Martina Bick (Hrsg.): "Die Winterreise"
Vergangene Hoffnung, gegenwärtiges
Wehklagen und wachsende Verzweiflung -
Zwei Dutzend Geschichten, die einigen
Fußstapfen Wilhelm Müllers und Franz Schuberts zu folgen bemüht
sind
Mit Anthologien ist es bekanntlich so
eine Sache: Ein tragfähiges, wenngleich strukturierendes, so doch nicht allzu
sehr einschnürendes Konzept will gefunden sein, sodann versammeln sich Angehörige
der schreibenden Zunft, um - hoffentlich - inspirierte Beiträge zum Thema zu
liefern, auf dass ein stimmiges Ganzes entstehe.
Gegenständlich gibt Wilhelm Müllers Gedichtzyklus "Die Winterreise" Ausgangspunkt,
Marschrichtung und Ziel vor, und eine Gruppe deutschsprachiger Autoren versucht,
den Wegweisern folgend,
Schritt zu halten. Wann immer sich eine Schar von Wanderern auf den Weg macht,
stellt sich binnen Kürze heraus, wer wacker voran schreitet, wer zum Mittelfeld
gehört und wer zu den Nachzüglern zählt. Nicht anders verhält es sich bei einer
Anthologie unserer Tage, wo sich (man unterstellt grundsätzlich gute Absichten)
auch jeder Beteiligte nach Kräften um Textverständnis bemüht, zum Wohle der
zeitgenössischen Literatur.
Auf den Spuren Wilhelm Müllers wandeln nun also folgende Damen und Herren ("Musikwissenschaftler,
Biografen, Kriminalautoren, Essayisten, Musikjournalisten und eine bildende
Künstlerin" - so der Verlag), als Wegzehrung die poetischen Chiffren der Romantik
im Marschgepäck: Helga Anderle, Mischa Bach, Martina Bick, Oliver Buslau, Uwe
Friesel, Peter Gerdes, Birgit H. Hölscher, Beatrix M. Kramlovsky, Karr &
Wehner, Hartmut Mechtel, Jürgen Otten, Mechthild von Schoenebeck, Klaus Seehafer,
Michael Stegemann, Sabine Thomas, Regula Venske und
Gabriele Wolff.
Doch richten wir unser Augenmerk zunächst auf jenen Mann,
dessen Gedichtzyklus den Grundstein der hier besprochenen Geschichtensammlung
legte: Wilhelm Müller, auch als "Griechen-Müller" bekannt.
(Johann Ludwig) Wilhelm Müller wurde am 7. Oktober 1794 in Dessau als Sohn eines
Schneiders geboren. Von 1812 bis 1817 studierte er (mit Unterbrechungen) Philologie
in Berlin. Doch sein politisches Empfinden bewegte ihn schon 1813 dazu, als
Freiwilliger Soldat zu werden und in den Befreiungskriegen gegen die Heerscharen
Napoleons zu kämpfen. Im folgenden Jahr kehrte
Müller nach Berlin zurück und setzte seine Studien fort.
Bald schon trat er der "Berliner Gesellschaft für deutsche Sprache" bei und
schloss Bekanntschaft mit den
Gebrüdern Grimm, Friedrich de la Motte Fouqué
und Clemens Brentano.
Anno 1815, nach Reisen, die ihn u.a. nach Prag und Brüssel geführt hatten, studierte
Müller weiter. Zwei Jahre später war eine Ägyptenreise als Begleiter des Barons
Sack geplant, die - nicht zuletzt aufgrund einer in Konstantinopel wütenden
Pestepidemie - in Italien, wo Müller sich bis 1818 aufhielt, ihr vorzeitiges
Ende finden sollte. Das Zerwürfnis mit Baron Sack bedingte, dass Müller seine
Studien an der Universität nicht wieder aufnehmen konnte.
Im Jahr 1819 weilte er erneut in Dessau und arbeitete für ein recht bescheidenes
Gehalt als Lehrer für Latein und Griechisch. Alsbald fungierte er auf Geheiß
des Herzogs Leopold Friedrich als Leiter der neuen Hofbibliothek - Müllers Auskommen
war gesichert; er konnte sich fortan der Schriftstellerei widmen sowie als Übersetzer,
Herausgeber und Rezensent tätig sein; u.a. verfasste er journalistische
Beiträge für die Zeitschriften "Hermes, oder Leipziger kritisches Jahrbuch der
Literatur" und "Literarisches Conversations-Blatt" im Verlag F. A. Brockhaus,
auch arbeitete er als Redakteur für die "Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften
und Künste".
Man schrieb das Jahr 1821, als Wilhelm Müller Adelheid Basedow ehelichte.
In den folgenden Jahren entstanden einige seiner bedeutendsten Dichtungen.
Im Zuge seiner zahlreichen Reisen (nicht von ungefähr heißt
es "Das Wandern ist des Müllers Lust" ...) lernte Wilhelm
Müller literarische Größen seiner Zeit, darunter Johann
Wolfgang von Goethe, Ludwig Uhland, August Wilhelm Schlegel (den
Bruder von Friedrich Schlegel),
Wilhelm Hauff,
Gustav
Schwab, Justinus Kerner und Ludwig Tieck persönlich kennen.
Herzog Leopold Friedrich von Anhalt-Dessau verdankte Müller eine Wohnung im
Gärtnerhaus des Parkes Luisium, wo der Dichter mit seiner Gemahlin ab 1825 logierte.
Am 1. Oktober des Jahres 1827, kurz nachdem er von einer Reise zurückgekehrt
war, starb Wilhelm Müller in Dessau - nur wenige Tage vor seinem 33. Geburtstag.
Müllers durch das Volkslied,
Joseph von Eichendorff und die Romantik beeinflusste
Lyrik thematisiert freilich nicht ausschließlich Gemüts- und Gefühlswallungen
eines lyrischen Ich, wie man es vielleicht aus den Gedichtzyklen "Die Winterreise"
und "Die schöne Müllerin" kennt, nein, auch handfeste Kritik an den politischen
Zuständen in seiner Heimat klingt aus dem literarischen Schaffen, wenngleich
- notgedrungen - ob des Waltens einer gestrengen Zensurbehörde versteckt; eine
Taktik, die zumeist aufging.
Seinen Zeitgenossen war der in Sachen des deutschen literarischen Philhellenismus
engagierte "Griechen-Müller" in erster Linie als Schöpfer der "Lieder der Griechen
- Gedichte zum griechischen Freiheitskampf" (publiziert in den Jahren 1821 bis
1826) bekannt, welche den Unabhängigkeitskampf der Griechen gegen die türkische
Fremdherrschaft glorifizieren (als veranschaulichendes Exempel: "Hydra"), jedoch bisweilen auch Bezüge
zur politischen Lage in der Heimat des Dichters erkennen lassen.
Dauerhafte Bekanntheit erlangte Wilhelm Müllers Werk überdies gewissermaßen
"auf musikalischen Umwegen": Viele seiner liedhaften Gedichte wurden im 19.
Jahrhundert vertont und solcherart zu Volksliedern - man denke an "Der
Lindenbaum" und "Wanderschaft".
Besonders hervorzuheben sind die kongenialen Gedichtvertonungen aus der Feder
Franz Schuberts,
der seinen Bekannten im Jahre 1828 eröffnete, "einen Kreis schauerlicher Lieder"
zu Gehör zu bringen. Gemeint war "Die Winterreise", ein Werk, das übrigens bei
Schuberts Zeitgenossen auf gelindegesagt wenig Verständnis stieß; erschütternd
zerquält und depressiv erschien der Zuhörerschaft das Dargebotene.
Des Einen Leid, des Andren Freud: Seelenverwandte nachfolgender Generationen
schätzten und schätzen die Reize der aufwühlenden Stimmungsbilder! Romantische
Liebe, Hoffen und Bangen, Verzweiflung, Todessehnsucht - es sind berückende
Empfindungen, welche die Rückblicke der "Winterreise" durchwehen, überwältigende
Momentaufnahmen von Gefühlszuständen, die empfindsame Menschen mit Haut und
Haar ergreifen.
Keine geringe Herausforderung für die eingangs angeführten Schriftsteller also,
auf Grundlage der Müller'schen Leidenschaft ausgerechnet Prosatexte zu verfassen,
womit wir zur Anthologie zurückkehren.
Inwieweit dieses Unterfangen als geglückt betrachtet werden kann, sei der Beurteilung
des geneigten Lesers überlassen ...
Die Schar der Autoren verfasste zu jedem Gedicht der "Winterreise" eine Geschichte.
Optisch aufgelöst wurde dieses Ansinnen, indem man jedem Gedicht (in - nach
Meinung des Rezensenten - ungelenk wirkender Schrift dargeboten) eine zeichnerische
Umsetzung desselben mit fahlen Farbtönen und reduzierter, bisweilen kindlich
anmutender Strichführung und zum Teil verzerrenden Blickwinkeln hinzugesellte.
Diese Darstellungen von z.B. einsamen Stehern und Gehern, langen, gewundenen
Straßen und verkrümmten Bauwerken nehmen überwiegend jeweils eine Doppelseite
in Anspruch. Hierauf folgt eine Geschichte mit - je nachdem - mehr oder weniger
Bezug zum titelgebenden Gedicht.
Durch die Vorgaben bedingt, ist durchwegs die Rede von Glück und Unglück, Träumen,
Verliebtheit, Treue und Untreue, Trennungsschmerz, schaurigen Unglücksfällen,
von Morden gar und allerhand Verwirrspielen, auch nach Ereignissen aus der Welt
der mitunter als verschroben bekannten Sangeskünstler und ihrer nicht immer
gesitteten Anhängerschaft, Eifersüchteleien, verschmähten, verlassenen und verzweifelnden
Liebenden und ihren schmerzgepeinigten Worten und Werken hält man nicht vergeblich
Ausschau, dies alles - dem gefühlsmäßig vorgegebenen Verlauf der "Winterreise"
folgend - gewürzt mit Prisen aus den Befindlichkeitsschatullen der Trostlosigkeit,
Weltflucht, Einsamkeit und Krankheit sowie des Abschieds und des Todes - nicht
mehr und nicht weniger. Und doch kaum jemals so berührend wie in Müllers Gedichten.
Manche Autoren ließen sich zu Geschichten inspirieren (oder hinreißen?), die
in vergangenen Jahrhunderten angesiedelt sind, andere wiederum zogen es vor,
Grundzüge der Müller'schen Sprachbilder in ihre eigene Gegenwart zu transponieren,
einige Geschichten nehmen Gedichte als Ausgangspunkt, andere steuern dramatisch
auf Gedichte zu, manche entwickeln sich parallel zur poetischen Vorlage oder
spiegeln diese. Vereinzelt begibt man sich mit fiktiven Protagonisten auf die
Suche nach historischen Spuren, und wer nach einem an Syphilis Erkrankten sucht,
wird nicht enttäuscht!
Gelegentlich wurden pflichtbewusst sattsam bekannte Klischees bedient und reißerische
Schablonen, wie sie für Kriminalgeschichten oder auch Liebesromane Geltung haben,
mit Worten ausgemalt.
Nicht jede Muschel birgt bekanntlich eine Perle, doch sucht man beharrlich,
wird man fündig. Im übertragenen Sinn gilt dies auch für die gegenständliche
Anthologie!
Den Reigen der "24 melancholischen Geschichten zu Franz Schuberts Liederzyklus
nach den Gedichten von Wilhelm Müller" (Untertitel) beschließen ein Nachwort
von Barbara Sichtermann ("Das Weinen ist des Müllers Lust. Kleiner Beitrag zur
Kulturgeschichte der Schmerzäußerung") sowie mit eineinhalb Seiten knapp gehaltene
Anmerkungen "Die Gedichte Wilhelm Müllers", gefolgt von den zwei Dutzend Gedichten
ohne Beiwerk sowie biografischen Angaben zu den Autoren.
(Felix Grabuschnig; 11/2004)
Martina Bick (Hrsg.): "Die Winterreise"
Gerstenberg, 2004. 368 Seiten. Illustrationen von Stefanie Roth.
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Wilhelm Müller: "Die Winterreise"
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Tipps für die Schubert'sche Winterreise:
"Die Winterreise" - Hans Hotter (Bariton), Michael Raucheisen (Klavier)
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"Die Winterreise" - Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Gerald Moore (Klavier)
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"Die Winterreise" - Thomas Quasthoff (Bariton), Charles Spencer (Klavier)
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Ein Buchtipp:
Erika von Borries: "Wilhelm Müller, der Dichter der Winterreise. Eine
Biografie"
Wilhelm Müller (1794-1827), der Dichter der Winterreise und der
Schönen Müllerin, die durch Franz Schubert zu den berühmtesten Liederzyklen
der Musikgeschichte wurden, war zu Lebzeiten einer der angesehensten deutschen
Lyriker. Erika von Borries erzählt in ihrer anschaulichen und fesselnden Biografie
sein Leben. Sie löst seine Texte aus dem Bann der Musik und gibt ihnen ihre
literarische Bedeutung zurück.
Wilhelm Müller hat es in seinem kurzen Leben vom einfachen Schneidersohn zum
herzoglich Dessauischen Hofbibliothekar und Hofrat gebracht. In höchstem Maße
sprachbegabt und weltoffen, wurde er einer der wichtigsten Vermittler der
europäischen Literatur. Als Übersetzer, Kritiker, wissenschaftlicher Publizist
und Schriftsteller arbeitete er vor allem für den liberalen Leipziger Verleger
Brockhaus; daneben war Müller Lehrer für
Latein und Griechisch an der Dessauer
Gelehrtenschule. Mit seinen Liedern der Griechen engagierte sich Müller
leidenschaftlich für den Freiheitskampf der Hellenen gegen die Türken, so dass
er schon zu Lebzeiten den rühmenden Beinamen "Griechen-Müller"
erhielt.
Die Biografie zeichnet sein Leben und Wirken im Umfeld seiner Zeitgenossen
Brentano, Eichendorff,
Tieck, Gustav Schwab, Fouqué,
Goethe u.a. nach: ein exemplarisches Leben
zwischen Romantik und "Jungem Deutschland", zwischen den großen
Hoffnungen der Befreiungskriege und der tiefen Enttäuschung im
Restaurationszeitalter. (C.H. Beck)
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