Katharina Geiser: "Vorübergehend Wien"
Katharina Geisers Bucherstling ist ein
absolutes Leserlebnis. Die 1956 geborene Autorin, bisher in der Schweiz am
Zürichsee hauptsächlich journalistisch tätig, legt ein Buch vor, das man eher
von einer erfahrenen Schriftstellerin erwartet hätte. Ihre Sprache nimmt sofort
gefangen. Man erlebt mit allen Sinnen mit, was die Menschen, die sie beschreibt,
erleben, und man gerät hinein in die Welt des Wiens der ersten Jahrzehnte des
20. Jahrhunderts. Ihre Hauptfigur ist die Schweizerin Jula Fink, die in Wien
ihrer eigenen Familiengeschichte nachforscht und dabei vielen bekannten und
weniger bekannten Menschen begegnet, die sie zu neuem Leben erweckt und sie so
dem Vergessen entreißt.
Obwohl viele Zeichen darauf hindeuten, dass Jula Fink
das Alter Ego von Katharina Geiser ist, wird es an keiner Stelle des Buches oder
etwa des Klappentextes deutlich erwähnt.
Jula Fink denkt
einer Stadt nach. Wien. Immer wieder fährt sie, den Spuren ihrer eigenen
Vorfahren folgend, von Zürich mit dem Zug
nach Wien,
sucht die Plätze und Häuser auf, wo sie lebten und sich aufhielten. Immer wieder
zieht es sie regelrecht zu jenem heute verschwundenen Wiener Aspang-Bahnhof, von
dem die Judentransporte in die Vernichtungslager abgingen. Sie spürt und fühlt
den Geschichten und Tragödien nach, und sie tut es mit einer Sprache, die so
ungewöhnlich dicht und poetisch ist, dass man immer weiter lesen muss und doch
am liebsten den letzten Satz noch einmal und noch einmal repetieren
möchte.
Und sie geht immer wieder ins Jüdische Museum, wo sie bei ihren
wohl jahrelang andauernden Recherchen in einem gläsernen Schaukasten auf eine
Schachtel gestoßen ist, voll mit Erinnerungsstücken. Gepackt wurde diese
Schachtel 1942 vom jüdischen Ehepaar Franz und Anni Bial für ihre kleine Tochter
Lilli, die sie kurz vor der eigenen Deportation nach England ins rettende Exil
schicken konnten. Lange in diversen Lagerhäusern verschollen, taucht die
Schachtel mit Briefen, Spielsachen, Notizen, Fotos und anderen
Erinnerungsstücken erst spät wieder auf und kommt ins Jüdische Museum, wo sie
unter Glas einen besonderen Platz erhält.
Jula Fink bekommt die
Erlaubnis, den Inhalt dieser Schachtel zu sichten und rekonstruiert aus ihrem
Inhalt eine Lebens,- Leidens- und Hoffnungsgeschichte. Sie verwebt die
Geschichte der Bials mit jener der Finks und mit der zahlreicher berühmter und
weniger berühmter Zeitgenossen, wie z.B. Karl Kraus, dessen Lebensgeschichte das
ganze Buch mit durchzieht.
Auch wenn diese Vermischung manchmal
verwirrend erscheint, ist der rote Faden deutlich erkennbar. Jula Fink
(Katharina Geiser) will die Bruchstücke zusammenfügen, die von all den
Verschwundenen und Vernichteten übrig geblieben sind.
Und es gelingt ihr,
ein Bild zu malen, wie gesagt, nicht in einem Guss, sondern in einer ganz
eigenen "Bruchstücktechnik". Ein Bild, das eine Stadt wiederauferstehen lässt,
eine Kultur, die nach dem "Anschluss an das Reich", der Vernichtung der Juden
und einer ganzen intellektuellen Schicht, wohl für immer verschwunden
ist.
Jula Fink ruht nicht, bis sie Lilli Bial als alte Frau und England
aufgespürt und ihr den Inhalt der Schachtel gezeigt hat
...
"Vorübergehend Wien" ist ein Leserlebnis, das einen lange nicht
loslässt. So, wie es die Autorin sicher beabsichtigt hat, werden die getöteten
oder längst verstorbenen Menschen lebendig, und das gesamte politische und
kulturelle Panorama einer verlorenen Zeit ersteht wieder.
Auf das zweite
Buch dieser sprachgewaltigen Autorin darf man gespannt sein.
(Winfried Stanzick; 04/2006)
Katharina Geiser: "Vorübergehend
Wien"
Zsolnay, 2006. 304 Seiten.
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Katharina Geiser wurde 1956 geboren und studierte in Zürich Germanistik.
Leseprobe:
Die
Vorstellung genügt nicht
Deshalb. Erstens, zweitens, drittens. Es
gibt immer viele Motive. Hin und damals. Nicht daß ich die Uhrzeiger
zurückdrehen wollte, aber es ist mir danach, mit eigenen Fingern zu zeigen. Für
Wien benutze ich Schriften und Erzähltes wie einen Handlauf. Ich halte mich
daran, wechsle die Ebenen, gehe tiefer nach innen, scheue nicht zurück.
Leibhaftig will ich selber sehen und schmecken, als gelte es zu prüfen, nein,
als müßte ich mich etwas versichern, was sich nicht einfach in Luft aufgelöst
haben kann. Es reicht nicht, was in starren Buchstaben auf brüchig gewordenem
oder langsam sich verfärbendem Papier steht: aufgebrühter Kaffee oder Tee aus
blaugrüner Tasse, Schweiß, gekochter Kohl, Kiefernharz, aufgeschnittene Äpfel
und Wasserfallgesprüh, Leinöl, lange nicht gewaschenes Haar, hundertfach von
Kinderhänden verwendete Spielkarten, lehmige Erde, frisches Brot, Bienenwachs,
Kohlestaub, Fischkleister, Maiglöckchen. Wenn nicht Schlüsselblumen oder
Pfingstrosen.
"Kannst Du mir sagen, wie ich es anstellen könnte, Dir
täglich Blumen zu schicken? Oder genügt Dir die Vorstellung?" hat
Karl Kraus
Sidonie Nádherný gefragt. Sind Antworten zu finden, oder verstellen die Fragen
mögliche Erwiderungen? Ich möchte Tüpfel von Glück und Unglück der
Wiederholbarkeit und mithin der Ernüchterung oder einfach der inneren Bewegung
aussetzen. Weil ich Endgültiges schlecht ertrage.
"Vielleicht werden wir
aber alles liebevoller anschauen, da das mit dem Verlieren so schnell geht!"
Friedl Dicker muß recht behalten. Ein Augenwischen und außer Sicht; nur das
nicht. Ich brauche von niemandem die Erlaubnis, unter stürzendem Brausen zu
stehen, dort, wo andere sich auch hingestellt haben. Ich darf meine Nase in
einen bestimmten Korb voller zugrundegegangener, mit nassem Zeitungspapier
belegter Trauben stecken, mich von einer fünfstelligen Nummer auf einem linken
Arm erschüttern lassen, zur Beruhigung Hovaletten schlucken, auf
Randsteinmustern in meinem eigenen Tempo Strecken begehen, mitten auf einer
Kreuzung innehalten und schreien und mir daraufhin von Fahrzeuglenkern und
Mitfahrern eine ganze Schar Vögel zeigen lassen, und ich spinne nicht, nur weil
ich Tatorte der Leidenschaft oder der Angst oder einer belanglosen Begebenheit
finden will, umkreisen wo immer möglich diesen oder jenen Boden. Ich bin so
wählerisch, wie ich es nur sein kann. Alles in allem bieten sich für die
wiederholten Fahrten nach Wien plausible Erklärungen an, drei an der Zahl.
Wenngleich sie nur die halbe Wahrheit sind.
Zum einen ist an einem
äußeren, schräg über mir sperrig gewachsenen Ast meines Stammbaums ein
Menschenname festgemacht, der zu einem Großonkel gehört. Dem Schneider Julius
Fink war Wien die zweite Heimat. Es hatte ihn in jungen Jahren auf Wanderschaft
gezogen, an ein Auskommen im kleinen Tal war nicht mehr zu denken. Monatelang
war er als Geselle unterwegs gewesen, bis er in Wien zu bleiben beschloß, eine
Unterkunft fand und auf eigene Rechnung zu arbeiten begann. Gleichzeitig nahm
sich das Glück seiner an. Das Nähmaschinengesurr machte seine Wortkargheit wett.
Vielleicht störte ihn sein holpriges Deutsch, sprachgewandt war er nicht. Obwohl
er zu jener Zeit unter den vielen nach Wien zugereisten und seßhaft gewordenen
Leuten sicher nicht auffiel. Das Talent lag ihm, der aus einem Ort im
schweizerischen Glarnerland stammte, in den feingliedrigen Händen. Dieser
spürsinnige Mann hatte ausgeprägte hohe Backenknochen, als schmerzlich wurden
sie beschrieben; er konnte zuhören, habe ich mir sagen lassen, und vernahm das
Leiseste deutlich, manchmal bevor es ausgesprochen wurde. Julius Fink gab auf
das Brodeln im Untergrund acht. Das war dann schon in den Dreißigern, wo die
Attacken und Anschläge der noch verbotenen Nazis ihn erschreckten und die mit
Haß durchwirkten Sätze mehr als sein Trommelfell touchierten. Schließlich, als
gründunkle Höfe um die schwarzen Augen seiner Frau Else wuchsen, als diese Augen
so viel langsamer als üblich wanderten und ihr breiter Mund das gewohnte,
geliebte Lachen nur noch selten fand, da wurde die Ausreise beschlossen, also
die Rückfahrt in die erste Heimat. Julius Finks Familie erreichte die Schweiz im
Januar 1938, zwei Monate vor dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich, jener
Wende, die in so kurzer Zeit mit Gottes Hilfe herbeigeführt
wurde.
Überdies gab und gibt es Leas Berichte. Es waren Winke,
Fingerschnipse, Startzeichen. Eines Tages sagte sie nämlich, ihre Mutter Anny
sei vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren drei Schwestern und der Mutter von
Budapest nach Wien gekommen, weil der zuckerkranke Vater zu früh an
Lungenentzündung gestorben war und weil es glücklicherweise nähere Verwandte in
der Metropole gegeben habe. Die hatten mit Parfum und Seife gehandelt und waren
demnach in der Lage gewesen, den fünf Frauen über die ärgsten finanziellen Nöte
hinwegzuhelfen. Anny machte erst eine Buchhändlerlehre, was ihrer schwächlichen
Gesundheit gar nicht bekam, jenes ewige Bücherschleppen. Danach wurde sie
Schülerin an der privaten Kunstschule von Johannes Itten. Bald lotste der
Meister sie und andere Bevorzugte, Kunstfühlige von Wien weg ins Bauhaus nach
Weimar. Anny bildete sich in der Buchbinderwerkstatt aus. Schloß Freundschaften,
die ein Leben lang hielten. Sie gestaltete eigenwillige Bucheinbände,
experimentierte mit Hölzern, Pflanzenfasern, Folien oder Gips, ließ sich von den
Texten inspirieren, von
afrikanischen Märchen ebenso wie von
alchimistischen
Geschichten oder Hölderlins Versen. Eingearbeitete Muscheln und Samenkapseln
waren mehr als bloßer Schmuck. Aber Weimar hielt Anny auf die Dauer nicht, eine
leitende Stelle wurde ihr versagt, sie kehrte nach Wien zurück. Hier unterhielt
sie später mit Friedl Dicker, welche aus Berlin zurückgekommen war, erneut ein
Atelier.
"Friedl Dicker?" fragte ich.
"Ja. Behalte diesen
Namen."
Damit begann es also auch, daß Lea wie nebenbei bemerkte, mit wem
ihre Eltern freundschaftlich und schicksalhaft verknüpft waren, und daß sie
Episoden aus ihrer eigenen Wiener Kinderzeit beschrieb. Lea stieß kleine Fenster
auf und machte sie nicht wieder dicht, damit wir gemeinsam hinausspähen konnten
und können. Sie zeigt mir Briefe, Abschriften, Fotos, sie hütet sogar Filme ohne
Ton aus tiefer Zeit. Wenn wir zusammensitzen und ich mit einem wunderalten
Silberlöffel im Rauchtee kreise, erinnert sie sich wie nebenbei an
Begebenheiten, gibt aber zu bedenken, daß sie bloß ein Kind und ihre Sicht auf
die Ereignisse also eingeschränkt gewesen sei in den dreißiger Jahren und
deshalb wenig zu erwarten sein könne von dieser Perspektive. Ihr Erzählen kommt
zu keinem Ende, höchstens zu kleinen Ruhepunkten oder
Zwischenfragen.
"Aber was machst du jetzt mit dem Brief zum
Beispiel?"
Lea weist auf Ereignisse hin, nennt Verbindungen, beschreibt
Leute. Dabei werden jene weit von mir entfernten Jahrzehnte gefügiger. Etwas
harrt in einem meiner Seelenwinkel wie eine unersättlich sich regende Made, eine
Raupe vielmehr, die Beachtung will, sobald Lea erzählt: Auf der Kunsteisbahn
Engelmann gab es kleine, auf Holzspieße gesteckte kandierte Früchte zum
Knabbern. Im Prater wirkten nicht bloß Clowns und Jongleure zur allgemeinen
Erheiterung, sondern es war auch der Ort der miesen Finken und zwielichtigen
Gestalten. Lange stand dort eine Liliput-Stadt, ein aus Miniaturhäusern
hingeworfenes Städtchen, wo Kleinwüchsige richtig wohnten. Ein Foto zeigt Lea
als Mädchen samt ihrem Vater und einen solchen, zum Anschauen gedachten
Menschen, der als erwachsener Mann so klein und groß war wie sie selbst. Das
Mädchen hat dichtes, kurzgeschnittenes Haar um sein wachsames Mondantlitz.
Fahrten mit der
Geisterbahn Zum roten Adler und mit dem Riesenrad setzten Pochen
in die Brust. Im Winter freute sich das Kind, wenn es mit dem Gärtner oder
umgekehrt der Gärtner mit Lea auf dem Schlitten die Ludwiggasse hinuntersauste,
sobald Schnee lag. Am liebsten war ihr die vereiste Straße, ja, mit dem Gärtner
sei das immer gewesen, erzählt mir Lea, kaum mit Käthe, der herzensguten
Kinderfrau, obwohl in deren Obhut ebenfalls Schabernack und Mutiges erlaubt
waren. Einmal die Woche, über Mittag, suchte das Kind mit seiner Großmutter
väterlicherseits die Konditorei Sluka auf, machte sich über Krautroulade und
Indianer her, bevor es in die Klavierstunde ging. Zu einer Frau, die es bereits
das Stricken gelehrt, also nach Meinung der Eltern auch Begabung hatte, Tasten
und Noten zu erklären. Diese Stunden waren ihm jedoch höchst zuwider, nicht das
Klavierspiel, nicht die Lehrerin, sondern weil das am Donaukanal gelegene Haus
furchterregend war und die Einbildungskraft reizte, kaum daß man eintrat und die
Tür hinter einem ins Schloß sprang. Lea erinnert sich auch an die Beklemmung,
sobald sie von ihrer Mutter mit dem Wagen vom Chajes-Gymnasium in der
Staudingergasse abgeholt wurde. Zwar war der Weg mit der Straßenbahn vom 20. in
den 18. Bezirk weit, doch schämte die junge Gymnasiastin sich sehr, ein eigenes
Auto zu besteigen in einer Gegend, in welcher es von armen Menschen wimmelte.
Auffällig viele polnische Juden, erbärmlich anzusehen, streunten, lebten;
bedrohlich war ein Gefühl. Neben dem Unverstellten das Verborgene. Dazu gehörten
auch die von Anny in Kuchen eingebackenen Nachrichtenzettelchen, die der
kommunistischen Tante Emmy ins Gefängnis Rossauer Lände gebracht wurden. Dann
aber, im hellen Sommer abseits Wiens, spielte Lea Ober- und Untersklavin mit
Friedl Dicker.
"Was für ein Spiel?"
In einer noch heilen
Kinderwelt gab es ein Spiel des verbündeten Gebietens und Befolgens, und zwar
wurde während der Ferien 1935 in Böhmen gemeinsam erfinderisch gekocht. Da stand
in Bachnähe auf unendlicher Wiese, blühend müsse ich sie mir vorstellen, ein
Gartenschuppen, eine Bouda, wie es auf tschechisch heißt. In Shorts, Schürze und
Kopftuch und unter Anleitung eben von Annys schwesterlicher Freundin, der
Künstlerin, der Obersklavin Friedl Dicker, wurden in jener Bouda, vermutlich auf
einem Spirituskocher, richtige Mehlspeisen zubereitet, sagt Lea. Zum
anschließenden Essen luden sie alle übrigen Erwachsenen feierlich ein. Diese
revanchierten sich, indem sie die Kinder auf die Wanderungen ins Riesengebirge
mitnahmen.
Sahen das Kind Lea und die talentierte Pädagogin Friedl sich
nicht, dann schrieben sie einander, schrieben sich noch und wieder und so lange
es ging. Durchaus keine Geschwätzigkeiten wurden ausgetauscht, sondern Welten
gegeneinandergehalten und gedeutet. Friedl Dickers Sätze waren Stützen, breit
und lang hingebaut, ohne Satzzeichen meist, fließend, ja, das schnelle Denken
lag ihr.
In Theresienstadt zuletzt hat Friedl am Ende ihres Lebens
jüdische Mädchen und Jungen zeichnen und malen gelehrt. Sie machte es den ihrer
Familie entrissenen, seelenverwundeten Kindern oder Waisen möglich, Bedrohung
und Erfahrung auszudrücken in dem gräßlichen Lager da. Lea zeigt mir Abbildungen
der Kinderzeichnungen. Dann holt sie eine Mappe mit Friedls Bildern: Grafik und
Malerei. Blatt für Blatt legt sie mir behutsam Originale vor. Wohin mit meinem
Atem.
Theresienstadt und jene böhmische Idylle mit dem Schuppen liegen
von Wien aus in nahezu gleicher Richtung.
"Mit Wien aber hat das nichts
zu tun", meint Lea ziemlich bestimmt.
Lassen sich Grenzen ziehen? Wo und
weswegen? Zumal ich schon seit irgendwann in Fernes eindringe in überdeutlichen,
sich wiederholenden Träumen. Da ich weder von Julius' Wanderschaft gewußt noch
Lea näher gekannt habe.
Dies als drittes: Ich weiß nicht, in welchem Haus
in Wien sich der Dachboden befindet, der mit Tischen Stühlen Schränken sowie
weißen gehäkelten Deckchen zum hübschen Wohnen reicht. Der Traum zeigt mir einen
nicht zu düsteren Raum mit abgeschrägter Decke. Er ist voller Menschen, nicht
alten, nicht jungen Frauen und Männern, die unauffällige Kleider und
knöchellange Röcke tragen. Wie in alten Zeiten. Sie sitzen in Gruppen um die
Tische oder bewegen sich ohne Beginn und Ende. Ein paar Leute drehen, wenn sie
den abgedunkelten Dachboden queren, einen Postkartenständer, bringen ihn in
Schwung, als wäre er eine tibetische Gebetsmühle. Jemand zeigt mir in der
obersten Schublade einer Kommode ein Steckalbum mit altertümlichen
Schwarzweißporträts. Gustav Broser, Fotogr. Artist. Anstalt, Wien III; L.
ANGERER, k.k. Hof Photograph in WIEN, Johannesgasse; Foto-Atelier Leopold
Kiechel, Tel. 39-3-12, lese ich auf den Rückseiten. Heimlich nehme ich das
zerfledderte Album an mich, weil es mir einfällt, es zum Buchbinder zu bringen.
Was ich damit wolle, höre ich eine Frauenstimme. Ich spüre, daß die Leute hier
das Album brauchen, daß es Bestandteil dieser eigenartigen Gemeinschaft ist. Im
selben Moment fragt eine Person über meinen Kopf hinweg jemand
anderen:
"Wann seid ihr eigentlich gestorben?"
Deshalb auch fahre
ich immer wieder. Um den Dachboden ausfindig zu machen und um etwas zu
betrachten, ohne es zu entwenden.
Ich verzögere die Aufbrüche und sehne
sie herbei. Lege ich das Nötige bereit, geraten Weiches und Sperriges
ineinander: eine Übersichtskarte mit den Bezirkseinteilungen und U-Bahnlinien
Wiens, Kopien von handgeschriebenem Fremdem, Gedichtbände, Fotos. Der Luftsprung
von Hilde Holger, als sie vor einer Meereskulisse ein Prélude von Bach tanzt.
Karl Kraus mit Stirnfransen. Die von Trude Fleischmann porträtierte Ida Roland.
Eine mir unbekannte Mutter mit Tochter mit Gebetbuch vor einer gemalten
Birkenlandschaft. Selbstverständlich die Mappe schlenkernde Lea als frische
Gymnasiastin vor Weinbergers Linoleum/ Teppiche/Vorhänge-Geschäft in einem Haus
Nummer 15. Außerdem gehören Adressen, Schwimmanzug, Fausthandschuhe, Notizen,
Zitronenöl, Unterwäsche, Honigseife und Effortil dazu. Ich kann die Reise
wirklich schon sehen. Nicht zu vergessen ein riesiges Wolltuch, mit welchem ich
mir eine Puppenhülle wickle, wenn ich auf Schlaf warte und damit ich die Wärme
eines Bettgefährten nicht missen muß.
Ob ich mit dem
Nachtzug
fahre oder bei Tag, vorher kaue ich kandierten Ingwer, als gelte es, über die
See zu fahren. Meistens streiche ich mir Brote für unterwegs. Die Butter wird
schnell weich vom Schmieren, vom Lichtkegel, unter dem ich gelegentlich auch das
Messer wetze. Auf der Verpackung steht: aus kontrollierter biologischer
Landwirtschaft, zu verbrauchen bis. Ablaufdaten mißfallen mir.
Am 3.
reise ich ab, am 27. oder am 11. oder irgendwann und nochmals. Und am selben Tag
oder am nächsten treffe ich ein.
In dieser Stadt kümmert es niemanden, ob ich
ankomme. (...)