Hélène Grimaud: "Wolfssonate"
Eine betörend hübsche Frau im
33. Lebensjahr schreibt eine Autobiografie. Also reichlich früh. Aber warum
eigentlich nicht? Dergleichen Rückschau auf das eigene Leben gehört zwar eher
zu den Angewohnheiten älterer Herrschaften, Giacomo Casanova tat es und ebenso
ein Aurelius Augustinus mit der Schrift seiner "Bekenntnisse"
-, doch warum sollte dieser demnach eher altväterliche Brauch nicht einen Bruch
erfahren? Durch eine junge Frau, die zu diesem Behufe zumindest die Außerordentlichkeit
ihres ansonsten noch kurzen Lebensweges geltend machen kann. Und da sie so richtig
ein Geschöpf zum Anhimmeln ist, und das - vorweg gesagt - nicht nur ihres bekömmlichen
Liebreizes wegen, so mag ihr auch gerne die literarische Selbstinszenierung
ihrer Vita zugestanden sein. Misstrauisch stimmen lediglich die denkbaren Motivlagen,
welche Antrieb zu dieser Autobiografie sein könnten, zumal Hélène Grimaud, jene
besagte junge Frau, eine bekannte Pianistin ist, welche sich somit in einem
Umfeld bewegt, wo zusehends der Starkult zur Hauptsache und die virtuose Beherrschung
des gewählten Instruments zur Nebensache verkommen. Gewahrt man diese Marktentwicklung,
auch freischaffende Künstler sind letztlich Geschäftsleute, wäre es gewiss keine
den Zweck verfehlende Taktik die Fokussierung öffentlicher Aufmerksamkeit auf
die zu bewerbende Person mittels Selbstbespiegelung in Buchform zu betreiben.
Der Argwohn grämt nur kurz, still und unterschwellig, denn von den
ersten Seiten an entzückt dieses Buch ob seines ebenso lebendigen wie
engagierten Tonfalls. Hélène Grimaud erzählt von einem einsamen
Mädchen, das abgekapselt von den Gleichaltrigen jede Geselligkeit mit
diesen meidet, ohne Spielgefährten die Kindheitsjahre hinbringt, also
in der Distanz zu den Altersgenossen lebt, weil sie die Derbheiten der
Knaben abstoßend findet und die unnatürlichen Verhaltensmuster der
Mädchen verachtet. Die ewig langen schulischen Pausenhöfe erlebt die
kleine Hélène als grausame Misshandlungen ihrer Kinderseele. Vor dem
kindlichen Treiben im Schulhof zieht sie sich in Verstecke zurück,
verkriecht sich in schützende Schatten und zelebriert sich nicht im
hellen Licht. Sie ist anders, scheu und abseitig und lebt in stiller
Zurückgezogenheit einen misanthropen Radikalismus, der für so ein
kleines Mädchen beachtlich ist und jede Hochachtung verdient.
Gewiss, bei ebenso herkömmlicher wie hohlköpfiger Betrachtungsweise
darf eine Verhaltensauffälligkeit konstatiert werden, derer sich
Grimaud allerdings nicht schämt, denn nicht nur, dass sie kein
Herdengeschöpf ist, sie, bis ins Detail völlig verkehrt, ist
sprunghaft, unruhig, entfaltet schließlich einen sonderlichen Zwang
alle ihr
verfüglichen Dinge in symmetrische Ordnungsstrukturen einzufügen und
neigt in jungen Jahren zu autoaggressiven Praktiken, die an
Selbstverstümmelung grenzen. Und das, obwohl die Kleine sich wahrlich
fürsorglicher Eltern erfreuen darf, die ihrem gelegentlich störrischen
Kind viel Verständnis und Geduld entgegen bringen, die Entfaltung
seiner besonderen Gaben liebevoll fördern, aber niemals eine Leistung
zu erzwingen trachten, die dem Kind seine Kindheit rauben würde. Die
familiären Lebensverhältnisse sind als geradezu harmonisch und ideal zu
charakterisieren. Woher dann aber die von Grimaud beschriebenen
Zwangsneurosen und diese Aggression gegen den eigenen Körper?
Eine jede verkürzte und konformistische Auffassung von Gesundheit und
Normalität wird dieses Kind nun wohl für hochgradig
verhaltensauffällig, also für neurotisch erklären wollen. Und das ohne
Beachtung der prägenden Einbettung des Einzelnen in soziale
Verhaltensmuster, die sich nach einem - wie auch immer zu begründenden
- Gesellschaftscharakter richten, der als verhaltenssteuernder
Sinnrahmen zur Selbstentfremdung verleitet und ohne viel Hinterfragen
den neurotischen Einzelcharakter zur gesunden Norm stilisiert, was
einer verinnerlichten Knechtung entspricht und bei begabteren Wesen
Weltrückzugstendenzen und pathologische Irritationen zur Folge haben
muss.
Die kleine Grimaud
wird wie alle Gleichaltrigen in die graue Masse gesichtsloser
Einförmigkeit geschoben, doch widersetzt sie sich ihrer Vermassung und
bleibt individuell. Was ganz zwangsläufig Vereinzelung und
Außenseitertum zur Folge hat. An die Stelle der üblichen Lust an
Geselligkeiten tritt bei ihr eine Unlust am Menschen, kompensiert über
die stille Befassung mit Belletristik, was jedoch eine asoziale Tugend
ist: Zuerst, in Kindheitstagen, sind es die abenteuerlichen Romane von Alexandre Dumas,
welche dem Mädchen die Stunden ihrer Einsamkeit
versüßen. Als Musikstudentin vertieft sie sich in das Werk
von Tolstoj und entdeckt ihre Liebe zu Dostojewskij, dessen Sensibilität für alles Leben ihr von einer vornehmen Ethik kündet: "Jesus ist mit den Tieren, bevor er mit uns ist." Die fast schon fanatische Lektüre des Russen lehrt Grimaud, "wie
weit die Liebe zum Leben in tiefgründigen Menschen gehen kann, die zum
Leiden geboren sind; diese Liebe führt zu allen Exzessen, die man
anderswo nach dem Gesetz Verbrechen nennt."
Beinahe inbrünstig im Ton erzählt Hélène Grimaud von ihrer frühen Liebe zur
klassischen Musik und zu den Tieren. Eine Liebe, die auf den Leser übergreift,
ihn verzaubert und ihm Hochachtung abnötigt, denn bald schon wird deutlich,
dass diese autobiografische Schrift keineswegs einer bloßen Selbstvorführung
dient, sondern ernsthafte Anliegen vornehmer Natur verfolgt: Es geht um Selbstfindung
in einer Welt der Selbstentfremdung und um Tierrechte in einer Welt, in welcher
der Begriff des Ungeziefers inflationär verwendet wird. Die Seele entfaltet
sich zur Schönheit, nicht in Koketterie, sondern im Rahmen eines künstlerisch
und ökologisch vermittelten Weltbezugs. Menschen scheinen der Meisterpianistin
weiterhin - also auch im Erwachsenenalter - nicht übermäßig liebenswert zu sein,
das Verhältnis bleibt merkwürdig unterkühlt, es sei denn es handelt sich um
gesellschaftliche Außenseiter, die ihr Leben bewusst jenseits sozialer Konformismen
zubringen. Geschlechterrollen werden abgelehnt. Was zählt ist der Mensch. Grimaud
beklagt jedoch, dass es unter den unzähligen Männern nur wenige richtige Männer
gebe (worüber sich der Leser seine eigenen Gedanken machen darf) und dass die
Begegnungen mit Frauen in aller Regel besonders kritisch seien: "Im besten
Fall werde ich sofort zur Rivalin, im schlechtesten zur Feindin."
Von höchster Bedeutung ist Grimaud seit je her der Hund,
dessen expressive Ausdruckskraft die Künstlerin fasziniert. Und die
reinste Gattung Hund ist bekanntlich der Wolf. Der unverfälschte Hund
sozusagen. "Die Hunde haben ein grausames Herz, die Wölfe ein zärtliches."
Diesem wunderbarsten aller Erdengeschöpfe ist Grimaud nun schlechthin
verfallen, weshalb sie in der zweiten Hälfte der 1990erjahre weder
Kosten noch Mühen scheute sich ein eigenes Wolfsgehege einzurichten.
Das Zusammenleben mit Wölfen hat sie von ihren Zwangsneurosen geheilt,
ihr einen neuen Zugang zu ihrer Kunst geöffnet und sie gelehrt, was
Leben im seelischen Gleichgewicht bedeutet: "Ich habe diesen
geheimen, persönlichen und intimen Punkt gefunden, zwischen den Wölfen
und der unberührtesten Natur und der raffiniertesten Musik - zwischen
Himmel und Erde. Ich befinde mich in einem dauernden Zustand der
Dankbarkeit."
Dies alles klingt freilich nur allzu romantisch, jedoch ist die Romanze
ernst zu nehmen, wenn sie auf Tatsachen basiert. Was gegenständlich der
Fall ist. Nachdem die gebürtige Französin Hélène Grimaud in die USA
übersiedelt war, machte sie während eines nächtlichen Spaziergangs die
Bekanntschaft eines berüchtigten und deswegen unheimlichen
Einzelgängers namens Dennis, welcher sich zur Freude Grimauds nicht nur
als ein gediegener Kenner klassischer Musik und als ein Freund
ungebundener Denkensart entpuppte, sondern der überdies in verbotener,
weil nach dem Gesetzeswortlaut illegaler Gemeinschaft mit einer Wölfin
lebte. Alawa, die Wölfin, war dann auch das erste große
zwischengeschöpfliche Ereignis in Grimauds Leben. Tiere waren ihr zwar
immer schon vertraut gewesen, doch dieses Tier gehörte zu einer Gattung
Leben von besonderem Adel. Das innige Liebesverhältnis mit der Wölfin
Alawa, welche 1994 verstarb, sollte das Leben Grimauds völlig verändern
und von Grund auf neu gestalten. Von Dennis darin bestärkt, beschloss
sie ihr Leben dem Kult um den Wolf zu widmen, besuchte als Gasthörerin
universitäre Vorlesungen zur Verhaltensforschung und reiste kreuz und
quer durch Amerika, um die Reservate zu besuchen, wo Experten die
Biologie und das Verhalten der Wölfe studieren. In South Salem nahe New
York gründete Grimaud schließlich das Wolf Conservation Center, gedacht
zur Belehrung des Menschen über den wahren Charakter des Wolfes.
Die Leidenschaft zum Tier im Allgemeinen und zum Wolf im Besonderen
bestimmt also das Gepräge von Hélène Grimauds Autobiogrfhie.
Chronologisch abgefolgerte Erzählungen aus ihrem Leben wechseln im Takt
mit Ausführungen zum Thema "Tiere", und dieses insbesondere zur Natur-,
Kultur- und vor allem Leidensgeschichte des Wolfes. Und es ist eine
traurige Leidensgeschichte, das sehr wohl, denn wenn der Wolf
einerseits zwar auch als standesgemäßer Begleiter der Götter galt, so
wurde er anderseits aber doch als angeblicher Schädling erbittert
verfolgt und vielerorts unter Anwendung grausamster Methoden vertilgt
und schließlich ausgerottet. Wölfe in Deutschland,
in Großbritannien oder Österreich, all dieses ist ferne Geschichte,
beklagt Grimaud, denn die Vernichtung der gesamten Populationen wurde
einst zum nationalen Anliegen überhöht, und einer Wiederansiedelung
stehen diffuse Ängste und handfeste Geschäftsinteressen entgegen. Die
Fauna der genannten Länder ist nun verkümmert und verarmt. Ohne Wölfe
ist die Ordnung des Lebens empfindlich gestört, degeneriert und
verhässlicht, weil des edelsten Geschöpfs dieser Erde beraubt.
Grimauds Autobiografie einer Musikerin ist nicht aus
anthropozentrischer Perspektive geschrieben, sondern viel eher aus
kreatürlicher, oder gar wölfischer Sicht, weil voll der Wolfsmythen,
Wolfsberichte und der gelehrten Ausführungen zur Biologie des Wolfes.
Es ist ein Buch der Wölfe, für und über Wölfe, und selbst die beiden
indischen Wolfsmädchen Amala und Kamala kommen zur Sprache. Der
Buchtitel "Wolfssonate" ist deswegen auch keineswegs eine Irreleitung,
denn hoch klingen Grimauds Töne zum Lob der göttlichen Caniden, und
selbst der auch nicht gerade vernachlässigte autobiografische Aspekt
ist auf die eine große Leidenschaft hin ausgerichtet, deren Wille es
ist, die Geschichte und Gegenwart von
Canis lupus, dem Wolf, zu erzählen und im Leser den Funken der Liebe zu
diesem einzigartigen Tier unter Gottes Sonne zu entzünden.
(Harald Schulz; 03/2005)
Hélène Grimaud: "Wolfssonate"
(Originaltitel "Variations sauvages")
Aus dem Französischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn.
Blanvalet, 2005. 255 Seiten.
ISBN 3-7645-0196-0.
ca. EUR 20,50. Buch
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Hélène Grimaud tritt mit den renommiertesten Orchestern der Welt auf und
arbeitet mit Dirigenten wie Daniel Barenboim, Kurt Masur, Christoph Eschenbach
und Esa-Pekka Salonen zusammen. 1999 erhielt sie den Classical Award für ihre
Interpretation von Brahms' erstem Klavierkonzert; 2002 wurde sie zum Officier
dans l ordre des Arts et des Lettres ernannt. Lien zur Netzseite von
Hélène Grimaud: http://www.helenegrimaud.com/
Im Jahr 2005 erschien Hélène Grimauds CD "Chopin/Rachmaninov".
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Leseprobe:
Ich denke nicht mit Wehmut an meine Kindheit zurück. In all den Jahren, die
vergangen sind, habe ich niemals das Gefühl gehabt, das Paradies verloren zu
haben, sondern ein Paradies finden zu müssen, anderswo, das auf mich wartet.
Ein Paradies, begraben in meinem Innern.
"Sie ist niemals zufrieden!"
Tausendmal habe ich als Kind diese Worte aus dem Mund derer gehört, die mich
betrachteten, auf mich aufpassten, Bemerkungen über mich machten, und lange
bevor ich verstand, was sie bedeuteten, hatte ich mir aus ihnen eine Familie
gebildet, wie mit meinen Stofftieren. Mit dem Familiennamen "Un". Sie
waren die Familie der "Un" und verfügten alle über die gleiche
Macht: Verwunderung oder Besorgnis auf das Gesicht meiner Mutter zu zaubern.
Allein in meinem Zimmer, sagte ich sie mir immer wieder vor, dabei betonte ich
deutlich, was ich von ihren Silben behalten hatte. Ich erstellte einen Stammbaum
für sie. Der Urgroßvater der Wörter (ich hatte selbst einen Urgroßvater, den
ich abgöttisch liebte) war Un-gehorsam. Keine Urgroßmutter, dafür gab es
keinen Grund, ich hatte ebenfalls keine. Übrigens hielt ich mich für ziemlich
einzigartig: Meine seltenen Umfragen in der Schule hatten mich hinsichtlich
dieses Schatzes beruhigt; keine, keiner von denen, die meine Eltern oder die
Lehrerin meine "Kameraden" nannten, besaßen einen Urahn in ihrer
Familie.
Auf Un-gehorsam folgte sehr häufig Un-zufrieden. Dann Un-bezähmbar. Oder Un-möglich.
Un-diszipliniert. Un-ersättlich. Un-gezogen ... Un-erziehbar. Un-berechenbar.
"Lassen Sie sie Sport treiben."
Irgendjemand musste ein Zuviel an Energie, einen Überschuss an Vitalität
diagnostiziert haben, wofür die Kampfsportarten oder Tennis das richtige Ventil
sein könnten. Ich machte beides, und außerdem noch Ballett, aber ich wurde für
völlig "un-geeignet" für diese Kunst befunden. Meine Aversion ging
über die schlichte körperliche Disziplin hinaus: Die ganze Ausstaffierung war
mir zutiefst zuwider. Bodysuit oder Ballettröckchen, Ballettschuhe oder rosa
Satin, nein, wirklich, nichts von all dem gefiel mir. Ich ähnelte erschreckend
den Puppen, die man mir in ein paar unglücklichen Versuchen zu Weihnachten
schenkte. Ich habe sie alle wütend an die Wand geknallt. Schon die Vorstellung,
dass man darauf kommen konnte, mir so etwas zu schenken, entsetzte mich. Und
jetzt sollte ich auch noch aussehen wie sie! Der Kampfsport bereitete mir
dagegen ein gewisses Vergnügen, und Tennis spielte ich regelmäßig mit meinem
Vater, wunderbare Augenblicke der Komplizenschaft mit ihm, der mit seinem
kartesianischen Temperament, seiner Ordnungsliebe und Strenge und seinem Hang,
alles durchzuplanen, von meiner hektischen Betriebsamkeit, meiner
Sprunghaftigkeit und meinen plötzlichen Leidenschaften ganz schön genervt
wurde.
Ich spürte genau, dass er, wenn er mich ertappte, verärgert war. An dieser Überraschung,
deren Ausmaß ich in der starken Erweiterung der Pupillen meiner Mutter zu
erkennen lernte, wenn sie entdeckte, dass ich es erneut getan hatte. Dann
suchten beide, die besten Eltern der Welt, ein Ventil für dieses unvernünftige
Verhalten. Aber nichts vermochte diese Vitalität einzudämmen, die ich gegen
mich zu richten verstand. Ich hatte keine Spielkameraden. Nicht in der Schule,
die für mich eine Prüfung war, und nicht in den außerschulischen Aktivitäten,
die man mir vorschlug.
"Sehen Sie sich diese Zeichnung an."
Die Lehrerin hatte meiner Mutter ein großes Blatt Papier gezeigt, auf dem sie
nur ein Gitter aus Quadraten hatte erkennen können. Obwohl sie von Berufs wegen
auf alle verrückten Einfälle vorbereitet war, da sie selbst Lehrerin war,
erkannte sie die Falle nicht: "Ich verstehe nicht, was das sein soll."
"Dabei ist es ganz einfach", hatte meine Lehrerin geseufzt, "ich
habe Hélène wie alle Kinder gebeten, Hühner in einem Hühnerhof zu zeichnen.
Ihre Tochter hat ein Drahtgitter gekritzelt. Das ist sehr beunruhigend."
Anschließend hatten sie miteinander getuschelt; die Familie der "Un"
hatte sich auf ihren Lippen versammelt. Ratschläge. Unvermeidliches
Stirnrunzeln.
"Stimmt es, dass du dich weigerst, in der Pause mit den anderen zu spielen?
Erzähl mir nicht, dass es in der ganzen Schule nicht einen Jungen, nicht ein Mädchen
gibt, das Gnade vor deinen Augen findet."
Sie machte sich ständig Sorgen, meine Mutter. Ich rieb meine Wange an ihrer
Hand. Sie hatte einen ganz besonderen Duft, eine Mischung aus Lavendel und
Kreide, häufig übertönt von einem Hauch Knoblauch, den die Seife nicht
vertreiben konnte. Der Knoblauch der Provence, wo ich geboren wurde, mit dem sie
die Gerichte wie mit winzigen Kieseln in einem Wald von Gewürzen bestreute, während
sie alte italienische Weisen für mich summte. Ich hasste es, wenn sie sich
Sorgen machte. Das Stirnrunzeln, das den Ansatz ihrer Nase zerfurchte, gab mir
einen Stich ins Herz. Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Ich hielt mich für
böse. Dabei war diese Bosheit gar nicht ich. Nicht mein Wesen. Ich schleuderte
die Puppen an die Wand, und mit ihnen zerschmetterte ich die liebevollen Gefühle
derer, die sie mir schenkten, aber das war nicht ich, das war nur etwas in mir,
das herauswollte, das sich ausdrücken, ausbrechen wollte.
"Was ist das, eine Grenze, Mama?"
"Etwas, das ein Ende markiert ..."
"Dann ist mein Körper also meine Grenze?"
Meine verhasste Grenze, die etwas in mir zu überwinden suchte. Böse? Die
Kinder waren manchmal böse. Ich konnte die Augen schließen und die Bosheit in
ihrem Lachen verkörpern und in den Schlägen, die sie ihrem Sündenbock in der
Pause heimlich versetzten. Ihren Fußtritten in die Seite eines kranken Hundes.
Und wie sollte ich ihr diese Aversion begreiflich machen, die ich gegen die
anderen hatte, gegen ihre Art, sich zusammenzurotten und den Schwächsten zu
schlagen oder anzugreifen. Ich fand sie erbärmlich. Ich fühlte mich vollkommen
anders als sie. Und ich war es, nicht wahr?
"Nanou, du darfst nicht lauthals fragen, warum der Hausmeister humpelt. Er
hinkt, weil er behindert ist, und er hat dich gehört. Das hat ihm wehgetan, und
man darf die Leute nicht verletzen. Das ist grausam."
Ich war drei. Am nächsten Tag sagte ich, als wir an derselben Stelle unserem
Hausmeister begegneten, mit lauter Stimme:
"Siehst du, Mama, ich habe nicht gesagt, dass der Monsieur humpelt."
Ich hatte diese Worte laut und vernehmlich ausgesprochen. Ich erinnere mich
nicht an die Reaktion meiner Mutter. Ich erinnere mich nur an das, was ich
selbst in diesem Augenblick empfand: Der Schmerz des Hausmeisters traf mich ins
Herz, ich spürte ihn physisch, und er war durchdrungen von Traurigkeit, weil
dieses kleine Mädchen, das er seit seiner Geburt kannte, der Grausamkeit der
Taktlosigkeit, der Macht wehzutun nachgegeben hatte. Ich erinnere mich an das
unmittelbare Entsetzen über meine Worte und meine Gewissensbisse, mein Leid. Es
hatte den gleichen metallischen Geschmack, es löste die gleiche Explosion rötlich
violetter Farbe aus, wenn ich den Kindern aus meiner Klasse zusah, wie sie einen
anderen verspotteten, wenn ich ihre Gewalttätigkeit feststellte, die der Jungen
vor allem, die immer in Gruppen waren, sich ständig anrempelten und brutal
aufeinander losgingen. Und doch, wenn ich mit jemandem hätte spielen müssen, hätte
ich sie gewählt. Besser als jeder andere erkannte ich auf den ersten Blick die
besten Äste, um auf die Bäume zu klettern. Ich hätte sie alle im Klettern, im
Laufen, im Ausweichen übertrumpft. Vor allem ihre Murmeln gefielen mir: das
Spiel der Hände auf den Kugeln, diese Fingerchoreographie - manchmal kraftvoll,
manchmal behutsam und zart -, sie führten ein faszinierendes Ballett in der
Sonne auf, in der die Farben der Achate, der Wassertropfen, der Erdöltropfen,
der Opale aufblitzten. Die Murmeln liebte ich bis in ihre Musik hinein, dieses
leise Klirren in den Taschen, das dumpfe Schlagen, das den Sieg verkündete,
wenn sie gegeneinander stießen. Aber weiß der Himmel warum, Murmeln und Mädchen
passten nicht zusammen. Und es stimmt, das Murmelspiel verlangte ganzen Körpereinsatz,
man durfte sich weder scheuen, sich hinzuhocken, noch sich zu verrenken. Und die
Mädchen achteten stets auf ihre Bewegungen, verhielten sich unnatürlich, bemühten
sich, ihren Rock nicht zu verknittern, ihre Strümpfe keine Falten schlagen zu
lassen, während den Jungs ihre Kleidung vollkommen gleichgültig war. Sie
beschmutzten oder zerrissen sie, ohne weiter darüber nachzudenken, mit einem
Hochmut, der mich entzückte.
Dennoch fühlte ich mich nicht als "Junge", ich war ein Kind und
lehnte mich dagegen auf, dass man wegen meines Geschlechts ein vorherbestimmtes
gekünsteltes Verhalten von mir erwartete, das meinem Wesen vollkommen fremd
war. Zum Glück respektierte meine Mutter meinen Charakter und zwang mich
niemals, diese verschmockten Röcke, Blusen oder Kleider anzuziehen.
In den Pausen versteckte ich mich, um den anderen aus dem Weg zu gehen, in den
Klassenzimmern oder in den Gängen, hinter den Kleidungsstücken, die an den
metallenen Kleiderhaken hingen. Es kam vor, dass jemand, der die Aufsicht hatte,
mich fand und in den Hof schickte. Ich hatte dort mein Plätzchen, die Ecke
einer hohen Mauer, die meinen Rücken beschützte, und reglos wie eine Eidechse
beobachtete ich alles, was um mich herum geschah, vor allem bei den höheren
Klassen.
Dort ging regelmäßig, stets von zwei oder drei anderen Mädchen begleitet, mit
der Lässigkeit einer Königin Sabine unter den Kastanienbäumen spazieren. Ich
beneidete diese Großen um ihr Lachen und ihre Vertraulichkeit im Umgang
miteinander, um diese merkwürdige Atmosphäre, gewoben aus den Geheimnissen,
die sie miteinander teilten und die ihr Gesicht röteten. Sabine war sehr groß,
mit runden Wangen, ihr Gang hatte etwas ausnehmend Sanftes, und ihr Lächeln war
besonders offen. Für mich hatte sie etwas Madonnenhaftes. Ich liebte den
Rhythmus ihres Haars auf ihren Schultern, wenn sie ging, und vor allem diese
Begabung, alle Geräusche - die ganze Kakophonie eines Pausenhofs - um sie herum
zum Verstummen zu bringen, sobald sie auftauchte. Sie hielt die Klänge an. Ich
bewunderte sie. Wenn ich an sie dachte, überfiel mich plötzlich eine heftige,
brennende Ungeduld, älter zu werden, erneut dieses Verlangen, aus mir
herauszutreten, meine Gliedmaßen in alle Richtungen zu schleudern, dieses Gefühl,
das mich mit der Kraft eines fröhlichen Schluchzers aus der Welt
hinausschleuderte.
Im Klassenzimmer gelang es mir ebenso wenig, mich mit meiner Umwelt zu
vertragen. Meine Lehrer scheiterten bei dem Versuch, mein Temperament zu zügeln.
Nicht dass ich eine schlechte Schülerin gewesen wäre, aber ich redete alle
naselang dazwischen oder träumte vor mich hin, wenn ich aufpassen sollte; ich
stellte unpassende Fragen und sprudelte ständig über vor Energie. Ich störte
den Unterricht. Und zugleich war ich unglücklich darüber. Es gelang mir nicht,
die Rügen, die auf mich herniederhagelten, als vollkommen ungerechtfertigt
abzutun: Schuldgefühle nagten an mir, und lange habe ich nachts in meinen Träumen
gespürt, wie das Heulen des Mistrals mich die riesige Schultreppe
hinabschleuderte, die mein Albtraum ohne Geländer, ohne Halt errichtete, und
ich stürzte in einem Schwindel erregenden Fall hinunter. Ich überstand ihn natürlich
unverletzt, in Todesängsten und schweißgebadet, aber stets überrascht, in
meinem Bett aufzuwachen, als müsste dieser Traum mich einem anderen Element,
einem Anderswo überantworten, wo ich mich endlich zu Hause fühlen würde.
Weiter weg. Größer als ich. Ich wusste nicht, wo, aber dieser Wunsch nach
einem Anderswo steckte in mir, wenn auch als Hohlform, er war wie ein
unabweislicher Mangel, und diese unaussprechliche Präsenz, ihre unsagbare
Abwesenheit quälten mich, ließen mir keine Ruhe.
1532 veröffentlichte der Parlamentspräsident Barthélemy de Chasseneuz in
Aix-en-Provence, der Stadt, in der ich geboren wurde, eine Sammlung seiner
Gutachten, von denen die meisten die "gängigen Verfahren gegen schädliche
Tiere" betrafen. Er hatte selbst, wie erzählt wurde, in einem glänzenden
Plädoyer die Ratten verteidigt, die in die Stadt Autun eingefallen waren. In
dieser Sammlung rekapituliert Chasseneuz alias Chassené die alltäglichen
Fragen, die die verheerenden Taten der schädlichen Tiere aufwerfen, die er übrigens
alle aufzählt: Ratten, Feldmäuse und Wühlmäuse, Rüsselkäfer,
Nacktschnecken, Maikäfer, Raupen und anderes Ungeziefer, lauter Schädlinge,
die die Ernten vernichten.
Muss man sie daher vor Gericht stellen?, fragt Chassené, der eine
Bestandsaufnahme der damals gängigen Rechtsprechung unternimmt. Diese ist
eindeutig: Die Tiere müssen vor einem Gericht erscheinen, und sie werden
namentlich zu der Verhandlung vorgeladen. Und wenn sie nicht persönlich
erscheinen können, wird von Amts wegen ein Anwalt bestellt, der sie vertritt.
Diese Prozesse werden ausschließlich vor dem Gericht des Bischofs geführt; die
gefällten Urteile verbannen die Schädlinge und das Ungeziefer von den
bestellten Feldern, die sie ruinieren, da sie jedoch ihr natürliches und
legitimes Bedürfnis, sich zu ernähren, anerkennen, gestatten sie ihnen, sich
auf dem Brachland niederzulassen. Und wenn die angeklagten Tierchen den
Anordnungen nicht Folge leisten, also praktisch immer, belegt der Richter sie
mit dem Kirchenbann oder spricht die Exkommunikation aus. Auf diese Weise werden
die Fliegen von Laon exkommuniziert, ebenso wie die Heuschrecken von Troyes und
zahlreiche andere Raupen und Wildkaninchen.
Aber nicht alle Straftäter der Tierwelt werden exkommuniziert. Die Haustiere
bekommen einen ordnungsgemäßen Prozess, allerdings vor einem weltlichen
Gericht. Schweine, Rinder, Esel, Hunde oder Pferde, die sich schuldig gemacht
haben, indem sie Läden oder Gärten verwüstet, Nahrung gestohlen, die Arbeit
verweigert oder, weitaus schlimmer, einen Menschen ermordet haben, werden
verhaftet und ins Gefängnis gebracht, wo sie auf ihr Urteil warten.
Wie bei jedem anderen Verbrecher nimmt die Polizei ein Protokoll auf, führt
ihre Ermittlungen durch, lädt die Zeugen vor und hört sie an. Und dann der
Urteilsspruch. Das Urteil wird gefällt und schließlich dem schuldigen Tier in
seiner Zelle verkündet. Und so wurde 1386 in der Normandie eine zum Tode
verurteilte Sau, von den Ohren bis zu den Füßen wie ein Mensch gekleidet, von
einer Stute (eine absolut entwürdigende Behandlung!) zum Festplatz gezogen, wo
sie hingerichtet wurde. Vor dem Vicomte de Falaise und seinen Bauern, die mit
all ihren Schweinen zu ihrer größten Erbauung herbeigeeilt waren, und vor dem
Besitzer der Sau, der in die erste Reihe gesetzt worden war, "um ihn zu
beschämen", schnitt der Henker der Sau die Schnauze ab und schlitzte einen
Schenkel auf. Dann setzte er eine Menschenmaske auf die verstümmelte Schnauze
und hängte das Tier an seinen Hinterbeinen auf, bis der Tod eintrat, wonach die
Sau schließlich noch auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Was hatte diese Sau verbrochen, um einen solchen Tod zu verdienen und ihre
Artgenossen aus der Umgebung in dieses Schauspiel ihrer Hinrichtung
hineinzuziehen? Nachdem sie ins Haus eingedrungen war, hatte sie das halbe
Gesicht und den Arm eines drei Monate alten Säuglings gefressen, Jean le Maux,
der in seiner Wiege lag und an seinen Verletzungen starb.
Ebenso wird in Gisors ein Ochse wegen schuldhafter Verfehlungen gehenkt; in
Clermont-en-Beauvaisis wird eine Eselin mit der Arkebuse erschossen, weil sie
ihre neue Herrin getreten hat; in Baugé henkt und verbrennt man ein Schaf in
einem Sack zusammen mit seinem Besitzer wegen bestialischen Verhaltens.
Tierprozesse sind an der Tagesordnung. Die Starrolle spielen in den Chroniken über
Strafprozesse gegen kriminelle Tiere, die bis ins 17. Jahrhundert üblich waren,
die Schweine, denn sie streifen damals nach Lust und Laune frei durch die Städte
und auf dem Land herum, wo sie als Straßenarbeiter und Müllmänner fungieren
und die Friedhöfe verwüsten, um die Leichen in Stücke zu reißen. Unter der
Folter gesteht (sic!) eine andere Sau 1457 in Savigny-sur-Etang in der Bourgogne,
dass sie den fünfjährigen Jehan Martin getötet und mit ihren sechs Ferkeln
zur Hälfte aufgefressen habe ...
Warum diese Prozesse? Schlicht und ergreifend, damit die Tiere, deren Wesen zu
bestimmen man immer noch zögert - haben sie eine Seele oder nicht und wenn, was
für eine? -, unparteiisch und gerecht behandelt wurden. Wie jeder x-beliebige
Mensch.
Manchmal war ich vollkommen glücklich. Immer dann, wenn meine Eltern plötzlich
beschlossen, aus Aix-en-Provence zu fliehen, das kam einfach so über sie.
"Fahren wir?"
"Wir fahren."
Keine Schule mehr, keine Nachbarn, keine Blicke mehr auf mich. Die Zwänge
blieben an der Wohnungstür zurück. Jeder machte es sich in seinem Eckchen
bequem, entspannt und unbewacht. Auf diesen kleinen Reisen - in der Regel fanden
sie am Wochenende oder in den kleinen Schulferien statt - durchlebte ich Phasen
vollkommener Glückseligkeit. Ich war endlich ganz bei mir, ganz ich, unteilbar,
Gestalterin des Augenblicks und nicht mehr im Abseits, an den Rand gedrängt, während
ich mit äußerster Aufmerksamkeit beobachtete, was um mich herum geschah, ohne
dass es mir jemals gelang, daran teilzunehmen. Dieses Warten erschöpfte mich
und lud mich zugleich mit einer gewittrigen Elektrizität auf, als würden die
Elektronen des Kosmos miteinander streiten und mein Blut in Wallung bringen,
schlechtes Blut, Blut einer Rebellin, aber woher hatte ich dieses Blut?