Georg Denzler, Carl Andresen: "Wörterbuch Kirchengeschichte"


Hierin ist pures Wissen verpackt. Über grob gesprochen 650 Seiten folgt Stichwort auf Stichwort zur Kirchengeschichte, eingepackt in Erläuterungen zur geschichtlichen Entwicklung, verdeutlicht im Gesamtkontext kulturhistorischer Zusammenhänge. Letztlich also eine Herangehensweise, die Kirchengeschichte als Teilsystem von Geschichte schlechthin begreift und nicht einfach nur darum bemüht ist, isolierte Fakten zu liefern. Und wenn sich ein Wörterbuch zur Kirchengeschichte auch naturgemäß nicht wie ein spannender Krimi liest, so kann es doch durchaus geschehen, dass der (religions)historisch interessierte Leser - arglos schmökernd - unvermutet in den Bann des, auf den ersten Blick noch spröden, Büchleins gerät.

So erfährt man beispielsweise unter dem unvermuteten Begriff Zillertaler Emigranten: "Schon seit dem 16. Jh. lebten im Zillertal (Nordtirol) Katholiken, die lutheranischen Lehren anhingen (deshalb auch Inklinanten genannt), vergleichbar den Anhängern des Evangelismus in Italien, ohne aber ganze Lutheraner zu sein. Um die Glaubenseinheit in Tirol zu wahren, verfügte Kaiser Ferdinand I. am 12.1.1837 ihre Ausweisung. Die meisten Exilanten siedelten sich in Zillerthal (Schlesien) an. Der kaiserliche Erlass verstieß nicht gegen den die auf dem Wiener Kongress von 1814/15 beschlossene Bundesakte, demnach die verschiedenen christlichen Religionsparteien hinsichtlich ihrer staatsbürgerlichen und politischen Rechte gleichzustellen waren, weil die so genannten Inklinanten keiner der offiziell anerkannten Religionsparteien angehörten." Man erfährt somit in einem Aufwaschen, warum das "Heilige Land" Tirol von so unbefleckter Heiligkeit ist (weil alles "Unheilige" vorsorglich ausgemerzt wurde), wie ernst man es am Wiener Kaiserhof mit der religiösen Toleranz tatsächlich meinte, und warum es ausgerechnet in Schlesien ein Zillerthal gibt. Das kurze Textzitat erregt natürlich weiteren Wissensdurst, stellt sich doch nun die Frage nach Begriffsklärungen zu "Evangelismus", "Luthertum" und zur religionsgeschichtlichen Bedeutung des "Wiener Kongresses", auf dem - man ahnte es schon - dann doch nicht nur in heiterer Gestimmtheit gewalzt wurde. Und, wie nicht anders zu erwarten, finden sich auf die aufgeworfenen Fragen fundierte Antworten, die ihrerseits zu anderen Themengebieten weiterleiten, sodass sich eine kraftvolle Eigendynamik entwickelt, die atemlos macht und letztlich - Bildung ist Machterwerb - zufrieden stellt. Eine Art der spontanen Lektüre übrigens, die sich insbesondere für Personen mit knapper Zeitökonomie bestens eignet. Und ist es denn nicht die Gelehrtheit, die den Menschen adelt?

Kirchengeschichte, das meint gegenständlich nicht Religionsgeschichte, sondern das Werden der christlichen Kirchen vornehmlich in Europa. Alte Kirche, Mittelalter und (abendländische) Geistesgeschichte, Papstgeschichte, Ketzerbewegungen, Hexenverfolgung und die spanische Inquisition, Reformation und Gegenreformation, Kreuzzüge und Neuzeit, diverse philosophische Strömungen, alle diese Thematiken werden zur Genüge ausgeführt, hingegen sucht man vergebens nach Stichwörtern wie "Buddhismus" oder "Hinduismus". Diesen gewiss beachtlichen Weltreligionen mangelt es einfach an einem geschichtsträchtigen Bezug zu den christlichen Kirchen, weshalb sie zweckmäßig weggelassen wurden. Sehr wohl erwähnt wird hingegen zum Beispiel der Islam (arabisch Unterwerfung unter Gottes Willen), der nach seiner schnellen Verbreitung in der arabischen Welt in das christliche Abendland vorstieß und bis heute - nicht zuletzt der Immigrationsbewegungen wegen - für die christlichen Kirchen und Lebenswirklichkeiten von eminenter Bedeutung geblieben ist. Die Leugnung der Dreipersonalität Gottes und der Gottessohnschaft Jesu durch den Islam ist und bleibt den Christen eine stetige theologische Irritation (oder auch ein theologisches Ärgernis), die nicht einfach damit abgetan werden kann, indem man, so wie es Thomas von Aquino in seiner "Summa contra gentiles" versuchte, den Islam zur heidnischen Religion herabwürdigt, deren Thesen, im Lichte ihres minderen Charakters betrachtet, notwendig indiskutabel sind. Die Ausführungen zum Islam und seiner Differenzen zum Christentum, (obgleich von den Autoren vor bestimmt schon mehr als zwanzig Jahren niedergeschrieben), beinhalten Brisanz in Zeiten aufgebrachter Diskussionen um den - vermeintlich repressiven oder, (je nach Standpunkt), auch nicht repressiven - Bedeutungsgehalt muslimischer Symbole ("Kopftuch"), die, wie auch immer Kritik und Gegenkritik motiviert sein mögen, als Angriffsflächen kultureller Ressentiments den Tatbestand historisch unbewältigter Bruchlinien zwischen den Zivilisationen abendländischer und morgenländischer Provenienz sichtbar machen. Ist man nun danach gestimmt, aktuelle gesellschaftspolitische Meinungsbildungsprozesse ebenso kritisch wie sachkundig zu kommentieren, kann ein Nachschlagewerk recht brauchbare und rasche Dienste leisten. Und Lösungsansätze aus sich anbahnenden Dilemmata erahnbar machen, derweilen sich christliche Mystik und muslimischer Sufismus eins sind in ihrer Praxis der Askese und Weltflucht bei gleichzeitiger emotionaler Gottesliebe und inniger Vereinigung mit Gott.

Nebst dem quasi erschöpfenden Fundus von über 700 Stichwörtern, die in der anregenden Form von Artikeln vermittelt werden, findet sich als besonderes und abschließendes Service an den Leser eine Liste sämtlicher Päpste, beginnend mit dem Heiligen Petrus (ca. 67 n. Chr.), einschließend die so genannten Gegenpäpste (Papstschismen). Handlich aber doch stattlich, weil keineswegs billig in der Ausfertigung, atmet das Wörterbuch zur Kirchengeschichte einen Geist von Buchkultur überzeitlichen Gehalts, der den bloßen Zweck eines praktischen Nachschlagwerks übersteigt und sich nicht allein über den unmittelbaren Nutzen erklärt. Ein Nutzen, der sich zumindest im Ansatz auch über virtuelle Suchmaschinen im Internet realisieren lässt, wobei der User jedoch mit dem wiederkehrenden Problem konfrontiert ist, auf sich alleine gestellt die Seriosität der dargebrachten Informationen selektiv beurteilen zu müssen. Was ihn letztlich erst recht wieder dazu zwingt, sich über hinreichend gesicherte Wissensbestände zu vergewissern. Eine einzige Wahrheit wiegt mehr als tausenderlei Geschwätz. Weshalb in erster Linie auch nicht die rasche Verfügbarkeit von möglichst großen Informationsmengen zu allem und zu nichts gefordert ist, sondern viel mehr die unzweifelhafte Gediegenheit von Information im Einzelfall.

Eine Gediegenheit, die gegenständlich durch das Autorenduo verbürgt ist. Carl Andresen, geboren 1909 in Agerskov (Dänemark), gestorben 1985 in Göttingen, und Georg Denzler, geboren 1930 in Bamberg, hatten die Ordinariate für Kirchengeschichte an den Universitäten Göttingen und Bamberg inne, wo sie aufgrund ihrer "venia legendi" Recht und Pflicht hatten, in ihren Vorlesungen die ganze Kirchengeschichte vorzutragen. Was eine im akademischen Ausleseprozess erworbene umfassende Gelehrtheit voraussetzt, die uns somit in Buchform zuteil wird. Zu erwähnen ist unbedingt noch, dass zu Aktivzeiten der eine der Autoren einer protestantischen Fakultät und der andere einer katholischen Fakultät angehörte, somit das Wörterbuch im Geiste konfessionellen Ausgleichs verfasst wurde, da das Manuskript wie überhaupt sämtliche Stichwort-Artikel kollektiv "gelesen" und gezeichnet wurden. Die Lektüre ist folglich frei von tendenziösen Inhalten, weil eben dem Prinzip strenger Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Wer also nach ebenso anregender wie ernsthafter Information zur (christlichabendländischen) Kirchengeschichte sucht, dem kann dieses Schriftwerk mit bestem Wissen und Gewissen empfohlen werden.

(Harald Schulz; 03/2004)


Georg Denzler, Carl Andresen: "Wörterbuch Kirchengeschichte"
Marixverlag, 2004. 672 Seiten.
ISBN 3-937715-23-1.
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