Mariusz Wilk: "Schwarzes Eis. Mein Russland"
"Weiter
als nach Solowki", lautet ein altes Sprichwort, "schickt man uns nicht".
Die Solowjezki-Inseln, die unter den Bolschewiki als
Verbannungsort dienten, erinnern den polnischen Schriftsteller und
Reporter Mariusz Wilk an einen wertvollen Stein, der sich bei jeglicher
Betrachtung immer wieder verändert und in neuen,
vielfältigen Farben schimmert. Diese Sichtweise erstaunt
anfänglich, da dieser
Ort ein Ort der Exzesse war, an dem das SLON-Lagersystem, ein
Vorläufer des Gulag, entwickelt wurde.
Doch Mariusz Wilk muss es besser wissen, lebt er doch dort und
beobachtet diesen außergewöhnlichen Flecken Erde
bereits seit 1993 und startet mit diesem Buch den Versuch, der
Wirklichkeit Gestalt zu verleihen.
Er lebt und arbeitet in einem Haus, wo das Meer eine
Verlängerung seines Tisches darstellt. Im Winter scheint ihm
sein Blatt Papier mit dem Weiß des Eises vor dem Fenster zu
verschmelzen. Fasziniert betrachtet er den Wandel der Jahreszeiten,
sieht Spuren im Schnee vergehen und neue Gebilde durch den Wind
entstehen. Im Sommer beobachtet er stundenlang Flut und Ebbe, verbringt
Tage mit dem Fischen, um große fettige Heringe, Dorsche und
seltsame Fische, die nach frischen Gurken riechen, zu fangen. Eines
Tages werden sie überrascht von einem langgezogenen Ton, der
anschwillt und die Luft zum Schwingen bringt. Schauer jagen
über den Rücken des Erzählers, denn dieser
Ton geht bis ins Mark - es sind Kraniche,
und beruhigt kann auch der Leser wieder aufatmen.
Wilk schildert Alltägliches, erstellt detailgenaue
Porträts und begleitet den Leser auf einer Art Spurensuche -
auf einer Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Verflechtungen
zwischen russischer Geschichte und
postsowjetischer
Gegenwart werden aufgedeckt, die Demokratie wird in ihren
Anfängen beobachtet. Die ersten Wahlen auf Solowki verlaufen
ohne Ausschreitungen und bringen einen neuen Chef, eine neue Duma und
Räte, die in der Nacht - illegal - Wodka verkaufen und nicht
wissen, was eine Verfassung ist. Aber dafür sind sie alle
Solowjezker Kumpel. Befragt nach diesem Wahlausgang, antworten die
Bewohner stoisch "Wir werden leben und sehen".
Auf der Suche nach Wahrheit verdichten sich die Spuren von Solowski,
ohne je zu einem Ende zu gelangen. Immer wieder werden neue Geschichten
eingeflochten und Warnungen ausgesprochen, sich von optischen
Täuschungen nicht verführen zu lassen. Denn auf
Solowki spiegeln Hunderte von Seen die Welt, die sich übers
Wasser neigt. Diesem Trugbild ist auch ein betrunkener Wallfahrer zum
Opfer gefallen, der die Spiegelung des Klosters in der Bucht der
Glückseligkeit hinter dem Heiligen Tor für die
Wirklichkeit hielt.
Auch der Leser lässt sich in den Bann ziehen, einlullen,
schreckt auf in Anbetracht sozialer Utopien, ist verstört vom
SLON-Lagersystem und begreift aufgrund immer neuer Details
religiöse, ideologische und politische Zusammenhänge.
Die Schönheit und Wildheit der Landschaft, die Eigenwilligkeit
der Protagonisten berührt und fasziniert, und bei all dem
bleibt der Leser doch immer ein wenig unsicher, ob es sich
tatsächlich um Wirklichkeit oder einen Traum, eine Spiegelung,
handelt, aber wie bereits eine Paraphrase Tjutschews sagt:
"Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen,
mit unseren Maßen nicht zu messen,
Russland ist von anderer Größe -
Russland muss man erleben."
(Margarete Wais; 11/2003)
Mariusz
Wilk: "Schwarzes Eis. Mein Russland"
Aus dem Polnischen von Martin Pollack.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2003. 300 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2007. 288 Seiten.
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Mariusz Wilk wurde 1955 in Breslau geboren. 1981 Pressesprecher der "Solidarnosc" in Danzig, inhaftiert von Dezember 1981 bis 1983 und von 1984 bis 1986. Nach 1989 zuerst Korrespondent in Berlin und später in Moskau. Er lebt seit 1993 auf den Solowjezki-Inseln und veröffentlichte regelmäßig in der Zeitschrift "Kultura".
Ein
weiteres Buch des Autors:
"Das Haus am Onegasee"
2003 kaufte Mariusz Wilk im Dorf Konda Bereschnaja am Onegasee im
Norden von
Russland ein riesiges, hundert Jahre altes Holzhaus. Als er es bezog,
war es
eine Ruine ohne Strom, die 37 Fenster und Türen waren mit
Brettern vernagelt,
die sechs großen gemauerten Öfen zerstört,
der Wind pfiff vom Parterre bis
hinauf in die Mansarde. Um das Überleben in dieser fast
menschenleeren Gegend
zu sichern, musste er selbst Hand anlegen. Anschaulich und
kenntnisreich gelingt
es Mariusz Wilk in dieser Reportage, aus einem unwirtlichen Winkel der
Welt
seinen Blick auf das große Ganze Russlands zu werfen. Er
erzählt von den
"Skomorochy", wilden russischen Minnesängern, die einst den
orthodoxen Klerus verhöhnten, vom unerbittlichen Winter und
dem Einsetzen des
Sommers, der hier nur einen Monat dauert und die Natur gleichsam
explodieren lässt.
(Zsolnay)
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Leseprobe:
I
Wer Russland aus Büchern studiert, der begreift es
überhaupt nicht,
denn es birgt Eigentümlichkeiten, zu deren Erforschung ich in
die
Provinz fahren würde & wenn ich nur die Sprache
beherrschte.
Joseph de Maistre
1.
Der Leser wird fragen, warum ich die Solowjezki-Inseln gewählt
habe? Was dafür ausschlaggebend war, dass ich mich auf den
Inseln wie auf einem Beobachtungsturm niederließ, um von dort
nach
Russland, in die Welt zu schauen? Ich will versuchen, darauf
eine Antwort zu geben, obwohl es nicht leicht ist, die Sache in einigen
Abschnitten erschöpfend zu behandeln, man kann
höchstens einen Abriss erstellen, wie man früher
geschrieben hätte. Die Solowjezki-Inseln erinnern an einen
wertvollen Stein: Wie lang du ihn auch betrachtest, er
verändert sich ständig, bricht das Licht,
lässt seinen Schliff spielen. Es genügt, ein wenig an
der Fabel zu drehen, die Akzente zu ändern, die
Gedankengänge neu zu ordnen, und gleich nimmt das Ganze eine
neue Bedeutung an - schimmert in anderen Farben. Es ist
unmöglich, die einzelnen Beweggründe
herauszuschälen, die Fäden aus der Kette zu ziehen,
einen jeden für sich, um sie zu analysieren und im Mund hin
und her zu wenden, weil man sie nur gemeinsam, einen in Verbindung mit
dem anderen betrachten kann. Mit einem Wort, man muss die linearen
Gesetze der Sprache verlassen und die Dinge aus einer gewissen
Entfernung ansehen. Um dann die Position zu wechseln, Schritt um
Schritt, und den Blickwinkel zu ändern.
[ ... ]
4.
Auf Solowki sieht man Russland, wie man das Meer in einem Wassertropfen
sieht. Denn die Solowjezki-Inseln sind Essenz und zugleich Antizipation
Russlands; sie bilden seit Jahrhunderten einen Mittelpunkt der
Rechtgläubigkeit und ein machtvolles Zentrum der russischen
Staatlichkeit im Norden. Hier, im Kloster von Solowki, in seinen Zellen
und Kasematten, wurde durch Jahrhunderte die Historie Russlands
geschrieben: auf dem Pergament von Chroniken und den Seiten der
Geschichte, hier wurden das Antlitz des Landes verändert und
der Wille Andersdenkender gebrochen, hier wurden Pflanzen an die
klimatischen Bedingungen der Polarzone gewöhnt und Menschen an
die Fronarbeit als Häftling. Hier wurden technische Neuerungen
ausprobiert und neue soziale Utopien ins Leben gerufen, hier wurden das
erste Wasserkraftwerk Russlands errichtet und eine monumentale Wand aus
Steinen, dicker als die Mauern des Moskauer Kremls. Es ist kein Zufall,
dass Wassili Kljutschewski als Kandidat der Wissenschaften seine
Dissertation über "Die Heiligenleben als historische Quellen"
verteidigt hatte, in der er auf die Bedeutung des Klosterlebens von
Solowki für die Kolonisierung Nordostrusslands hinwies, bevor
er sein grundlegendes Werk, "Die Geschichte Russlands", in Angriff
nahm, die auf dem Motiv der Kolonisierung als wichtigster Antriebskraft
der russischen Geschichte aufbaut.
Hier, in der Einsiedelei von Anser, gelangte der Raskol, das Schisma,
der russisch-orthodoxen
Kirche zum Durchbruch, das heißt, hier nahm eine
Entwicklung ihren Anfang, von der Solschenizyn schreibt, sie sei
für Russland folgenschwerer gewesen als die bolschewistische
Revolution. Bis heute pilgern die Altgläubigen nach Solowki
wie die Moslems nach Mekka. Und schließlich befand sich hier,
in den Verliesen des Klosters, auch das älteste politische
Gefängnis Russlands, und später, nach der Revolution,
entstand hier der SLON, was für Solowjezkij Lager Osobogo
Nasnatschenija (Solowjezker Lager zur Besonderen Verwendung) steht, das
erste Straflager der Sowjetunion - ein Versuchsgelände
für den GULAG. Noch heute stellen die Inseln ein
Gefängnis dar, weil die Wirtschaftsreformen der letzten Jahre
zur Folge hatten, dass die Menschen nicht einmal mehr genug verdienen,
um sich eine Fahrkarte zu kaufen, damit sie von hier wegkönnen.