Roger Willemsen: "Gute Tage"
Begegnungen mit Menschen und Orten
Im Jahre 2002 war ich bei
einer Lesung von Roger Willemsen, und der Autor erzählte nach seinem
fulminanten Bühnenauftritt bereitwillig von Erlebnissen im Dschungel von
Borneo, einem aberwitzigen Interview mit Madonna und erstaunlichen
Erfahrungen in Tokio. Ich dachte mir seinerzeit, dass diese
"abgefahrenen" Geschichten wunderbar in ein Buch passen würden. Nun gut,
zwei Jahre später ist es so weit, und der ehemals als "intellektuellste
Figur des deutschen Fernsehens" apostrophierte Mann legt ein Buch vor,
in dem neben den erwähnten Geschichten viele weitere erstaunliche
Ingredienzien enthalten sind.
Roger Willemsen schreibt über John le Carré folgendes:
" ... Mit einem Wort, wenn Persönlichkeit die Fähigkeit ist, sich in
jeder Situation und jeder Person gegenüber gleich zu verhalten, dann
erwies sich John le Carré als eine starke Persönlichkeit."
Wer je das Vergnügen hatte, mit Roger Willemsen ein - wenn auch noch so
kurzes - Gespräch zu führen, der wird nicht umhin kommen, den
einprägsamen Satz, mit dem er den erfolgreichen Autor charakterisieren
mag, auf ihn - Roger höchstpersönlich - zu beziehen. Tatsächlich kenne
ich keinen anderen televisionär agierenden Menschen, bei dem die
Fähigkeit sozialer Kompetenz stärker ausgeprägt wäre als bei diesem
bebrillten Hünen.
Da er mit jedem Menschen anscheinend mühelos Gespräche führen kann, die
stets von einem erstaunlichen intellektuellen und direkten Klima
durchströmt sind, verwundert es nicht, dass seine Berichte über mehr
oder weniger bekannte Menschen den Eindruck freundschaftlicher
Begegnungen vermitteln. Ein ironischer Ton prägt sich nur dann aus, wenn
er die Person, mit der er sich beschäftigt, schlicht und einfach nicht
ausstehen kann. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch, das von seinen
"Begegnungen mit Menschen und Orten" in der Zeit von 1990 bis 2004
berichtet, nur selten von jenem für ihn nicht untypischen Zynismus
durchzogen. Ist aber wohl auch kein Wunder, da er sich diesbezüglich mit
der "Deutschlandreise"
ziemlich ausgetobt hat.
Jede einzelne der persönlichen Geschichten, die Roger Willemsen
geschrieben hat, ist für sich allein gesehen ein kleines Kunstwerk. Es
gibt Einblicke in die Lebenswelten, Träume, Ängste und inneren
Widersprüche von Menschen. Keine der von ihm interviewten Personen
bleibt von unangenehmen Fragen verschont. Für den Autor gilt der
Gleichheitsgrundsatz.
Ganz bewusst hat Roger Willemsen die verschiedensten Charaktere und Orte
für sein Buch ausgewählt. Zum Beispiel: Auf einen liebenswerten Bericht
über einen japanischen Kannibalen folgt die zurecht satirische
Abrechnung mit
Harald
Schmidt.
Er schildert den nur 148 Zentimeter großen und 40 Kilogramm leichten
Issei Sagawa als sonderbaren, von seiner Umwelt stets missachteten
Menschen, der sich seine eigene Welt erbaute. In dieser Fantasiewelt ist
der mittlerweile zum Kannibalen mutierte Japaner kein Abziehbild, das
nur zu Spott Anlass geben mag. Er glaubt, von niemandem geliebt zu
werden, und gerade jene Frau, die ihm ein Stück Anerkennung zu
vermitteln scheint, wird Opfer seines bestialischen Angriffs. Während
die Frau in der Wohnung des kleinwüchsigen Mannes ein Gedicht vorträgt,
das an kannibalistische Riten gemahnt, tötet er sie mit einem gezielten
Kopfschuss. Nur wenig später isst er Teile ihres Körpers. Die
abscheuliche Tat des Mannes wird bald entdeckt, und er wird kurz darauf
in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zum Zeitpunkt des Interviews
ist der schmächtige Mann bereits in Freiheit und hat als Autor eine
gewisse Anerkennung erfahren. Roger Willemsen hat mit dem Kannibalen ein
einstündiges Interview geführt und sogar einmal mit ihm gemeinsam
gegessen. Er erlebte den Japaner als zurückhaltenden, in sich
zurückgezogenen Menschen, dem überhaupt nicht anzusehen ist, dass er
auch nur einer Fliege etwas zu Leide tun könne! Aber einmal hat dieser
harmlos scheinende
Mensch
unglaubliche morbide Energien freigesetzt und ein Verbrechen begangen,
das kaum fassbar ist. Ähnlich wie der "Kannibale von Rotenburg", der im
Jahre 2001 in die Schlagzeilen gelangt ist, weil er einen 43-jährigen
Berliner "zur Befriedigung des Geschlechtstriebs getötet, die Leiche
anschließend zerstückelt und Teile davon gegessen hat", gibt der
Japaner an, er habe die Frau nicht töten wollen. Es wäre ihm lieber
gewesen, wenn er in ihrem Beisein Teile ihres Körpers essen hätte
können. Der Mord war sozusagen nicht zu verhindern, da er nur auf diese
Weise in den Genuss seines eigentlichen Wollens kommen konnte. Roger
Willemsen maßt sich nicht an, über diesen Menschen zu richten, sondern
zeigt ihn von seiner menschlich-gebrochenen Seite.
"Der Absolut konträr freilich
die kleine Geschichte über Harald Schmidt. Die Worte, welche er mit dem
"Entertainer" im Laufe mehrerer Jahre gewechselt hat, sind so null und
nichtig, dass er sie nicht zu erwähnen trachtet. Es verwundert Willemsen
überhaupt, dass er von Schmidt dazu angetrieben werden konnte,
irgendeinen Schwachsinn zu erzählen, der in keinem noch so dümmlichen
Büchlein stehen sollte. Neben dem selbsternannten "Propheten" Papa
Wemba, der in der demokratischen Republik Kongo als Popstar verehrt wird
und sich eigentlich nur um sich selbst kümmern will (der Rezensent hat
ihn bei einem WOMAD-Konzert selbst gehört und den Musiker als seltsame
Persönlichkeit erlebt, die keinerlei politische Botschaft zu haben
schien), und der "eisernen Lady" Maggie Thatcher, die jegliche
persönliche Frage sofort auf einen politischen Kontext stutzen wollte
(was sich zum Großteil als lächerlich absurd herausstellte), ist Harald
Schmidt die dritte Person, an der Willemsen kaum ein gutes Haar lässt.
Er entlarvt den langjährigen "Late night show"-Anchorman als eitlen
Fatzken, der sich für nichts zu schade ist, wenn es nur Geld ins Börsel
bringt. Die hypochondrischen Übersteigungen von Schmidt werden kaum
gestreift. Zwar kann vielleicht Willemsens kleine
"Persönlichkeitsanalyse" von Schmidt als zutreffend bejaht werden; es
bleibt aber die Frage, warum er überhaupt der Einladung des "eitlen
Fatzken" Folge geleistet hat? Klar; es kann schlicht eine Probe aufs
Exempel gewesen sein; lässt aber einen winzigen widersprüchlichen Kern
zurück ... Andererseits hat sich Willemsen ja sogar als "lebendiger
Dummy" in der Nachfolgeshow von Schmidt - bei der zwar liebreizenden,
gleichzeitig jedoch kaum schlagfertigen Anke Engelke - zum "Affen"
gemacht. Der Autor ist halt auch ein schräger Vogel, dem wohl letztlich
alles zuzutrauen ist.
Auf zwei wunderbare Histörchen muss der Rezensent in dieser Besprechung
unbedingt hinweisen. Es sind dies jene, die sich auf Sinead O'Connor und
Timothy Leary beziehen.
Die rebellische Frau mit dem tiefen Kern macht auf Willemsen einen fast
herzzerreißenden Eindruck. Ich habe ihren musikalischen Aufstieg in der
von Alfred Biolek moderierten Show "Mensch Meier" miterleben können. Es
handelte sich um ihren ersten Auftritt im deutschsprachigen Fernsehen,
und mit ihrem grandiosen Hit "Nothing compares to you" sollte ein neuer
Stern am Popmusikhimmel erstrahlen. Freilich spielt dieser Song, und die
nachfolgenden Platten eine wichtige Rolle im Interview. In kaum einer
anderen Erzählung kommt die Hauptperson verbal so stark zum Ausdruck wie
in diesem Fall. Sinead O'Connor erweist sich als sehr sensible, tief
fühlende Gesprächspartnerin, die über ihre traumatische Vergangenheit
bereitwillig erzählt. Die fast zerbrechlich wirkende Irin war in ihrer
Kindheit von ihrer Mutter schwer gezüchtigt worden. Dessen ungeachtet
sieht sie in ihrer eigenen Tochter die Mutter als Spiegelbild und
schließt keineswegs aus, dass ihre Mutter in ihrer Tochter inkarniert
sein könnte. Sinead O'Connor war zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt,
als sie während eines Konzerts ein Bild des Papstes zerriss, um hiermit
gegen die Menschen einengenden Strukturen der katholischen Kirche zu
protestieren. Dies war ihr seinerzeit sehr übel genommen worden.
Mehrmals hat sie seitdem angekündigt, ihre Karriere als Musikerin zu
beenden. Es ist ein großartiger Glücksfall, dass sie zuvor mit
"Universal mother" ihr wohl bestes Album gemacht hat, das selbst die
unbeweglichsten menschlichen Kühlschränke zu Tränen rühren müsste.
Im Jahre 2004 hat Sinead O'Connor endgültig einen Schlussstrich unter
ihre musikalische Karriere gezogen. Roger Willemsen hat ihr mit seinem
Bericht ein kleines Denkmal gesetzt, das ihr zweifellos zusteht.
Timothy
Leary besuchte der Autor nur wenige Monate vor dessen Tod. Wie in
den meisten Geschichten erzählt Roger Willemsen vorab einiges aus dem
Leben der von ihm interviewten Persönlichkeiten. Timothy Leary ist wohl
der "schrillste Vogel", der im vorliegenden Buch vertreten ist. Er
studierte Psychologie und ist das Urgestein in punkto Experimente mit
psychedelischen Drogen. Es gab in diesem Zusammenhang kaum eine Droge,
die er selbst nicht ausprobiert hätte. Dies brachte ihm u.a. fünf Jahre
Gefängnis ein. Im Blickpunkt der Begegnung mit Roger Willemsen stand
allerdings der bevorstehende Tod des Schauspielers. Timothy Leary
zelebrierte seine verbleibende Lebenszeit, indem er sich selbst auf
seiner eigenen Website inszenierte, wobei darauf hinzuweisen ist, dass
er bereits im Jahre 1996 starb, als das Internet noch weit vom
mittlerweile auch schon wieder abgemilderten Siegeszug entfernt war.
Timothy Leary erzählte, dass er sich nach seinem Tode einfrieren lassen
wolle, um irgendwann später wieder "aufzuerstehen". Dies erwies sich als
kleine Finte, denn tatsächlich mag nunmehr Timothys Asche immer noch im
All herumschwirren ... Sein Tod wurde im Internet mit einem schwarzen
Balken auf seiner Website angekündigt, mit den bezeichnenden Worten:
"Timothy has passed".
Das Gespräch mit Leary über Tod und Sterben übt einerseits eine
bedrückende Wirkung aus; andererseits ist Leary keineswegs traurig,
sondern sieht sein Sterben als notwendigen letzten Schritt des Lebens
und gibt vor, diesen Prozess zu "genießen". Dies mag ein wenig
übertrieben wirken; zeigt aber eindrücklich, wie feierlich Leary dem
Leben gegenüberstand. Daran konnte auch sein nahender Tod nichts ändern.
Es gäbe noch sehr viel über dieses erstaunliche Buch von Roger Willemsen
zu erzählen. Die Begegnung mit Jane Birkin etwa, mit der heute fast
jeder Mensch nur die akustische Darbietung von "Je t'aime" verbindet,
oder aber die total irre Geschichte, die ihn mit "Dame Edna" verbindet.
Wer also tief in die Welt eines Autors eindringen will, der JEDEM
MENSCHEN mit der gleichen inneren Einstellung und intellektueller
Neugier begegnet, und dabei mit Sicherheit den eher langweiligen
John
Le Carré in den Schatten stellt, dem sei dieses Buch absolut
empfohlen!
(Jürgen Heimlich)
Roger Willemsen: "Gute Tage. Begegnungen
mit Menschen und Orten"
Fischer. 416 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch
bei amazon.de bestellen
Roger Willemsen, geboren am
15. August 1955 in Bonn, gestorben am 7. Februar 2016 in Wentorf bei
Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus
London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs
Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den
"Bayerischen Fernsehpreis" und den "Adolf-Grimme-Preis in Gold", den
"Rinke-" und den "Julius-Campe-Preis", den "Prix Pantheon-Sonderpreis",
den "Deutschen Hörbuchpreis" und die "Ehrengabe der
Heinrich-Heine-Gesellschaft". Willemsen war Honorarprofessor für
Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr
des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen
auf der Bühne.
Über sein umfangreiches Werk gibt Auskunft der Band "Der
leidenschaftliche Zeitgenosse", herausgegeben von Insa Wilke:
Insa Wilke (Hrsg.): "Der leidenschaftliche Zeitgenosse. Zum Werk von
Roger Willemsen"
Roger Willemsen ist einer der vielseitigsten und bekanntesten
Intellektuellen unserer Zeit. Bleibt trotzdem die Frage: Wer ist Roger
Willemsen?
Für die Ernsthaftigkeit seines Tuns und die Freiheit seines Denkens wird
Roger Willemsen geschätzt. In einem eigens für diesen Band geführten
großen Gespräch tritt er für seine Überzeugungen ein und zeigt sich als
sprühender Enthusiast, aber auch als tief melancholischer, bei allem
Talent zum wütenden Furor gütiger Zeitgenosse. Kollegen und Leser,
Weggefährten und Skeptiker setzten sich in diesem Band überdies kritisch
mit seinem Werk auseinander. Ihre Beiträge fügen sich mit zahlreichen
bislang unveröffentlichten Selbstzeugnissen zum Mosaik einer
ungewöhnlichen Existenz und eines einmaligen künstlerischen und
intellektuellen Werks. (S. Fischer)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen