Ror Wolf: "Pfeifers Reisen"
Gedichte
Reim reimt sich auf Reim
Wenn Brigitte Kronauer urteilt, Ror Wolf sei "einer der wichtigsten
deutschen Schriftsteller der Gegenwart", dann könnte man dem
versuchsweise zustimmen, weil es ja sooo viele "wichtige" deutsche
Schriftsteller in der Gegenwart gar nicht mehr gibt. Oder anders
ausgedrückt: wer wollte am Beurteilungsvermögen
Brigitte Kronauers zweifeln?! Die vorliegende Sammlung neuerer und
älterer bisher unveröffentlichter Gedichte erscheint
zum 75. Geburtstag des Poeten. Am bekanntesten war Wolf ja wohl durch
seine Fußball-Hörcollagen geworden, aber auch seine
Prosa galt als durchaus außergewöhnlich. Der
vorliegende Band gliedert sich in vier Abteilungen - zunächst
"Hans Waldmanns Abenteuer. Vierte und letzte Folge (1995-2006)". Die
Texte sind in Ton und Inhalt äußerst lakonisch, etwa
wenn das Schiff, auf dem Waldmann fährt, untergeht und es
heißt: "Nur Hans Waldmann wird ans Land geschwemmt / dieses
Land ist hart und kalt und fremd." Oder es heißt ein
andermal: "Waldmann hat im Mund viel Platz für Worte / von der
einen und der andren Sorte." Irgendwie fühlt man sich ein
klein wenig an
Morgensterns
Palmström erinnert - aber der war zugegebenermaßen amüsanter als Wolfs Waldmann.
Im zweiten Teil "Doktor Pfeifers Reisen. Ein Versepos in 40 Umdrehungen
(2006)" heißt es im "Prolog": "Waldmann wird von jetzt an
Pfeifer heißen" - soll das vielleicht eine Drohung sein? Ach
nein, es geht auch hier nicht um sehr viel: "Erst kommt Pfeifer und
dann geht er wieder. / Dann geht Pfeifer etwas hin und her. / doch
warum - das wissen wir nicht mehr." Der Leser wird um Geduld gebeten,
die er auch wirklich braucht - denn: "Pfeifer fliegt mit dampfenden
Zigarren / um die Welt, es fällt ihm nichts mehr ein." Und
sehr gewagt ist auch der Reim "denn er findet plötzlich einen
Fuß / und am Ende findet er den Schluß." Da frisst
Wolf manchmal den Reim mit skrupelloser Nonchalance.
Der kurze Zwischenteil "Herr Q Ansichten Absichten Einsichten
Aussichten (1972/78)" sollte wohl lediglich archivarisch-nostalgisch
ein paar Gedichte quasi herüberretten. Q ist wohl ein
lyrischer Vorfahre des oben Behandelten - zumindest raucht auch er
Pfeife. Irgendwie trostvoll klingt dann doch sein Versprechen:
"Von nun an wird man nichts mehr von mir hören." Und
dann kommen allerdings noch "Neunzig Gelegenheitsgedichte aus dem
Nachlaß (1956 - 2006)" - und da finden sich "Moritaten
Balladen Romanzen / Rouladen Pasteten Malaisen /
Sonette Songs Terzinen
/ Kalendersprüche / Küchenlieder / und soweiter"
(Untertitel) in bunter Mischung. Das ist freilich der bei Weitem
interessanteste Teil, da hier recht aufschlussreich die chronologisch
dichterische Entwicklung dokumentiert wird. Da tauchen frühere
Zeilen auf wie "wo kein Mund ist, ist kein Wort / Wo keine Frau ist,
ist kein Rock / Und wo kein Mensch ist, ist kein Mord." Wolf erweist
sich als pingeliger Surrealist ("so war es doch es war nicht so") - er
versteift sich in Absurditäten. Oder er lässt es
darauf ankommen: "Ich beginne jetzt mit einem Satz / doch der Satz ist
mir noch unbekannt.“
Und schließlich verfällt Wolf im Sonett
"Nach dem
Öffnen des sechsten Biers im Mai" gar dem Nonsens: "so wie so
was so dies und das so mund / so nass so blass so krass so stoch so
loch / so hier so gier so bier so schlund so und." Wolf reimt eben gern bis
zum absurden Exzess, da reimt sich Reim auf Reim - er bringt auch öfter einmal Aufzählungen, deutet nur an, widerruft -
und er erzählt von den unmöglichsten Leuten und den
unwichtigsten Vorkommnissen. Da ist es kein Wunder, dass er uns auch
noch veräppelt: "Der Leser dampft. Der Leser tut mir leid / Er
hat das alles bis zum Punkt gelesen. / Nun kommt das Ende der
Gemütlichkeit." Ach ja, man kann das Buch bei jedem Wetter
lesen, man wird nicht sonderlich erregt - es kommt zum intellektuellen
Schmunzeln - na immerhin.
(KS; 06/2007)
Ror Wolf: "Pfeifers Reisen. Gedichte"
Schöffling & Co., 2007. 258 Seiten.
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Ror
Wolf wurde 1932 in Saalfeld/Thüringen geboren. Für
sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. Ror Wolf starb am 17. Februar 2020 im Alter
von 87 Jahren in Mainz.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille"
"RAOUL TRANCHIRERS BEMERKUNGEN ÜBER DIE STILLE" sind der
Schlussstein der umfassenden "ENZYKLOPÄDIE FÜR
UNERSCHROCKENE LESER", ein Lexikon aus purer Literatur, das dem Leser
den Kopf zurechtsetzt, und das kam so: Im Juli ’53 erscheint
Tranchirer mit einer Reisetasche auf dem Gelände des Anhalter
Bahnhofs und sagt, auf den Fußboden deutend: "Der
Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen
Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben." Dieser
Satz war der Beginn einer radikalen Beschäftigung mit den
Geheimnissen der Welt.
1983 erschien sein "VIELSEITIGER GROSSER RATSCHLÄGER", ein
inzwischen in vielen Ausgaben auf sämtlichen Kontinenten
verbreitetes Werk. Bis ins Jahr 2001 arbeitete er ohne sichtbare
Ermüdungserscheinungen an seiner vierbändigen
"ENZYKLOPÄDIE FÜR UNERSCHROCKENE
LESER", dieser
einzigartigen Besichtigung der Wirklichkeit, der Weichheit und
Bleichheit, der Geschwindigkeit und Geschmacklosigkeit,
Gemütlichkeit und Gefräßigkeit, der
Trockenheit, der Feuchtigkeit, der Gelassenheit und Verlassenheit, der
Gewöhnlichkeit, der Empfindlichkeit, der Grausamkeit,
Einsamkeit, Schamlosigkeit und Bequemlichkeit, vor allem aber der
Selbstverständlichkeit aller dieser Erscheinungen.
Enzyklopädien sind, wie wir wissen, ihrem Wesen nach
unabschließbar. Für Tranchirers
Enzyklopädie gilt das nicht. Zweifellos wird er die Welt
weiterhin beobachten, aber er wird sich nicht mehr zu ihr
äußern. Nach seinen Bemerkungen über die
Stille schweigt Raoul Tranchirer. Die "ENZYKLOPÄDIE
FÜR UNERSCHROCKENE LESER" ist abgeschlossen.
(Schöffling & Co.)
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