Christa Wolf: "Leibhaftig"
Die
Uhr, die tief im Grünen zwölfe schlägt - Vielleicht,
daß diese Stunde stille steht. (Aus
dem Gedicht "Im Spital / Menschliche Trauer" |
In Gedanken, Worten und
Werken |
Doch
damit der Heilungsvorgang tatsächlich einsetzen kann, muss sie der Geschichte
ihrer - nicht ausschließlich körperlichen - Leidensverdrängungen auf den Grund
gehen. Es ist eine unausweichliche Frage von Leben und Tod, dass sie sich ihren
Gefühlen stellt und dem Verlauf der Stollen in das eigene Berg(Boll-?)werk, von
ihr als "innere Archäologie" bezeichnet, folgt. Erst dadurch setzt sie
ihr
träges Immunsystem wieder in Gang. Die namenlos bleibende Erzählfigur, die
zeitweilig als "ich" und dann wieder als "sie" beobachtet,
denkt und spricht, leidet und behandelt wird, treibt über weite Passagen ohne
Zeitgefühl im Fieberschlaf durch verschiedene Lebensabschnitte- und Bewusstseinsebenen,
erlebt Wiederholungen traumatisierender und familiengeschichtlich bedeutsamer
Episoden, beginnend in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Es ist die Fahrt durch
ein Labyrinth, mitunter Spiegelkabinett, in einer Hochschaubahn, wobei die Welt
des Krankenhauses mit ausgedehnten Gängen, leeren Korridoren und dunklen Winkeln
die äußere Entsprechung des inneren Erlebens der Erzählfigur ist. Erinnerungsfetzen,
unterdrückte Wahrheiten, zerbrochene Freundschaften, verlorene Ideale, ungeklärte
Missverständnisse - alles kann zum Hindernis auf dem Weg zurück ins Leben werden,
sofern sich unbewältigter Daseinsmüll angehäuft hat.
Die
Kranke sieht sich in ihren Träumen von Bekannten oder Gestalten aus den Tagesnachrichten
umgeben und manches Mal wenn sie erwacht, ist ihr Ehemann - der auf das "du"
reduziert ist - anwesend und die üblichen besorgten Fragen, Andeutungen und Gesten
strengen sie an oder stören sie geradezu,
sodass
sie ihn wiederholt auffordert, zu gehen.
Als
sie endlich - wenn auch zaghaft - den Sprung in den inneren Abgrund wagt, wagen
muss, der in Fieberfantasien in Form von bedrohlich-weitverzweigten Kellergewölben
unter der Stadt Berlin erscheint,
reagiert der Körper zu guter Letzt auf die Behandlung der engagierten, wenngleich
bisweilen recht hilflosen, Ärzte, die das benötigte Medikament auf geheimen Wegen
gerade noch rechtzeitig aus dem Westen besorgt haben. Und die Erzählfigur meint
schließlich: "Mit Schlafen habe ich schon genug Zeit versäumt, überhaupt
versäume ich hier drinnen eine Menge Zeit. Viel später verstehe ich, dass dies
meine erste Empfindung aus dem Kosmos der Gesunden ist. Wenn Gesundwerden bedeutet,
Kranksein nicht mehr für den einzig möglichen Zustand zu halten."
Christa Wolf, 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, fasst die durch Krankheit verursachte
Auflösung gewohnter Sichtweisen ausgezeichnet in Worte. Sie stellt den Kampf,
den die inneren Kräfte mit der Verlockung, in Resignation zu verfallen und das
Leben aufzugeben führen, nachvollziehbar hautnah dar.
Der Autorin ist eine beeindruckend dichte, sprachlich
überaus interessante Erzählung zum Thema krankheitsbedingte Krise gelungen. Die
Perspektivenwechsel zwischen verschiedenen Ebenen ergeben zusammen mit der intensiven,
punktgenauen Sprache wahrhaft atemberaubende Momente größtmöglicher Nähe zwischen
der Ich-Erzählerin und dem Leser. Beständige Worte für flüchtige Augenblicke und
Zustände zu finden, die sich gemeinhin der Sprache entziehen - Christa Wolf hat
diese Herausforderung exzellent gemeistert!
Und
weil auch die Erzählfigur die erbauliche Kraft der Lyrik, in ihrem Fall allerdings
von Goethe, zu schätzen weiß, mögen folgende Worte diese Buchempfehlung beschließen:
Abstand | Die Genesende |
Wie
ein Singen kommt und geht in Gassen und sich nähert und sich wieder scheut, Flügel schlagend, manchmal fast zu fassen und dann wieder weit hinausgestreut, spielt mit der Genesenden das Leben; Und sie fühlt es beinah wie Verführung, |
(kre)
Christa
Wolf: "Leibhaftig"
Suhrkamp, 2009. 180 Seiten.
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