Günther Chaloupek, Dionys Lehner, Herbert Matis und Roman Sandgruber:
"Österreichische Industriegeschichte.
1700 bis 1748. Die vorhandene Chance."


Die österreichische Industriegeschichte: Eine Geschichte des Erfolgs!

Zur Entstehungsgeschichte der dreibändigen "Österreichischen Industriegeschichte" kolportierten die Autoren im Rahmen der am 15. Oktober 2003 im Festsaal des Technischen Museums Wien erfolgten Buchpräsentation mit verschämtem Schmunzeln eine Legende des Ärgers, welche eigentlich schon einige Zeit zurück liegt. Es begab sich nämlich zum Anlass des hundertsten Todestags der am 10. September 1898 ermordeten österreichischen Kaiserin Elisabeth eine wahrhaftige Lawine von Buchneuerscheinungen biografischen Inhalts, wozu Dionys Lehner und Mitautor Ferdinand Lacina während eines privaten Stelldicheins betrübt feststellten, dass dem nicht eine einzige "Biografie" heimischer Industriegeschichte entgegenzuhalten sei. Der Ärger ob dieses Missverhältnisses zugunsten tendenzieller Tratschlektüre saß letztlich tief genug, um mit Hilfe großzügiger Gönner aus der Schweiz (Stiftung "Dr. Lina und Robert Thyll-Dürr") sowie unter Mittun einer erlesenen Auswahl tatkräftiger Mitautoren und Helfershelfer ein ambitioniertes Buchprojekt auf die Beine zu stellen, das sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen kann. Nämlich ein Werk von überwältigender Bildpracht, wissenschaftlich fundiert und doch lebendig und farbenfroh im Ausdruck. Eben Wirtschafts- und Sozialgeschichte für das Auge und für den Kopf, gleichermaßen dem Kunstsinn wie auch der Gelehrsamkeit verpflichtet. Ein Produkt, das solcherart den exquisiten Charakter der österreichischen Industrieleistung widerspiegelt, insofern es den Autoren auch ein zentrales Anliegen war, ein besonders prachtvolles Buch herauszubringen. Was denn nun auch in überzeugender Manier gelungen sein dürfte.

Der erste Band aus der dreiteiligen Buchserie zur Bestandsaufnahme österreichischer Industriegeschichte, betitelt als "Die vorhandene Chance", umfasst die Zeitspanne 1700 bis 1848 und beschreibt eine Phase früher Industrialisierung der österreichischen Lande unter der Herrschaft der Habsburgerdynastie. Als zentraler Begriff kristallisiert sich "die Chance" heraus, zumal die Autoren die Geschichte der Industrie in Österreich primär als eine Geschichte von zeitweilig verpassten, letztlich jedoch erfolgreich genutzten Chancen erachten.

An der Wiege zur Protoindustrialisierung (Frühindustrialisierung) stand eine optimistische Vision des Fortschritts. Man sah in der Industrialisierung ganz allgemein eine Chance auf ein besseres Dasein für alle, was zu allererst jedoch die Disziplinierung der Arbeitskräfte mittels üblicherweise brachialer Methoden bedeutete. Die dem Menschen früherer Jahrhunderte offenbar keineswegs angeborene Arbeitsdisziplin wurde von mit Schlagstöcken bewaffneten Aufsehern regelmäßig erzwungen. Außenseiter mit abweichenden Verhaltensmustern landeten zwecks "Besserung" im Arbeitshaus. Und wenn der Prozess der Industrialisierung auch dadurch gekennzeichnet ist, menschliche und tierische Energie durch maschinelle zu ersetzen, so war es in diesem Zusammenhang doch zuallererst geboten, die Rohnatur des Menschen einem gewaltigen und oft auch gewalttätigen Rationalisierungsprozess zu unterziehen. Selbstentfremdung des Menschen von seinen natürlichen Anlagen und Neigungen war das Credo der Stunde und wurde zur Tugend überhöht, was wohl nicht jedermann eine Daseinswonne sein konnte. Wie überhaupt die Lohn- und Arbeitsbedingungen für das neu entstandene Industrieproletariat alles andere als erfreulich waren. So berichten die Autoren in ihren Ausführungen über die missliche Lage der "neuen Arbeiter", wozu auch Frauen und insbesondere Kinder zählten, von einer nicht zu leugnenden menschlichen Verelendung, zumal Arbeitszeiten und Arbeitsverhältnisse keineswegs gesetzlich geregelt waren. Schlechte und ausbeuterische Arbeitsbedingungen, wie auch die Gefahren am Arbeitsplatz und gesundheitsschädliche Verhältnisse waren lange Zeit kein Thema. Und es kam immer nur noch schlimmer. So entpuppte es sich als eine üble Verböserung von sowieso völlig unterentwickelten Arbeitnehmerrechten, als die unter Maria Theresia eingesetzte und für Arbeitsschutzbestimmungen zuständige Fabriken-Inspektion unter dem Eindruck wirtschaftsliberaler Überlegungen 1825 aufgelöst wurde. Nur langsam und unwillig und wohl auch unter mehr oder weniger sanftem Druck der rebellischer werdenden Proletarier ("Maschinensturm") und ihrer intellektuellen Avantgarde ("Kathedersozialisten; Karl Marx") wurde die soziale Lage der Arbeiter als zu behebender gesellschaftlicher Skandal wahrgenommen.

Das vorliegende Buch bietet sich dem interessierten Leser voll der interessanten historischen Details, die fürwahr nicht nur Wirtschaftsgeschichte im eigentlichen Sinne beinhalten. So hatte sich Österreich seit der Zurückdrängung des türkischen Expansionsstrebens unter Kaiser Leopold I. (1640-1705) zusehends zu einer europäischen Großmacht aufgeschwungen, die um 1780 - zur nachdrücklichen Durchsetzung ihrer imperialen Interessen - eine am Kontinent nach Russland zweitgrößte Heeresmacht unterhielt, deren stetes Anwachsen eine steigende Belastung für die Staatsfinanzen darstellte. Zur Finanzierung der - oftmals kriegerischen - Großmachtpolitik, bei allezeit leeren Staatskassen und drohendem Staatsbankrott, war die Erschließung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen unumgänglich, zumal nur ein Staat mit einer blühenden Wirtschaft und einem ebenso vitalen wie rasch anwachsenden Volk schlussendlich ein mächtiger Staat ist. Die nationalökonomische Schule der Kameralisten stellte die Theorie hierfür bei und lehrte unter anderem in ihrer "Staatskunstlehre" die "Glückseligkeit aller als das Fundament des Staates". Eine einsichtige Überlegung, die schon im 18. Jahrhundert im Ideal des "Wohlfahrtsstaates" im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus gipfelte, und von den Habsburgerkaisern, Maria Theresia (1717-1780) und Joseph II. (1741-1790), über ihre Bevölkerungspolitik tendenziell in die Praxis umgesetzt wurde (Einführung der allgemeinen Schulpflicht zwecks Alphabetisierung der Massen; Gründung des allgemeinen Krankenhauses in Wien, sowie die Errichtung diverser Einrichtungen sozialer Fürsorge).

Die Abhandlung der österreichischen Industriegeschichte stellt sich als eine bild- wie wortvermittelte Betrachtung im Fluss der Zeit dar, geordnet nach Momenten der Chronologie und des Sachbezugs. Zur Ausführung gelangen im Einzelnen eine Reihe von wesentlich mit der Industrialisierung verbundenen Aspekten, wie auszugsweise zu nennen sind: "Triebfeder Innovation", "Verlag und Manufaktur", "Typus des neuen Unternehmers", "Verkehrswege und Verkehrsmittel", "Engpass Energie", "Entstehung des Arbeiterstandes", "Begriff der Mehrfachen Globalisierung"“ und "Krisen der neuen Wirtschaftsweise".  Weiters wird der Entwicklung verschiedener Branchen ein besonderes Augenmerk geschenkt, wie beispielsweise - um nur die wichtigste zu nennen - der für eine expansionistische Großmacht besonders bedeutsamen Waffen- und Heeresbedarfsindustrie, welcher im hochmilitarisierten österreichischen Staat allemal noch der Löwenanteil an den Staatsausgaben zufloss, was der gedeihlichen Entwicklung der heimischen Wirtschaft nicht immer nur dienlich war, wie kritisch angemerkt wird. Die durchaus Respekt gebietende Stellung Österreichs im europäischen Vergleich als Wirtschaftsgroßmacht und ein Blick auf die Gelehrtenwelt der Nationalökonomie in Österreich runden das imposante Gesamtbild ab.

Und was sich jetzt in seiner beiläufigen Erwähnung möglicherweise nur wenig vielversprechend anmutet, ja dem Normalverbraucher vielleicht sogar ein Gähnen in die Mimik zaubert, entpuppt sich bei näherem Hinsehen allemal noch als eine spannende Sache. So wird beispielsweise in der Darstellung der die Industrialisierung tragenden Bevölkerungsschichten auf die überragende Bedeutung von ethnischen Minderheiten und konfessionellen Randgruppen hingewiesen. Und wenn von der exzeptionellen Rolle des Protestantismus - insbesondere der Calviner - für die Konstituierung der österreichischen Unternehmerschaft die Rede ist, fühlt man sich unwillkürlich an Max Webers "Religionssoziologie" erinnert, der vermittels dieser die protestantische Ethik als dem Geist des Kapitalismus förderlich, weil wesensverwandt, beschreibt. Auch die herausragenden Verdienste der Juden um die wirtschaftliche Höherentwicklung des streng katholischen Österreichs werden in diesem Zusammenhang von dem Autorenkollektiv keineswegs verschwiegen oder bagatellisiert, wobei, um dem allfällig rassistisch gefärbten Vorurteil vom hässlichen Kapitalisten entgegenzuwirken, ausdrücklich auf deren jahrhundertelange Randexistenz Bezug genommen wird. Menschen jüdischer Herkunft wurden demnach systematisch in den Stand ehemals diskriminierter Geldberufe abgedrängt. Der willkürliche Ausschluss der Juden von zahlreichen zünftischen und bürgerlichen Berufen hatte schlussendlich ihr Ausweichen in Branchen mit besonders hohem Wachstumspotenzial zur Folge gehabt, wozu nebst zahlreichen Dienstleistungs- und Bildungsberufen (Rechtswesen, Medizin, Pharmazie) eben auch das industrielle Unternehmertum gehörte.
An diesem Beispiel zum besonderen Charakter unternehmerischer Persönlichkeiten der frühindustriellen Phase ist eindrücklich zu ersehen, welch interessante und durchaus brisante Details im Zuge einer tiefer greifenden Betrachtung einzelner Aspekte der Industrialisierung dabei zum Vorschein kommen können.

Abschließend ist dem aus Luzern in der Schweiz gebürtigen Mitautor und maßgeblichen Projektinitiator Dionys Lehner, seit 1983 Schweizerischer Honorarkonsul in Linz, in seinem bei Gelegenheit der Buchpräsentation, am 15. Oktober 2003, geäußerten Urteil über das eigene Werk ohne Einschränkung beizupflichten: Wer dieses Buch liest, der ist nachher bereichert.
Dem ist in der Tat so. Es ist eine wahre Freude, darin zu lesen oder sich einfach nur an der gewaltigen Bilderpracht genussvoll zu weiden. Ein großartiges Geschenk an alle Freunde gehobener Buchkultur!

(Harald Schulz; 12/2003)


Günther Chaloupek, Dionys Lehner, 
Herbert Matis und Roman Sandgruber:
"Österreichische Industriegeschichte. 
1700 bis 1748. Die vorhandene Chance."
Ueberreuter, 2003. 300 Seiten.
ISBN 3-8000-3928-1.
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