Virginia Woolf: "Mrs Dalloway"
"Ich glaube ganz ehrlich, dass dies
der gelungenste meiner Romane ist." (Tagebucheintrag von Virginia Woolf am
13. Dezember 1924)
Himmelhoch jauchzend, zu Tode
betrübt, empfindsam und verletzend, krank und kreativ ...
Adeline
Virginia Stephen wurde am 25. Jänner 1882 als jüngste Tochter in eine Familie
der gehobenen Londoner Mittelschicht geboren. Ihr Vater, Sir Leslie Stephen,
Biograf und Kritiker, lehrte sie lesen und schreiben - denn wie es den damaligen
Gepflogenheiten entsprach, besuchten Mädchen keine höheren Schulen. Mit
Leidenschaft vertiefte sich Virginia in die Schätze der väterlichen
Bibliothek.
Als ihre Mutter starb, war Virginia dreizehn Jahre alt und erlitt
ihren ersten Nervenzusammenbruch. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1904 war sie
dem sexuellen Missbrauch durch den älteren Stiefbruder ausgeliefert.
Virginia
und ihre Schwester Vanessa waren gesellschaftlicher Mittelpunkt der "Bloomsbury
Group", einem avantgardistisch-snobistischen Kreis von Künstlern und Literaten,
die der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie (scheinbar) der freien Liebe
und der sexuellen Toleranz huldigten.
1912 heiratete Virginia den Verleger
Leonard Woolf (1880-1969), den sie in der "Bloomsbury Group" kennen gelernt
hatte, und der sich fortan hingebungsvoll um seine - pardon - nicht immer
"pflegeleichte" Frau kümmerte.
Die literaturbegeisterten Eheleute gründeten
im Jahr 1917 den Verlag Hogarth Press.
Virginia Woolf
fühlte sich zu Frauen hingezogen; mit ihrer langjährigen engen Freundin Vita
Sackville-West unterhielt sie auch eine sexuelle Beziehung.
Die
Schriftstellerin verfasste Romane, die zu den Meisterwerken der englischen
Literatur des 20. Jahrhunderts zählen, sie war eine der einflussreichsten
Essayistinnen ihrer Zeit und eine Symbolfigur der Frauenbewegung. Ihr Werk
umfasst weiters Erzählungen, Tagebücher und Briefe.
Virginia Woolf litt
seit ihrer Jugend unter einer labilen psychischen Disposition mit
Depressionsschüben, unter Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen,
Schlaflosigkeit und heftigen Gemütsschwankungen. Sie erlitt mehrere
Nervenzusammenbrüche, unternahm in schweren Krisen Suizidversuche und schied
schließlich am 28. März des Jahres 1941 aus dem Leben.
Der Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs, die Furcht vor einer Invasion der Nazis und die seit August
1940 auf englische Städte fallenden Fliegerbomben der deutschen Luftwaffe hatten
dazu beigetragen, Virginia Woolfs psychische Leiden zu verschlimmern.
Davon
überzeugt, Stimmen zu hören, ertränkte sie sich, die Jackentaschen mit Steinen
gefüllt, aus Furcht vor geistiger Umnachtung im Fluss Ouse unweit ihres Domizils
in Sussex. Ihre im Wasser treibende Leiche wurde erst Wochen später von Kindern
gefunden.
In einem ihrer an Leonard Woolf gerichteten Abschiedsbriefe schrieb
sie:
"I feel certain that I am going mad again. I feel we can't go through
another of those terrible times. And I shan't recover this time. I begin to hear
voices, and I can't concentrate. So I am doing what seems the best thing to do.
You have given me the greatest possible happiness. You have been in every way
all that anyone could be. I don't think two people could have been happier till
this terrible disease came. I can't fight any longer. I know that I am spoiling
your life, that without me you could work. And you will I know. You see I can't
even write this properly. I can't read. What I want to say is I owe all the
happiness of my life to you. You have been entirely patient with me and
incredibly good. I want to say that - everybody knows it. If anybody could have
saved me it would have been you. Everything has gone from me but the certainty of your goodness. I can't go on spoiling your life any
longer. I dont think two people could have been happier than we have been."*
Auf
dem Bewusstseinsstrom treiben, dem inneren Monolog die Zügel schießen lassen
...
"Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen ... Und
dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen - frisch, wie geschaffen für
Kinder am Strand." - so beginnt der Roman "Mrs Dalloway (Arbeitstitel "The
Hours").
Virginia Woolf wollte darin "das Leben einer Frau in einem einzigen
Tag" verdichten, nicht unbeeinflusst vom "Ulysses" des gebürtigen Dubliners
James Joyce
(1882-1941).
Der Roman "Ulysses", erschienen in Paris am 22. Februar
1922, dem 40. Geburtstag des Autors, blieb übrigens zunächst für lange Jahre
wegen Obszönität in Großbritannien und den USA verboten. "Ulysses" gilt als
Schlüsseltext der literarischen Moderne. James Joyce schildert darin einen Tag
im Leben des Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom, nämlich den 16. Juni 1904,
wobei er sich eines zu jener Zeit als innovativ geltenden erzähltechnischen
Stilmittels bediente: der konsequenten Darstellung des menschlichen
Bewusstseinsstroms, Schrift geworden in Form des inneren
Monologs.
Dabei öffnet sich dem Leser das Bewusstsein der erzählten
Figuren unvermittelt, soll heißen ohne kommentierende Einschübe eines Erzählers,
und die äußere Handlung tritt zugunsten des gedanklichen Selbstgesprächs der
jeweiligen Figur in den Hintergrund. Der Bewusstseinsstrom ist als
spontan-assoziativ zu charakterisieren, er kreist in sich, läuft überwiegend in
ungeordneter Form ab, umfasst gleichzeitig Erleben, Erinnern, Sinneseindrücke,
Gefühle (Stimmungen) und Fantasien, zuweilen werden sprachliche Elemente
interpunktionslos aneinander gereiht, wobei Kriterien wie korrekte Satzstellung
und Grammatik an Bedeutung verlieren und räumliche wie zeitliche Distanzen
schrumpfen bzw. überhaupt aufgehoben sind.
Die Erzähltechnik des alles
überlagernden Bewusstseinsstroms, der Darstellung der inneren Realität in derart
konzentrierter Form, tritt vorrangig in der englischsprachigen Romanliteratur
des 20. Jahrhunderts auf. Für den deutschen Sprachraum wäre beispielsweise
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" als kontinentaler Artverwandter
anzuführen.
Doch zurück zu Virginia Woolf! Ihre Clarissa Dalloway, die
52-jährige Gattin eines Politikers, gehört einer anderen sozialen Schicht an als
Leopold Bloom und seine Standesgenossen im "Ulysses". Es wäre gewiss
unschicklich, (wenngleich nicht uninteressant), einer Dame der Oberschicht ganz
ohne britische Zurückhaltung in deren höchstpersönliche Abgründe zu folgen ...
Jedoch, es hat nicht sollen sein, und so vernimmt man dezente vielstimmige
Klänge der Nostalgie, des Träumens, der Melancholie, der Wehmut, aber auch der
Romantik, der Poesie und der Ironie aus den inneren Monologen jenes 13. Juni
1923, die mit autobiografischen Details aus dem Leben der Schriftstellerin
Virginia Woolf durchwebt sind.
Dieser 13. Juni 1923 ist ein Tag wie viele
andere im Leben von Mrs Dalloway: Eine noble Abendgesellschaft in ihrem Haus
steht an, allerlei ist vorzubereiten und zu besprechen. Ein Umstand bedingt
allerdings, dass sich dieser Abend doch von anderen unterscheidet: Peter Walsh,
Mrs Dalloways nach England zurückgekehrte Jugendliebe, hat sein Kommen
angekündigt. Anlass genug, in Erinnerungen zu schwelgen, jede Seelenregung zu
protokollieren, sich in "was wäre (gewesen), wenn"-Fantasien zu
ergehen.
Einst hatte sich Clarissa Dalloway nämlich gegen Peter Walsh, der sie mit seiner
ungestümen Liebe bedrängte, und für den soliden, unbestritten langweiligen Richard
Dalloway entschieden und diesen geheiratet ... Freilich wird nach außen das
Bild einer perfekten Ehe vermittelt.
Aus den
Bewusstseinsströmen einiger Figuren, strukturiert von den Glockenschlägen des
Big Ben ("The Hours"!), entstehen vor dem inneren Auge des Lesers Bezugssysteme
subjektiver Befindlichkeiten und Charakterbilder der Romanfiguren.
Perspektivenwechsel ermöglichen die Betrachtung der Ereignisse aus
unterschiedlichen Blickwinkeln, persönliches Zeitempfinden und objektiver
Zeitablauf streben auseinander: Die äußere Handlung des Romans währt einen Tag
"Uhrenzeit" und gar viele Jahre "subjektive Zeit".
Parallel dazu irrt ein
junger Kriegsheimkehrer, Septimus Warren Smith, durch Londons Straßen, verfolgt
und getrieben von schrecklichen Erinnerungen, die ihn schließlich in den
Selbstmord treiben.
Sein überheblicher Arzt ist an jenem Abend Gast bei den
Dalloways und erzählt Clarissa von Septimus Warren Smith, woraufhin deren
Gedanken dem Schicksal des unglücklichen jungen Mannes sowie ihrem eigenen
gelten; Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung, Richard zu ehelichen,
nagen plötzlich an ihrem Selbstbild, und sie fühlt sich dem ihr unbekannten
Selbstmörder wesensverwandt.
Der beinahe "mathematisch" konstruierte
Roman "Mrs Dalloway" wurde übrigens unter der Regie der Holländerin Marleen
Gorris im Jahr 1997 verfilmt. Mitwirkende Schauspieler waren Vanessa Redgrave
(in der Titelrolle), Natascha McElhone, Rupert Graves, Michael Kitchen, Alan Cox
und Lena Headey.
(kre; 08/2004)
Virginia Woolf: "Mrs Dalloway"
Aus dem Englischen übersetzt von Walter Boehlich.
Nachwort von Sibylle Lewitscharoff.
Manesse, 2004. 384 Seiten.
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Ergänzende
Buchempfehlungen:
Matthias Munsch: "Psychoanalyse in der englischen
Moderne. Die Bedeutung Sigmund Freuds für die Bloomsbury Group und Lytton
Stracheys biografisches Schreiben"
Das Buch ist ein grundlegender Beitrag
zur Geschichte der Psychoanalyserezeption in der englischen Literatur der
Moderne. Wie die Bloomsbury Group in London mit Sigmund Freud und seinen
Schriften umging und welchen Anteil sie durch Übersetzungen und andere
Vermittlungsaktivitäten an der Verbreitung der Psychoanalyse und an ihrer
Institutionalisierung in England hatte, wird auf der Basis zum Teil neuer
Aktenfunde präziser als bisher rekonstruiert und an einem exemplarischen
Themenkomplex detailliert aufgezeigt. Matthias Munsch zeigt, wie Virginia Woolf
und vor allem Lytton Strachey, der Begründer der "New Biography",
psychoanalytisches Wissen in ein neues Konzept biografischen Schreibens
integrierten. (TransMIT)
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Christine Frick-Gerke (Hrsg.):
"Inspiration Bloomsbury. Der Kreis um Virginia Woolf"
Der legendäre Kreis von Künstlern und Literaten, der
sich ab 1905 im Londoner Stadtteil Bloomsbury um Virginia Woolf und ihre
Schwester, die Malerin Vanessa Bell, zusammenfand: Lebensentwürfe und
künstlerische Intentionen, dargestellt in Erinnerungstexten, Beobachtungen,
Beschreibungen und Abbildungen. (Fischer)
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Virginia Woolf: "Orlando"
Die fiktionale Biografie eines Edelmannes: Im 16. Jahrhundert begeht Orlando ein
rauschendes Fest in seiner Residenz. Erschöpft sinkt er in einen tiefen Schlaf.
Beim Erwachen ist "er" eine Frau. Dreieinhalb Jahrhunderte, von 1586 bis 1928,
durchlebt Virginia Woolfs Fantasiegestalt Orlando ... Das Werk ist eine
Liebeserklärung an Vita Sackville-West.
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Werner Waldmann: "Virginia
Woolf"
Man kann ohne Zweifel von einer Wiederentdeckung Virginia Woolfs
seit Ende der 1960er Jahre sprechen. Dass die neue Frauenbewegung einen schmalen
Teil des Woolfschen Werkes - im Grunde nur die beiden Bücher "Drei Guineen" und
"Ein Zimmer für mich allein" - für sich als Schlüsseltexte reklamiert und vor
sich her trägt, zeigt sicherlich die erstaunliche Modernität dieser
Schriftstellerin. Virginia Woolf, in der konventionellen Welt des Viktorianismus
und der steifen Cambridge-Intellektualität herangewachsen, suchte sich
beharrlich einen Weg, als Frau selbstständig zu leben, und dies ganz
selbstverständlich und ohne grelle Bilderstürmerei. (rororo)
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Hermione Lee: "Virginia Woolf. Ein
Leben"
Mit ihrem monumentalen Werk macht Hermione Lee das bekannte Bild
von Virginia Woolf um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Sie
setzt sich intensiv und skeptisch mit den oft wiederholten Darstellungen von ihr
als Opfer - ihres düsteren viktorianischen Elternhauses, der sexuellen
Zudringlichkeit ihrer älteren Brüder, ihrer Geisteskrankheit - auseinander und
zeigt, mit welchem Mut Virginia Woolf sich im Lauf ihres Lebens ihren frühen
Erfahrungen und inneren Widersprüchen stellte und sie kraftvoll umsetzte in ihr
literarisches Werk. Mit großem Feingefühl geht die Autorin den wichtigsten
Beziehungen in Virginia Woolfs Leben - zu ihrer Schwester Vanessa, zu ihrem Mann
Leonard, zu Vita Sackville-West - nach und definiert sie anders, als man es
bisher gewohnt war. (Fischer)
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Vita Sackville-West: "Unerwartete Leidenschaft" Vita Sackville-West: "Eine Frau von vierzig Jahren"
Lady Slane ist 88 Jahre alt, als sie erkennt, dass sie sich in ihrem ganzen
Leben bisher nur nach ihrem Mann gerichtet hat. Kaum ist er tot, trifft sie
zum ersten Mal eigene Entscheidungen: Sie gibt ihr riesiges Haus mit
Angestellten auf, lässt ihre Kinder nur noch nach Terminabsprache ein, knüpft
an alte Bekanntschaften an und verschenkt eine geerbte Kunstsammlung. Ihre
Kinder sind empört, ihre Urenkelin dagegen nimmt sich ein Beispiel und löst
ihre Verlobung auf. Vita Sackville-West hat hier nach Meinung ihres Verlegers
Leonard Woolf ihr bestes Buch geschrieben. (Wagenbach)
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Die schöne Witwe Evelyn Jarrold erfährt mit vierzig Jahren die Liebe ihres
Lebens. Der wesentlich jüngere Miles Vane-Merrick reißt die reife Frau aus ihrem
inhaltsleeren Alltag. Sie ist zu vollkommener Hingabe bereit. Miles hingegen
weigert sich, sein ausgefülltes Leben aufzugeben. Da entschließt sich Evelyn zur
schmerzhaften Trennung - mit schwerwiegenden Folgen.
Vita Sackville-Wests Roman löste bei seinem Erscheinen 1932 große Empörung aus,
da die Autorin es wagte, ein tabuisiertes Thema aufzugreifen und den noch heute
aktuellen Geschlechterkonflikt darzustellen.
Vita Sackville-West (1892-1962) lebte mit ihrer Familie mehrere Jahre in
Persien, bevor sie sich auf Sissinghurst Castle in Kent niederließ und dort den
heute berühmten Garten gestaltete. Im Laufe ihres Lebens publizierte die
Schriftstellerin, die unter Anderem eng mit Virginia Woolf befreundet war, über
fünfzig Bücher, darunter Garten- und Reiseliteratur, Biografien, aber auch
Romane und Novellen. (dtv)
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