Tim Winton: "Weite Welt"

Australische Geschichten


Enttäuschte Hoffnungen, verblasste Träume

Zwei Jungen, Freunde, die im Grunde nichts verbindet außer ihrer Außenseiterrolle, sind durch die Abschlussprüfung der High School gerasselt. In ihrer kleinen westaustralischen Heimatstadt Angelus haben sie unter diesen Umständen allenfalls eine Zukunft als Schlachthofarbeiter. Sie kaufen einen uralten VW und fahren einfach nach Norden - bis der Wagen den Dienst verweigert.
Biggie, der eigentlich tiefe Wurzeln in Angelus hat, geht den erträumten Weg zu Ende bis zu einem frühen Tod in der Ferne, der anonym bleibende Ich-Erzähler kehrt desillusioniert nach Angelus zurück, holt den Schulabschluss nach und beginnt ein Leben in der Durchschnittlichkeit.

"Eines Tages kam Peter Dyson nach Hause und fand seine Frau tot in der Garage."
Mit diesem Satz beginnt eine andere Kurzgeschichte, die den Leser in die Vergangenheit eines frischgebackenen Witwers und allein erziehenden Vaters entführt: Als dieser nach dem Selbstmord seiner Frau mit dem Sohn in seinen Heimatort Angelus zurückkehrt, begegnet ihm seine frühere Geliebte, mit der ihn eine destruktive Leidenschaft verband. Fay ist heruntergekommen, aber sie übt immer noch einen eigenartigen Reiz auf Peter aus. Aus Verantwortung seinem Sohn gegenüber gelingt es ihm jedoch, sich Fays bedrohlicher Anziehung zu entziehen und zu erkennen, dass er ein eigenes Leben aufbauen muss.

Es sind die Außenseiter, die Einsamen und Verletzten, das Strandgut der Gesellschaft, die in Tim Wintons Kurzgeschichten eine zentrale Rolle spielen, und diese Geschichten sind sämtlich miteinander verknüpft: Protagonisten der einen Geschichte begegnen flüchtig denen einer anderen, und in den meisten Geschichten geht es um Victor Lang, ebenfalls aus dem Ort Angelus, Sohn eines Polizisten, der die Korruption innerhalb seiner Einheit nicht verkraftet hat, der Trunksucht verfiel und schließlich seine Frau und den heranwachsenden Sohn verließ. In diesen Geschichten werden Episoden aus Vics Leben herausgegriffen; die Gesamtheit der Geschichten entwirft eine betrübliche Biografie voller Einsamkeit und Demütigungen. Der Vater scheitert und verlässt die Familie, die viel jüngere Schwester stirbt an Hirnhautentzündung, die Mutter geht putzen und lässt sich demütigen, um den Jungen und sich durchzubringen, er ist leidenschaftlich verliebt in ein Mädchen, das wie er "anders" ist, seine Gefühle aber nicht erwidern kann, und trotz seines Studiums und seiner Arbeit als Rechtsanwalt kann er sich der Kleinstadtvergangenheit und dem Schmutz nicht entziehen, der an ihm klebt und sich nicht verarbeiten lässt.

Ein eigenartiges trübes Zwielicht liegt über diesen Geschichten, in denen es um das Eingesperrtsein in der Unterschicht einer abgeschiedenen Kleinstadt, um meist unerfüllte Sehnsüchte und um Ausbruchsversuche geht, halbherzige und entschiedene, die alle letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Unbarmherzig schließt sich der Kreis, die Vergangenheit holt die Protagonisten ein, selbst wenn sie meinen, die "weite Welt" erobert zu haben, und überrollt sie mit einer Wucht, der sie nichts entgegenzusetzen haben.

Die Atmosphäre der Melancholie und Hoffnungslosigkeit, die in den Geschichten vorherrscht, lässt den Leser nicht unberührt, wenn er sich auf sie einlässt - und es wird ihm kaum gelingen, sich ihrer Faszination zu entziehen, denn Tim Winton ist ein vorzüglicher Beobachter und begnadeter Erzähler, der mit schlichter, ausdrucksvoller Sprache seine Heimat Westaustralien, eine an Perspektiven arme Stadt und deren Bewohner authentisch darzustellen vermag. Winton verleiht der Tristesse eine breite Palette von Farben und eine eigenwillige Schönheit. Und wie sein Protagonist Vic Lang, der sich auf Arbeitsrecht spezialisiert hat, vertritt er die einfachen Menschen, die jeden Tag um ihre Lebensgrundlage bangen.

Ein erhobener Zeigefinger ist indes kaum spürbar, dafür sind die Geschichten zu kunstvoll erdacht und ausgeführt. Der Leser bleibt nach der Lektüre nachdenklich zurück, nicht jedoch trübsinnig, das wäre billig; dieses Buch öffnet den Blick hin zur Vielschichtigkeit des Alltäglichen und zur Verletzlichkeit jener Oberfläche, unter der wir unsere Vergangenheit mit uns tragen.

(Regina Károlyi; 02/2007)


Tim Winton: "Weite Welt"
(Originaltitel "The Turning")
Aus dem Australischen von Klaus Berr.
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 349 Seiten.
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Tim Winton wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren. Er hat zahlreiche Romane, Sachbücher sowie Kinderbücher veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die "Shortlist" des "Man Booker Prize", und dreimal erhielt er den "Miles Franklin Award", den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, einiges wurde für Bühne, Radio und Film adaptiert.

Weitere Bücher des Autors:

"Der singende Baum"

Wo die feindselige rote Wüste gegen eine überwältigend schöne, wilde Küstenlandschaft schwappt, liegt der Westen Australiens, genauer, das kleine Fischerdorf White Point. Die Menschen hier sind wie das Land, zugleich hart und poetisch, ungehobelt und verführerisch. Manche haben eine dunkle Vergangenheit. Georgie Jutland ist hier gestrandet, lebt seit ein paar Jahren mit dem einflussreichsten Fischer des Ortes zusammen, den sie nicht liebt, kümmert sich um seine beiden Kinder, denen sie die tote Mutter nie wird ersetzen können. Sie ist vierzig Jahre alt, aus allen Bindungen herausgefallen. Ihre Nächte gehören dem Wodka und sinnlosem Surfen im Cyberspace. Luther Fox ist in White Point geboren. Aber auch er ist ein Außenseiter, war es schon mit seiner Familie, die bei Hochzeiten und Geburtstagen Musik für die Anderen machte, und ist es jetzt, ohne sie, erst recht. Die Musik hat er aus seinem Leben verbannt. Heimlich leert er nachts die Langustenkörbe der Fischer. Er ist ein Wilderer, ein Gesetzloser. Als er und Georgie sich verlieben, fliegt seine Deckung auf, und er muss fliehen. Nach Norden zieht es ihn, in die unwirtliche Sumpf- und Tropenlandschaft der Küste vor Kimberley, wo er die Härte des Lebens im Outback am eigenen Leib erfährt. Eine Geschichte über die Liebe zwischen zwei verletzten Seelen, über Menschen, die mit der Vergangenheit gebrochen haben und ihr dennoch nicht entkommen können.
Leser wie Kritiker in Australien erwarten jedes neue Buch von Tim Winton mit Ungeduld. An dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte hat er sieben Jahre geschrieben. Ein Roman über große Themen und über ein großartiges Land. Eine Reise durch innere wie äußere Landschaften, grausam und schön. (Luchterhand)
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