Vivian Jeanette Kaplan: "Von Wien nach Shanghai"
Die Flucht einer jüdischen Familie
Unzählige
Berichte und Romane, Lebens- und Schicksalsbeschreibungen habe ich seit
etwa meinem 15. Lebensjahr gelesen von Menschen, die als Juden der
Shoah entkommen sind, entweder durch rechtzeitige und
glückliche Flucht oder Emigration, oder weil sie zu den
Wenigen gehörten, die als Erwachsene oder Kinder die
Vernichtungslager überlebten. Primo Levis exakte
Beschreibungen der Lager, auch Jean Amérys düstere
Analysen der Lebensperspektiven von Überlebenden
gehörten genauso dazu wie in letzter Zeit
Aharon
Appelfelds Bücher oder das beeindruckende Zeugnis
Michel Friedmans für seinen kleinen Sohn "Kaddisch im
Morgengrauen".
Die Menschen, die diese schlimmsten Gräuel, die die Menschheit
je gesehen hat, überlebten, haben sich und ihren Nachkommen
oft ein jahrzehntelanges Schweigegebot auferlegt, um zu
überleben. Zu schmerzhaft wäre die Wiederholung des
Erlebten und Erlittenen in der Erinnerung gewesen. Und dennoch:
Irgendwann drängt es an die Oberfläche, muss
ausgesprochen, beschrieben, verarbeitet werden. Bei Michel Friedman war
es die Geburt seines Sohnes, bei Anderen sind es andere
Anlässe oder die jahrzehntelangen Qualen, die innen rumoren,
die schlussendlich zur Beschreibung führen, oft gegen den
Widerstand der Eltern, wie z.B. bei Gila Lustigers "So sind wir".
Umso dankbarer muss man für ein Buch sein, das Vivian Jeanette
Kaplan geschrieben hat, weil ihr Vater und ihre Mutter ihr Schweigen
gebrochen und ihr die ganze Familienverfolgungsgeschichte
erzählt haben. Vivian Kaplan lässt ihre Mutter Nini
Karpel erzählen, und ihr ist damit eines der eindrucksvollsten
Bücher gelungen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Die große und weitverzweigte Familie Karpel lebt in Wien. Die
Karpels sind überzeugte Österreicher und beobachten
mit wachsender Furcht die Entwicklung in Deutschland, aber auch das
massenhafte Übergreifen des antisemitischen und faschistischen
Furors in Österreich. Als am 12. März 1938 Hitlers
Truppen in Österreich einmarschieren, stehen die Karpels wie
alle Wiener Juden unter Schock:
"Die meisten Österreicher sind hocherfreut über die
neuen Verhältnisse und tragen ihren patriotischen Enthusiasmus
auf die Straße, wo sie umgehend ihren jüdischen
Mitbürgern lautstark übelste Machenschaften
andichten, sie mit wüsten Schimpfnamen belegen und sich unter
Gejohle einem zügellosen Vandalismus überlassen. Die
Folgen für den jüdischen Bevölkerungsanteil
sind entsetzlich. Jeglicher Anschein von Toleranz und
zwischenmenschlichem Respekt wird aufgegeben.
Unsere Welt bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Von Tag zu Tag
schreitet der ruinöse Abbau unserer Freiheit fort, sehen wir
unser Leben Gefahren ausgesetzt. In der ersten Woche nach dem
"Anschluss" werden Juden aus ihren Stellungen bei Theatern,
Volksbildungseinrichtungen und öffentlichen Bibliotheken
entfernt. Am 15. März wird die Entlassung sämtlicher
jüdischer Verwaltungsbeamter bekannt gegeben, zwei Tage danach
die der jüdischen Richter. Rechtsanwälten wird es zur
Auflage gemacht, beim Auftreten vor Gericht eine Hakenkreuzbinde zu
tragen, Klagen gegen Juden kommen nicht mehr zur Verhandlung, sondern
werden durch sofortige Verurteilung erledigt. Kurz darauf werden die
jüdischen Bediensteten der Universitäten und
Oberschulen entlassen, es folgt die Verbannung aus Schule,
Großmärkten und Schlachthöfen. Das
Schächten von Schlachtvieh wird untersagt. Jüdische
Rechtsanwälte erhalten Berufsverbot. Jedes einzelne dieser
Gesetze ist ein verheerender Schlag gegen die jüdische
Bevölkerung. Alte, gebrechliche Menschen werden gezwungen, den
Bürgersteig mit Zahnbürsten zu schrubben.
Köpfe werden kahl geschoren. Und wo wir gehen und stehen,
ballen sich Menschentrauben zusammen, aus denen wir verhöhnt
und verspottet werden. Wir können es nicht fassen. Wie ist es
dazu gekommen?"
Noch setzen sie alle Hoffnung auf die Alliierten, doch als sie nach dem
15. Juli 1938 von den Ergebnissen der Konferenz von Evian
hören, bricht Panik aus unter den Wiener Juden. Kein einziges
Land hat sich bereiterklärt, die
Einwanderungsbeschränkungen für Juden zu lockern,
wohl wissend, was Hitler mit diesem Volk vorhat. Das Todesurteil
für Hunderttausende von Menschen.
"Die Deutschen verstehen das Konferenzergebnis als Freibrief
für die Fortsetzung der Verfolgung. Die Zahl der gewaltsamen
Verschleppungen steigt, und blutige Prügelszenen
gehören zum Bild des Alltags. Alle ausländischen
Konsulate in der Stadt sind einem wilden Ansturm ausgesetzt. Selbst die
treuesten Patrioten unter den österreichischen Juden, die
bisher geduldig auf die Wiederkehr besserer Zeiten gewartet haben,
kommen schließlich doch noch zu der Überzeugung,
dass die Flucht dringend geboten ist."
Dieses
Wien ist nicht mehr die Stadt, die Nini Karpel kannte und
liebte:
"Eine hässliche Verwahrlosung hat sich in der Stadt breit
gemacht. Mein schönes Wien liegt, seiner Prachtgewandung
entkleidet, mit aufgeschlitztem Bauch nackt vor mir wie ein in der
Sonne verwesender, stinkender, von Maden zerfressener Kadaver."
Die Auswanderung
nach Shanghai ist die einzige Rettung. Als sie bei der
"Zentralstelle für jüdische Auswanderung" in Wien um
ihre Papiere vorstellig werden, begegnen sie einem der
größten Verbrecher des Naziregimes:
"'Shanghai', sagt der Mann, der zur Linken von Adolf Eichmann sitzt,
und lacht verächtlich in sich hinein. "Ein prima Platz, um
euch Juden zum Sterben zu hinzuschicken. Dort geht ihr alle ganz
langsam ein. Besser ihr verseucht die Atmosphäre in diesem
Stinkloch bei den gelben Bastarden, als hier.'"
Doch ihre Ausreise gelingt. In Shanghai begegnen sie erneuter
Missachtung und Gewalt. Die christlichen Nonnen in dem Kloster, in dem
sie für ihre Unterkunft und Verpflegung arbeiten, unterlassen
nichts in dem scheinheiligen Versuch, die ganze Familie zur Konversion
zum
Christentum zu bringen. Und die Militärgewalt der
Japaner,
die in ihrer Menschenverachtung und Brutalität
gegenüber den Chinesen und den Flüchtlingen den Nazis
nicht viel nachstehen, flößt allen von Anfang an
große Furcht ein.
Aber sie schlagen sich durch, begründen neue Existenzen, doch
1942 macht folgendes Gerücht die Runde unter den
Shanghaijuden, deren Zahl in die Hunderte geht und die unter dieser
Situation zu einer echten Gemeinschaft zusammengewachsen sind:
"Hitler hat einen berüchtigten Mann, den
SS-Standartenführer Josef Meisinger, hierher nach Shanghai
entsandt. Er soll einer von Hitlers grausamsten Schergen sein und ist
unter der Bezeichnung 'Schlächter von Warschau' bekannt. Es
heißt, dass er Jagd auf die Juden macht, die entkommen sind."
Die Familie hält durch und findet ihren Halt im alten Glauben:
"Was in Europa geschieht, bleibt stets Teil unserer Lebensgeschichte.
Auch fern von dem Kontinent unserer Geburt sind wir nicht aus der
Schicksalsverbundenheit mit unserem Volk entlassen. Uns hält
der Glaube zusammen, der unser gemeinsames Erbe und zugleich der Grund
ist, weswegen wir unablässig verfolgt werden. Auch unter
Drangsalen bleiben die Menschen unseres Volkes durch die tief
verwurzelte Achtung vor den jüdischen Lebensformen
zusammengeschweißt. Das Band zwischen uns ist die
Wesensgleichheit, ein Band, das ich erstmals erahnte, als ich als Kind
in der Synagoge stand und die ins Gebet vertieften Menschen um mich
herum betrachtete."
Die Befreiung von der zuletzt schrecklichen Herrschaft der Japaner
Mitte August 1945 wird gefeiert, und Nini und ihr Mann Poldi Kosiner
bauen sich erneut eine Existenz auf, dieses Mal als
Pelzhändler. Doch schon 1948 rollt eine neue Gewaltwelle auf
sie zu: Die Soldaten von Maos Roter Armee reißen alles nieder
und zwingen die Familie zu einer letzten großen Odyssee -
nach Kanada:
"Wir haben unsere Vertreibung überlebt, sind um mehr als den
halben Erdkreis gereist und nun hier angekommen, an einem Ort, wo wir
in Frieden einen neuen Anfang wagen können."
Ein beeindruckendes, lehrreiches und tief bewegendes Buch.
(Winfried Stanzick; 06/2006)
Vivian
Jeanette Kaplan: "Von Wien nach Shanghai"
Übersetzt von Sibylle Hunzinger und Kurt Neff
dtv, 2006. 300 Seiten.
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