Urs Widmer: "Ein Leben als Zwerg"


Sehr persönliche Enthüllungen eines Zwerges

Kaum zu glauben, dass der zeitbenagte Gummizwerg, der uns vom Titelbild in einem Zustand erbarmenswürdig angeknabberter Verstümmelung entgegen sieht, Autor dieser Zwergengeschichte sein soll. Aber will man Urs Widmers Bekenntnis auf dem Rückseitentext seines Buches Glauben schenken, dann muss es wohl so sein. Diesmal waren also Zwerge die dienstbaren Geister, die Widmers Imaginationskraft befeuert haben.

Ein Zwergenbuch für Erwachsene - denn ein Kinderbuch ist es beileibe nicht, allenfalls geeignet für dem "Zwergenalter" entwachsene Kinder - da mag die eine oder andere Runzel der Skepsis manchem Leser die Stirn furchen. Doch schon bald nistet sich ein Lächeln in den Mundwinkeln ein. Mit einem feinsinnigen Humor und einer brillanten Leichtigkeit des Erzählens lässt Urs Widmer seinen Zwerg zu uns sprechen. Über sein abenteuerliches Leben als Zwerg zum Beispiel, sein Erkunden und Erforschen der Umwelt. Ob nun beim Erproben neuer Kletterrouten an der Hauswand, ob beim Erkunden des verzweigten Gangsystems der Gartenmäuse oder ob beim Wettschwimmen im reißenden Bach, immer wieder verhauchen seine Sätze einen zarten Märchenduft, dazu angetan, längst verschüttete Emotionen unserer Kindheit zu nostalgischem Leben zu erwecken.

Und nicht nur über Sitten und Gesetze in der Zwergenwelt erfahren wir etwas, auch über uns Menschen hat der Zwerg einiges zu sagen, vor allem natürlich über Uti (Urs Widmer), dem er ja von Kindheit an ein treuer Gefährte war. Unverblümt, doch beseelt von einem guten, einem menschlichen Geist, der sich hier in exquisiter Weise offenbart, lässt der Autor seinen Lieblingszwerg berichten. Ironisch, satirisch, doch frei von jeglichem Zynismus. Eine gesunde Portion Selbstironie sorgt bisweilen für eine pikante Note, manchmal auch mit makabrem oder frivolem Beigeschmack: "Seine (Utis) Tage sind gezählt, die Wetten gehen nur noch, ob 300 oder 3000", sagt der Zwerg. Frivol wird es, als die Zwerge zufällig Zeugen werden, wie die menschliche Reproduktions-Maschinerie, bestehend aus einem grunzenden Papi, einer stöhnenden Mami, quietschenden Bettfedern und ächzendem Holzrahmen, hingebungsvoll ihre Arbeit verrichtet.

Alle in allem ist "Ein Leben als Zwerg" das Evangelium eines warmen, nachsichtigen, menschlichen Humors, gepredigt aus der Zwergenperspektive. "Du beginnst erst zu leben, wenn du das Glück eines anderen geworden bist, wenn ein Kind dich anschaut", sagt der Zwerg. Diese und andere Zwergenweisheiten wie beispielsweise "dass, wenn die Handlung nicht dem Befehl folgt, der Befehl der Handlung folgen muss", ließen sich auch auf das Zusammenleben der Menschen übertragen. Was lehrt uns dieses Buch? Vielleicht ein bisschen mehr Bescheidenheit zu üben, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, sich seiner Zwergenhaftigkeit bewusst zu werden? Ganz nebenbei erfahren wir auch noch, dass Uti seine Schreibmaschine sogar einmal aus dem Fenster warf, nur weil ihm eine Geschichte nicht gelingen wollte. Na, diese Geschichte hier ist ihm jedenfalls gelungen.

(Werner Fletcher; 03/2006)


Urs Widmer: "Ein Leben als Zwerg"
Diogenes, 2006. 192 Seiten.
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