Christa Wolf: "Mit anderem Blick"
Erzählungen
Zähne zusammengebissen, hier
schreibe ich
Wer vor Kurzem erlebte, wie Christa Wolf für ihr neues Buch in der Zeitschrift
"Die Welt", dem Flaggschiff der Springerpresse, abgebürstet wurde, dachte automatisch:
Die alten politischen Reflexe funktionieren ja doch. Hier wird eine große Autorin
schlecht gemacht, nur weil sie zu lange erfolgreich den Spagat zwischen Ost
und West probierte, und sich nach der Wende weigerte, wie andere ehemalige Staatsschriftsteller
mehr oder minder willig der Vergessenheit anheim zu fallen. Ihre Erzählung "Was
bleibt" empörte viele, da die in der DDR von der Führerschicht auf Händen getragene
Vorzeigeautorin sich plötzlich als politisch Verfolgte darstellte. Im Rückblick
muss man die Autorin jedoch für ihren damaligen Husarenritt beglückwünschen.
Der Skandal belebte das Interesse an ihrem Schrifttum und rettete ihre Karriere.
Heute gehört Christa Wolf zu den Giganten der deutschen Literatur. Dass sie
nun von Luchterhand zu Suhrkamp ging, wird als großartige Neuerwerbung gefeiert,
und eine der neueren Erzählungen im Buch, "Fototermin L.A." bereitwillig im
Magazin der "Süddeutschen Zeitung" abgedruckt.
Ist "Mit anderem Blick" ein großes Buch? Nein. Ist es ein lesenswertes Buch?
Allemal. Es ist das Buch einer großen Autorin, daran besteht kein Zweifel. Einer
großen Autorin, die alt und schreibmüde geworden ist und irgendwie die Schnauze
vom Kulturbetrieb voll hat. Es ist eine großartige Beschreibung, was es bedeutet,
alt und schreibmüde geworden zu sein, was die Selbstbezogenheit der Autorin,
die von Anfang an ihr Markenzeichen war, konsequent fortsetzt. Ich habe das
Buch gerne gelesen, aber natürlich an zahlreichen Stellen etwas gemacht, was
man beim Hinterherfahren im Straßenverkehr "ins Lenkrad beißen" nennt. Man ärgert
sich, warum das da vorne so langsam geht, und wie blöd ist der Fahrer da vorne
eigentlich? Selten sind diese Reaktionen gerecht. Aber nur gemach, all das soll
hier noch näher erklärt werden.
Anfangs soll festgehalten werden, dass auch das neue Buch - wie alle
von Christa Wolf - schnell erkennen lässt, warum die Autorin einmal für
den Nobelpreis gehandelt wurde. Es ist Befindlichkeitsprosa auf einem hohen
sprachlichen und kulturellen Niveau, ästhetisch reizvoll und originär. In langen
Jahren Bachmannpreis-Strebens gab es in Klagenfurt keinen Autor, der zu ähnlicher
sprachlicher Form aufgelaufen wäre. Christa Wolf wird
Ingeborg Bachmann stilistisch gerecht. Sie ist eine Große. Ihre Sprache
kann verzaubern, und ihr Erzählstil ist virtuos. Gut, dazu kann man einschränkend
bemerken, dass 90 Prozent des Publikums entweder "Harry
Potter" oder "Sakrileg"
lesen, aber das ist läppisch. Zu subjektiv, nur um die eigene Person kreisend
und elitär sind Worte, die Kritikern einfallen, die keine Kenner sind. Christa
Wolf ist guter, alter Wein.
Trotzdem muss die Frage gestattet sein, wie interessant die Perspektive einer
um sich selbst kreisenden alt, immobil gewordenen Frau mit Involutionsdepression
und Hüftarthrose sein kann, wenn sie über eine neue Welt schreiben will, zum
Beispiel, was den Schwerpunkt des Buches bildet, Kalifornien. Ist reizvoll im
Ansatz, so eine alte Frau im Land der ewigen Jugend. Zum Teil kann hier Frau
Wolf Kapital aus dem Thema schlagen, doch man merkt schnell, sie ist von Marx
geschult und gibt sich auch gern mit kleiner Münze zufrieden. Sie sitzt zum
Beispiel auf einer Bank und sieht wie zwei knutschen, dann wird sie von einem
Bettler angesprochen, der ein Indianer ist. Schluss mit der Episode. Klasse.
Alte Frauen fahren auf Kaffeefahrten
in die Wüste und mäkeln. Alte deutsche Frauen wundern sich über den Optimismus
einer jüngeren Frau und sind gekränkt, wenn man sie für deutsch hält, weil sie
so eine Leichenbittermiene machen. Alte Frauen werden an der Hüfte operiert
und machen sich Gedanken über irgendwelche vergessene Typen in Moskau, kommunistische
Kader, die sie missbilligten. Das hat den Charme einer vergangenen Epoche und
ist lesenswert, allerdings hat man manchmal das Gefühl, innerlich ein bisschen
zu kichern, zum Beispiel, wenn die Autorin ihre Schreibmaschine als "unzumutbare
Mahnerin" abkanzelt, während sie darauf literarisch zugange ist. Der heutige
Leser grinst über so was. Erstens: Schreibmaschine - Frau Wolf ist also dieses
geheimnisvolle Wesen, das die deutsche Schreibbandindustrie noch am Laufen hält!
Zweitens: Schreibblockade, Schreibverpflichtung. Wer wartet denn händeringend
auf die Texte der Autorin, die gar nix mehr sagen will und sich mühselig englischsprachige
Halbsätze wie "Don't worry!" abringt im Versuch, den Makel des Ewiggestrigen
abzuschütteln? Gewiss wartet das Feuilleton der "Welt" nicht darauf ... oder
das Feuilleton von, nun, zumindest allen Zeitungen, die den Suhrkamp-Verlag
nicht mögen.
Das Buch bleibt ein lesenswertes
Werk über das Altern. Der südafrikanische Nobelpreisträger
Coetzee hat in seinem Roman "Elizabeth Costello" so eine Autorin beschrieben,
der die Welt abhanden kommt. Ihre Virtuosität ist noch da, doch ihr Radius verkleinert
sich, auch beim Schreiben. Lebensthemen werden zu fixen Ideen, die befremden.
Der Stil wird weniger biegsam, oft reichen Andeutungen, wo man sich nicht mehr
die Mühe gibt, auszuformulieren. Bei den im Band versammelten Texten kann man
ein Grundprinzip anlegen: Je älter der Text, desto reicher und interessanter,
je jünger, desto kümmerlicher. Die neuen Texte wirken dann oft schon fast wie
Fleißaufgaben, die zwar noch die große Schreibkunst und Einfallsgabe der Autorin
dokumentieren, aber eben nur mehr als Scherben. Man ist an ein Wunderkind erinnert,
das erwachsen geworden ist und keinen mehr interessiert. Denken Sie Heintje
als Kind und heute.
Was gibt es in dem Band zu lesen? Er beginnt mit den Texten "Nagelprobe", "Im
Stein" und "Assoziationen in Blau". Die zeitliche Abfolge erkennt man daran,
dass "Nagelprobe" noch ein virtuoses Geflecht von Assoziationen und Wortspielen
ist, beste "Suhrkamp-Literatur" im alten Sinn, wo man mit kleinen Einschüben
wie "sagte er" oder "denke ich" vorgibt, etwas zu erzählen. "Assoziationen in
Blau" sind weitaus kürzer und machen sich die Mühe nicht mehr, etwas Anderes
vorzuspiegeln als zusammengeschriebene Notizbucheinträge zu sein. Trotzdem:
Die Texte liegen auf einem Niveau, bei dem man im ersten Fall den Eindruck hat,
große Literatur zu lesen, etwas verspielt, etwas ich-bezogen, aber bereichernd,
und im zweiten Fall Ideen zu lesen, die man in große Literatur verwandeln könnte.
Der zweite Abschnitt könnte - um nun ein bisschen grob zu werden - überschrieben
werden "Impressionen eines Landeis". Es sind die Amerika-Impressionen der Künstlerin,
die sichtlich beklommen aus ihrer deutschen Idylle in das Imperium der Neuzeit
fährt. Vielleicht bin ich hier voreingenommen, weil ich dort eine Zeitlang gelebt
habe und finde, dass L.A. und gerade Santa Monica so etwas ist wie
Frankfurt
am Main am Strand. Was man kennt, verliert eben an Exotik, und ich kenne die
Gegend, die Christa Wolf schildert, sehr genau, bin zufällig selbst oft genug
im Bus auf der Third Street in Santa Monica gefahren. Umso mehr erstaunt es
mich dann aber, wie wenig Frau Wolf das Flair mit Worten einfangen kann. Sie
fährt eben im Bus und dann steigt sie aus dem Bus und dazwischen denkt sie an
Moskau, wo sie mit einem Funktionär gesprochen hat, der anderer Meinung war
und sie Kleinbürgerin geschimpft hat. Soviel zum Jetzt und so viel zu damals.
Es ist grob, das jetzt so darzustellen, aber irgendwie ist das Leben zu kurz
für das Lesen derartiger Impressionen.
Teil Drei sind Christa Wolfs Arbeiten über ihr Leben mit ihrem Mann und über
ihren Mann. Der Abschnitt "Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein
Essen vor" ist etwas, das man in Österreich gern ein Dramolett nennt im Stile
von "Herr Peymann kauft sich eine Hose etc." Es sind diese Seiten, die andere
Kritiker zu Hohn und Spott animieren, da sie sich als Selbstpersiflage lesen.
Der Ehemann kann kochen, was ja viel für einen Mann ist, aber er ist offenbar
ein ziemlich konfuses, verhuschtes Wesen, über das man sich nur belustigen kann.
Hoffentlich wird er mit dem Essen fertig, denkt man sich, bevor Christa Wolf
ihre Geschichte geschrieben hat, sonst gibt's Schläge. Nun, das ist jetzt vielleicht
auch etwas gehässig. Jedenfalls verstehen sich die beiden, zumindest irgendwie,
und das ich auch schon eine Leistung nach so vielen Jahren.
Zuletzt ist in das Buch, das Erzählungen zu versammeln behauptet, ein Essay
eingeflochten über einen Tag im September 2001. Die Autorin hat sich seit vielen
Jahren vorgenommen, den 27. September jedes Jahres zu beschreiben, und das hat
natürlich einen besonderen Reiz durch 09/11, wenn auch nicht für die Autorin,
die verärgert anmerkt: "Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben."
Kann man verstehen, ist aber ein bisschen auf der schlappen Seite, wenn man
überlegt, wie fulminant eine Alters- und politische Gesinnungsgenossin wie Oriana
Fallaci auf das Ereignis reagierte. Was Christa Wolf darüber zu sagen hat, geht
nicht darüber hinaus, was jeder Durchschnittsmensch darüber sagen würde. Deshalb
würzt sie ihre Zeilen hier noch mehr als anderswo mit Zitaten, und schließt
die Geschichte mit einem Doppelzitat ab. Eines stammt von Ludwig Wittgenstein,
das andere von Ingeborg Bachmann: "Die auf Widerruf gestundete Zeit/ wird sichtbar
am Horizont/ ... Es kommen härtere Tage." Wenn eine Autorin darauf verzichtet,
die letzten Zeilen eines Buches selbst zu formulieren, ist das ein Ausdruck
von Verarmung.
Als Fazit bleibt, dass man Christa Wolf immer noch gerne liest, auch wenn sie
immer weniger zu sagen hat. "Mit anderem Blick" versammelt Erstklassiges, das
eher am Anfang steht, und Gelegenheitswerke, die zuletzt enttäuschen. Das Buch
bleibt eine Ermunterung, auf ihre früheren Werke zurückzugreifen, und sie wieder
einmal aus dem Bücherschrank zu holen.
(Berndt Rieger; 07/2005)
Christa Wolf: "Mit anderem Blick"
Suhrkamp, 2005. 190 Seiten.
ISBN 3-518-41720-7.
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