Andrej Wolos: "Der Animator"
"Es
ist bloß ein Licht!"
Kennt man das Ewige Licht aus Gotteshäusern als Symbol
für die Gegenwart
Gottes, florieren - so ist bei Andrej Wolos nachzulesen - spezielle
Bestattungsunternehmen
aufgrund der Gewinnung von "ewigen Lichtern", welche die geballten
Lebenserinnerungen kürzlich Verblichener darstellen, und als
gesellschaftliche
Statussymbole in Glühkolben abgefüllt werden. Und je
heller so ein
Kolben leuchtet, desto besser! Et voilà: "Der letzte Schrei"
der Esoterikszene.
Die deutsche Literaturkritikerin Iris Radisch meinte in der am 17. Juli
2007 (erstmals)
ausgestrahlten Fernsehsendung "Literaturclub" im Zuge ihrer
Urlaubslektüreempfehlung sinngemäß, "Der
Animator" stelle die
sprachlich radikale Fortschreibung der russischen Klassik mit modernen
Mitteln
dar.
Laut Klappentext handelt es sich bei "Der Animator" um einen "literarischen
Thriller zwischen Science-Fiction und russischer
Gegenwart": "Moskau in einer nahen Zukunft.
(...) Die Schicksale der
Verstorbenen, Terroropfer und Täter, sie alle fügen
sich zu einem grausamen
und unerbittlichen Bild des russischen Lebens. Bis
Sergej Barmin von einer
Nachfolgeorganisation des KGB aufgefordert wird, auch lebende Menschen
zu
animieren und Kontrolle über ihre Bewusstsein zu erlangen."
Der Autor als Animator?
Andrej Wolos, der heute als Schriftsteller in Moskau
lebt, wurde 1955 in Duschanbe,
ehemals Stalinobod, der Hauptstadt Tadschikistans, geboren.
Wolos setzt sein belletristisches Mosaik u.a. aus mehr oder weniger
stark verfremdeten
Zeitgeschichtesplittern von einigem Wiedererkennungswert zusammen. Als
Beispiele
seien der Kampf der (fiktiven) Katschiren gegen die Russen,
Wirtschaftskriminalität und Korruption,
Selbstmordattentäter, Waffenhandel und eine in einem Theater
stattfindende Geiselnahme (siehe Dubrowka-Theater Oktober 2002)
angeführt, welche letztlich die Hoffnung auf eine
glückliche Zukunft für seinen Protagonisten zunichte
macht.
Auf der Basis von exemplarisch herausgestellten Einzelschicksalen
entwirft Wolos
(s)ein kritisches Bild Russlands.
Sergej Barmin, von Klara, seiner schwangeren Geliebten verlassen, von
seiner einer früheren gescheiterten
Ehe entstammenden Tochter abgelehnt, widmet sich voller Hingabe seiner
beruflichen Tätigkeit, die ihm große Bekanntheit
beschert hat. Als Animator wohlgemerkt, nicht als
berufsspaßiger
Animateur in irgendeinem Touristenkaff.
Wie der Klappentext verrät, haben "Animatoren
die Gabe, die Seelen der Toten zum Leuchten zu bringen, indem
sie deren Leben noch einmal Revue passieren lassen."
Wie das? Ein Animator, von Natur aus mit empathischen
Fähigkeiten
ausgestattet, erhält von einer Vertrauensperson eines
Hingeschiedenen
Informationen über dessen Biografie, woraufhin er das Leben
des Betreffenden
anhand besonders markanter Begebenheiten Revue passieren lässt
und schließlich, wenn man so will als
seelenalchimistischer Katalysator, einen Glaskolben mit Glimmen - der
Flamme der
Seele - befüllt.
So weit, so privat. Freilich bleibt eine derartige Technik nicht
ausschließlich ein Zweig der Bestattungsindustrie, doch sind
es weniger - wie man vielleicht vermuten würde - Esoteriker
und Religiöse, die sich dafür zu interessieren
beginnen, als vielmehr die Geheimdienste, lässt
sich doch die bisher Toten vorbehaltene Behandlung womöglich
auch zur individuellen Risikobeurteilung in Form von
Gedankenüberwachung
bei Verdächtigen bzw. zur "vorweggenommenen
Terrorismusbekämpfung" einsetzen.
Wo liegen die Grenzen zwischen Bürgerrechten und
Staatsinteressen, wer
profitiert wirklich von der Instrumentalisierung einer
präventiven
Terrorbekämpfung? Wer ist Opfer, wer Täter? Ein
brisanter, ein umfangreicher Themenkomplex; der
Überwachungsstaat -
eine in der Literatur oftmals behandelte Materie.
Der Roman weist Schwachstellen (kein echter Verbindungsstrang
zwischen dem Privatleben Barmins und dem politischen
Handlungsfaden; der spirituelle Aspekt der Animation wird zwar reflexiv, nicht aber im Rahmen der Geschichte behandelt) wie
Stärken auf (plausible Beschreibung der Methoden, mit denen
jugendliche Selbstmordattentäter herangezogen werden; Einblicke in
die Korruption diverser Armeeteile, die selbst vor Waffenhandel mit
Terroristen nicht zurückschrecken) und kann, zumal
spannend erzählt, durchaus empfohlen werden.
(Felix Grabuschnig; 07/2007)
Andrej
Wolos: "Der Animator" Volos
Übersetzt von Christiane Körner.
Hanser, 2007. 288 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Churramobod - Stadt der Freude"
Wenn Sieger zu Besiegten werden. Wolos' "Roman in punktierter Linie"
erzählt von der Geschichte der Russen in Tadschikistan. Seit
1868
Kolonialherren dieses an
Afghanistan grenzenden Gebietes, begann
für sie 1991
mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik
Tadschikistan die Zeit von Rückzug
und Vertreibung. (Berlin Verlag)
Buch
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Leseprobe:
"Bereichere dein Wissen über deinen
Gegenstand, über deine Materie, über ihre Symbolik.
Vollkommenheit erfordert
Wissen, Unwissen zieht den Tod nach sich."
Albertus Magnus hat recht.
Ein Animator muss wissen.
Aber es wäre - leider! - töricht, den unangenehmen
Eindruck Wissen zu nennen,
den der damals noch lebende Entschlafene bei unserer morgendlichen
Begegnung auf
mich gemacht hat (übrigens verstärkt durch den
Verdacht, dass der
Sicherheitsexperte Michail Michailowitsch
offenbar einer der wichtigsten Motoren der
Öffentlichkeitskampagne über die
Möglichkeit und Notwendigkeit des Animierens Lebender war).
Aus dem Obersten
auch nur ein Krümchen lebendigen Lebens rauszuquetschen ist
ebenfalls ein Ding der
Unmöglichkeit - vermutlich erlaubt ihm sein Dienst keine
Krümeleien. Ich habe
nichts, um mich einzufühlen. Und selbst der Versuch ist
irgendwie - nicht
gerade ekelhaft, aber ...
Vom Leben des zur Unzeit Dahingeschiedenen weiß ich nichts.
Außerdem habe ich,
wie man es auch dreht und wendet, eine Art Schock erlebt. Eine
schöne
Bescherung: Morgens setzt du jemandem die Grundlagen der Animation
auseinander,
und abends hebst du das Laken - und da liegt er! Also, diese Leiche ist
nicht
gerade mein Ding. Und unterm Strich kommt bei der Geschichte bestimmt
nichts Gutes
heraus.
Hätte ich früher Bescheid gewusst, hätte ich
nicht einmal daran gedacht
herzukommen, hätte abgelehnt ... Aber was bleibt mir jetzt
übrig?
Meine Professionalität hat sich wenigstens darin gezeigt, dass
die böse
Vorahnung mich nicht getäuscht hat. Die Sitzung
verläuft soso lala, mit Ach
und Krach, mit knapper Not, könnte man sagen. Ein
trüber gelblicher Schein.
Auch der Winke-Effekt, so ungern ich es zugebe, kommt aus irgendeinem
Grund voll
zum Tragen - unten im Kolben schillert es irisierend, sogar mit einem
Stich ins
Sumpfgrüne hier und da. Der Teufel weiß warum. Da
kenn sich einer aus im
Nachhinein ... Ich will gerade die Arme ausbreiten, nach dem Motto,
ist’s auch
karg, es kommt von Herzen, auch bei uns läuft nicht immer
alles glatt ...
Doch entgegen meinen Erwartungen strahlt Oberst Dobrynin freudig auf,
als er das
Gefäß entgegennimmt, und ruft:
"Na, guck mal an! Das ist ja toll!"
Mir bleibt nichts anderes übrig als mich zu räuspern
und trotzdem die Arme
auszubreiten, nach dem Motto, Meisterschaft bringt selbst der Suff
nicht um,
Genosse Oberst. Aber sein albernes Lob bessert meine Laune nicht im
geringsten.
Im Gegenteil, mir ist speiübel. Ja, ja ... Ich bin ja selber
schuld. Hätte ich
wenigstens gefragt, wohin es geht. Aber nein - ich steige wie ein Schaf
ins
Auto, um wegen eines Honorars wer weiß wohin zu rasen ... All
diese Flure und
Bunker ... Der ominöse Michail Michailowitsch ... Das gelbe
Lichtgerinnsel, beschämend
für einen Profi ... Wenn das jemand sieht, werde ich der
Schande nicht
entgehen. Allerdings hat der Oberst erwähnt, dass sie eine Art
Spezial- oder
Staatsdepot für ihre Leute haben, kurz gesagt, so eine
Teufelsschmiede, wo sie
alle nach dem Tod geschlossen vor sich hin brennen. Das beruhigt mich
doch
etwas. Das versprochene Honorar wird mir in voller Höhe
ausgezahlt. Ich stopfe
den dicken Packen grüner Lappen in meine Brusttasche, nachdem
ich vorher die Visitenkarte
des Experten unauffällig in dessen eigene Jackentasche
geschoben habe. Soll
doch alles der Teufel holen! Ins Alpina, nur noch ins Alpina! Um so
mehr, als
ich schrecklichen Hunger habe.
Der Oberst steckt den Kolben in eine Plastiktüte, die er
lässig hin und her
schwenkt, während er mich zum Ausgang führt.
"Kann ich Sie mitnehmen?" fragt er, als wir endlich wieder an der
frischen
Luft sind.
"Ach was", sage ich. "Ich nehme ein Taxi."
Es stellt sich aber heraus, dass er in genau die gleiche Richtung muss
wie ich.
Er wirft die Tüte auf den Rücksitz vom Mercedes
(wieder bleibt mir das Herz
stehen - die Kolben zerbrechen leichter als Glühbirnen). Dann
setzt er sich ans
Steuer - weder der Fahrer noch der Jeep vom Begleitschutz sind zu sehen
-, und
wir fahren los.
Jetzt wirkt er richtig aufgekratzt (sicher, weil die Sache erledigt
ist), und
nach einiger Zeit sieht er zu mir hin und sagt kumpelhaft,
während seine Augen
im Halbdunkel fröhlich funkeln:
"Unsere sind ja alle in den Kursen. Deshalb mussten wir uns an Sie
wenden."
"In welchen Kursen?" frage ich schwach interessiert.
"In Fortbildungskursen natürlich. Haben Sie etwa noch nicht
davon gehört?"
"Was für eine Fortbildung?"
"Na, für Animatoren! Man hat doch jetzt eine neue Methode
entwickelt - das
Animieren von Lebenden. Mann! Das ist ein Ding, Sergej Alexandrowitsch!"
Ich schaue stumpfsinnig in den näherkommenden roten Lichtkreis
der Ampel. Das
Auto fährt gemächlich darauf zu und hält.
"Wie, Sie haben noch nicht davon gehört?" fragt der Oberst
interessiert,
während er wieder zu mir rüberschaut.
"Nein", sage ich. "Habe ich nicht."
"Was? Das ist doch eine Riesensache! Was Sie nicht sagen!"
Die Ampel zwinkert gelb, der Oberst legt den Gang ein, und wir fahren
weiter.
"Besonders für uns. Überlegen Sie mal! Wir strampeln
uns ab, haben Tag
und Nacht keine ruhige Minute - aber wie willst du die Burschen
kriegen? Nehmen
wir mal an, da ist ein Verdächtiger, nehmen wir an, wir haben
ihn sogar
geschnappt ... Er hat keinen
Sprengstoff bei sich, keinen
Zünder, keine Waffe,
überhaupt nichts, was man gegen ihn verwenden könnte.
Seine Papiere sind
scheinbar in Ordnung ... Und? Ja, sicher, man
kann ihn fragen: Na, was ist, Alter, planst du einen Anschlag?"
Das Auto hält erneut an einer Ampel. Der Oberst wendet sich
mir zu und sagt
lachend:
"Und er sagt es dir, verlass dich drauf! Aber klar doch! Nach drei
Tagen
lässt man ihn laufen, er holt sich alles, was er braucht, aus
seinem Versteck,
und ab geht die Post!"
Wir biegen in den Gartenring ein.
"Und dann noch die anderen, du weißt schon ..." Er wechselt
übergangslos
zum Du. "Die Stänkerer. Die machen keinen Finger krumm,
für die ist der
Staat an allem schuld! An allen Problemen! ... Nach dem Motto: Was
für ein
Scheißstaat! Er kann dies nicht! Er kann das nicht! Dieser
Hurensohn von Staat
will nichts als Geld scheffeln! ... Nett, was? Wenn du so ein Zeug
redest,
willst du vielleicht selber eine Bombe in einen Kindergarten legen!
Oder?"
Er schweigt verbissen. Der Stau kommt nur meterweise vorwärts.
"Nein, ab jetzt funktioniert die Sache anders. Ob du willst oder nicht
- es
gibt die objektive Aussage von einem Animator. Du hast was geplant -
also hast
du’s auch. Basta. Da redet sich keiner mehr raus."
"Halten Sie an", sage ich. "Danke."
"Mach’s gut, Serjoga!" ruft er, als ich die Tür
zuschlage. "Hau
rein! Man sieht sich bestimmt mal!"
Er fährt an und fädelt sich geschickt in die
unsäglich stinkende Autoschlange
ein, die dem Gartenring systematisch die Luft abdrückt.
Ich versuche gar nicht erst, ein Taxi zu bekommen, weil es einfacher
sein wird,
eine Station mit der Metro zu fahren.
Als ich das letzte Mal hier war (ich habe ja gesagt, dass ich die
Dienste der
Metro selten in Anspruch nehme), wurden den Fahrgästen runde
Plastikjetons
verkauft. Jetzt bekomme ich eine Pappkarte. Ich versuche, sie ins
Kontrollgerät
zu schieben. Das Gerät rasselt aggressiv los und bringt mich
damit ziemlich in
Verlegenheit. Trotzdem gebe ich den Versuch nicht auf, auf den
Bahnsteig zu gelangen.
Zu guter Letzt springt eine rotbemützte Bahnangestellte in
ihrem gläsernen
Starenhäuschen vom Stuhl, reißt mir die Fahrkarte
aus der Hand, steckt sie mit
dem richtigen Ende (oder mit der richtigen Seite, wer kennt sich schon
in diesen
Feinheiten aus) ins Gerät und verabschiedet mich mit einem
leichten Stoß und
den Worten: "Wie die kleinen Kinder!"
Dröhnend und ratternd kommt ein Zug aus dem Tunnel geschossen,
die Türen
öffnen sich, aus jeder ergießt sich eine kleine
Menschenmenge auf den
Bahnsteig und wird von neuen, nachdrängenden
Fahrgästen ersetzt. Eine
Männerstimme verkündet den Namen der
nächsten Station (und zwar so
triumphierend, als würde uns dort eine große Freude
erwarten), und wir fahren
ab.
"Komm her! Komm schon!" höre ich eine schroffe Stimme und
wende den
Kopf.
Trotz des Gedränges ist der Platz zwischen zwei
Waggontüren in der Nähe
freigeblieben, bis auf einen mageren Mann mit fest
zugeknöpfter schwarzer
Jacke. Hoch aufgerichtet, die Schultern zurückgenommen und das
Kinn gereckt,
steht er mit dem Rücken dicht an der einen Tür und
betrachtet verächtlich
sein Spiegelbild in der anderen. Dann macht er zwei oder drei
stürmische,
gleitende Schritte, hebt die Hände und schlägt mit
beiden Handkanten gegen das
Glas - glücklicherweise nicht so stark, dass es zerspringt
oder herausfällt.
Danach kehrt er ebenso stürmisch in seine Ausgangsposition
zurück.
"Komm her! Wird’s bald!"
Und wieder - die leichte, raubtierhafte Bewegung, das kaum merkliche
Emporschnellen der Hände, das dumpfe Erzittern des Glases.
Der Waggon sieht perplex zu, und offensichtlich spüre nicht
nur ich eine Art
Gefahr.
"Was hast du denn, mein Lieber?" Das ist die Stimme einer alten Frau,
die in der Ecke sitzt, eine aufgeregte und mitfühlende Stimme.
"Der Herrgott steh dir bei! Setz dich doch hin! Was treibt dich so?"
Der Mann sieht sie an. Ich stelle mir vor, dass er gleich seine
üblichen paar
Schritte macht und losschlägt, nur diesmal nicht gegen Glas.
Statt dessen sackt
er in sich zusammen und sieht in die Runde.
"Verzeiht mir, Leute!" wimmert er plötzlich und lässt
sich gegen die
Tür fallen. "Verzeiht mir! Um Gottes willen, verzeiht mir!"
"Auf Glas rumhämmern", brummt ein Mann rechts von mir.
"Mach erst mal durch, was ich durchgemacht habe, dann reden wir
weiter!"
antwortet der Mann klagend. "Dann reden wir! Aber so?"
In diesem Moment werden wir nach vorne geworfen, dann nach hinten, dann
wieder
nach vorn, dann zischen die Türen, ich werde aus dem Waggon
katapultiert, und
ein paar Minuten später steige ich die Stufen zum Alpina hoch,
wobei ich
spüre, dass mich die Füße
buchstäblich nicht mehr tragen wollen. (...)