersetzungen.
Das vorliegende Buch schildert recht eingängig die
Befreiungsprozesse aus dem viktorianischen Milieu, betont wird die
Wichtigkeit der geselligen Diskussionsabende - wobei Wiggershaus
grundsätzlich konstatiert, Virginia Woolf habe ein "reges,
tätiges, erfülltes Leben" geführt, und sie
"las unglaublich viel." Mit ihrem Essay 'Moderne Romankunst' (1919)
leitete sie ihren Übergang zur
Bewusstseinsstrom-Methode ein: "Wir wollen die Atome
aufzeichnen, und zwar in der Abfolge, wie sie ins Bewusstsein fallen,
wir wollen das Muster nachzeichnen, so unverbunden und zusammenhanglos
es auch erscheinen mag, das jeder Anblick und jedes Ereignis dem
Bewusstsein aufprägt."
Wichtiger als die äußere chronologische wird die
innere erlebte Zeit - der utilitaristisch stimmigen Welt des
Viktorianismus stellte Virginia Woolf eine ungeordnete,
brüchige Welt gegenüber. Im August 1929 ist sie
von der Lektüre des
'Ulysses' von James Joyce fasziniert und entwickelt ihre
Schreibtechnik weiter: erlebte Rede, innerer Monolog, Multiperspektive,
Leitmotivik.
Wiggershaus macht klar, dass Virginia Woolf mit ihrem "an die Grenzen
der Belastbarkeit stoßenden Arbeits- und Lebensstil" ihre
Zusammenbrüche quasi vorprogrammierte. Dennoch hat sie
für sich ihr Ideal als Frau mit Geld und eigenem Zimmer (vgl.
ihren Essay von 1929) lange Zeit verwirklichen können. Doch
starke Selbstzweifel nagten an ihrer Substanz - der Tod der Eltern und
etlicher Freunde, die beiden Weltkriege ebenso. Woolf wusste auch, dass
sie auf der Liste der Gestapo stand, im Falle eines deutschen Sieges in
England verhaftet zu werden. Diesbezüglich notiert sie im Mai
1940 in ihrem Tagebuch ernsthafte -Selbstmordgedanken. London wird
bombardiert, auch die beiden Häuser der Woolfs werden
zerstört - sie flüchten aufs Land nach Sussex. Hier
beschließt Virginia Woolf endgültig ihrem Leben ein
Ende zu setzen und schreibt in ihrem Abschiedsbrief an ihren Mann:
"Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder
verrückt werde. Ich glaube, wir ertragen eine so schreckliche
Zeit nicht noch einmal." Wiggershaus liefert hier ein gediegenes,
unspektakuläres Porträt, welches dadurch umso
eindringlicher wirkt. Es sollte uns motivieren, uns wieder einmal mit
Virginia Woolf zu beschäftigen - war sie doch neben Joyce die
bedeutendste Vertreterin der Bewusstseinsstrom-Technik
und somit eine Impulsgeberin für den neueren modernen Roman.
(KS; 01/2007)
Renate
Wiggershaus: "Virginia Woolf"
dtv, 2006. 181 Seiten.
Renate
Wiggershaus publizierte Bücher zu Themen aus der Geschichte
der
Frauenbewegung sowie diverse Biografien. Bei dtv ist von ihr in der
Reihe dtv
portrait erschienen:
"Joseph Conrad"
Joseph Conrad (1857-1924) bereiste die Meere seit seinem 17. Lebensjahr
und
erwarb später selbst das Kapitänspatent. Er
ließ die gewonnenen Eindrücke in
seine Romane und Erzählungen einfließen,
ungewöhnlich dichte Schilderungen
von Menschen in existenziellen Situationen. Mit seinen großen
Romanen wie
"Herz
der Finsternis", "Lord Jim" und "Nostromo",
die auch immer wieder verfilmt wurden, schrieb sich der
gebürtige Pole Conrad
in die erste Riege englischsprachiger Schriftsteller ein.
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