Urs Widmer: "Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das"
Frankfurter Poetikvorlesungen
"Scheitern.
Neu beginnen.
Besser scheitern." (Beckett)
Jeweils rund 1200 Zuhörer lockte der Schweizer Autor Urs
Widmer in seine
Frankfurter Poetikvorlesungen, die er im Januar und Februar 2007 in der
Frankfurter Universität gehalten hat. Und kaum ein
Zuhörer wird wohl sein
Kommen bereut haben müssen, sprudelte doch dort im
Hörsaal ein Born
durchgeistigter Beredsamkeit aus dem Dichter heraus, ganz gleich,
über welches
Thema er sich gerade ausgelassen hat. Und es ist ein guter,
menschlicher und
humorvoller Geist, der aus Widmers Worten spricht. Urs Widmer
verfügt also
nicht nur über Souveränität im schriftlichen
Ausdruck, er verfügt
anscheinend auch über eine eloquente Liquidität des
gesprochenen Wortes.
Leicht wie Federbälle und doch schwer an Bedeutung, erreichen
seine Worte die
Aufmerksamkeit des Hörers, oder, diejenigen betreffend, die an
den Frankfurter
Veranstaltungen nicht teilnehmen konnten, das Verständnis des
Lesers.
In seiner ersten Vorlesung hat er sich das Abweichen von der Norm zum
Thema
erkoren. Genauer, das Abweichen von der Sprachnorm, denn genau das ist
es, was für
ihn die Poesie ausmacht. Dichten, so sagt er, ist stets ein gewisses
Abweichen
von der Norm, es heißt, den Gedanken eben nur um eine Nuance
anders
auszusprechen als es in der alltäglichen Gebrauchssprache
geschieht. Abweichen
von der Norm der Sprache kann man natürlich auch noch anders
als im poetischen
Sinne verstehen. Und auch darüber spricht Urs Widmer,
über eine andere Form
des Abweichens, über die Verhunzung und Einbetonierung der
Sprache in eine
Begriffskorsett faschistischer Prägung wie zu Zeiten der
Nazi-Diktatur in
Deutschland, als die deutschen Dichter quasi heimatlos wurden. Und dann
nimmt
Widmer den in unserer heutigen Zeit grassierenden, mit
unsäglichen Anglizismen
angereicherten Jargon aufs Korn, dessen sich beispielsweise die
Werbebranche
bedient, einem Jargon, dem der Autor sogar einen
präfaschistischen Beiklang
attestiert: "Wieder (wie im Nationalsozialismus) werden wir
mit einer an
Macht interessierten Als-ob-Sprache konfrontiert, die, erneut (wie
1945) so
etwas wie einen Kahlschlag benötigte." Ein
Plädoyer zugleich für die
Reinheit der Sprache in dem einen, als auch für das Abweichen
im anderen, im
poetischen Sinne.
Das Leiden der Dichter ist Gegenstand der zweiten Vorlesung. Widmer
spricht vom
Leiden während des Schaffensprozesses, von der Ambivalenz
jeglicher Dichtung,
auch von der gefahrvollen Nähe
vieler Dichter zum Wahnsinn.
Und dann kommt er
auf Freud zu sprechen, der damals eine große
Umwälzung, einen regelrechten
Einschnitt in der Literatur ausgelöst hat. Weil Freud
nämlich im
Unbewussten
zu wildern begann, dem Revier, der Domäne, die von jeher den
Dichtern und nur
den Dichtern vorbehalten schien.
"Vom Traum, namenlos mit der Stimme des Volkes zu singen."
So
betitelt ist Widmers dritte Vorlesung, wo er unter anderem eine
Laudatio auf
seinen Landsmann und Schriftstellerkollegen
Gottfried Keller
hält. Auch um das
Scheitern geht es in dieser Vorlesung. Um das Scheitern als
unausweichliches Los
eines jeden Dichters, von
Samuel
Beckett auf die einfache Formel gebracht: "Scheitern.
Neu beginnen.
Besser scheitern." Und diese Formel könnte fast als
ein Leitfaden für
die fünf Frankfurter Vorlesungen herhalten.
Die Fantasie, der Größenwahn, das
Gedächtnis, das Leben und der Tod teilen
sich als Themen-Ensemble die Plattform für die vierte
Vorlesung. Wie ist es nun
um die Harmonie in diesem Quintett bestellt? Laut Urs Widmer ist die
Fantasie
oftmals nichts anderes als ein besonders gut funktionierendes
Gedächtnis. Und
den Größenwahn
bezeichnet er als einen recht hemmungslosen Teil unserer Fantasie, der
auch und
vor allem im Leben der Dichter von einer Art heimlicher
Größenhoffnung genährt
wird und nicht immer zwangsläufig aus
Selbstüberschätzung entstehen muss. Als
er über den Tod und das Leben sprechen will, da war seine
Redezeit abgelaufen. "Mein
Unbewusstes hat es erneut geschafft, dem Tod aus dem Weg zu gehen",
gesteht er seinen Hörern ein. Urs Widmer kommt aber in diesem
Zusammenhang noch
einmal auf die Ambivalenz literarischer Texte zu sprechen: "Ein
literarischer Text ist immer ambivalent. In allem steckt auch sein
Gegenteil.
Wenn die Literatur so intensiv an den Tod denkt, meint sie genauso
heftig das
Leben." Und er beschließt seine vierte Vorlesung
mit den Sätzen: "Im
wirklichen Leben siegt der Tod. Aber in der Literatur siegt das Leben."
Mit der Darstellung eines der machtvollsten Mythen der
Menschheitsgeschichte
endet dann die Vorlesungsreihe mit Urs Widmer. Er erzählt uns
die Geschichte
vom König Ödipus, und allein die Art, wie
er uns diesen Mythos nahe bringt,
ist schon ein starkes Argument für den Kauf dieses Buches. In
der Tat ein
lesenswertes, sehr unterhaltsames Buch. Die Vorlesungen, die hier in
gedruckter
Form erscheinen, sind mit ungezwungener Nonchalance gehalten, trotzdem
sind sie
gehaltvoll genug, um auch über den Tag hinaus zu wirken. Nun
ja, da der
Buchtitel das Leben und den Tod ins Zentrum rückt, der Leser
hier aber nur
wenig über dieses essenzielle menschliche Thema
erfährt, verspricht er etwas,
was er nicht ganz erfüllen kann. Dies schmälert aber
nicht den Wert des
Buches. Unzählige Fragen, die das Leben und den Tod
berühren, sind ja auch
schon gestellt worden. Und mit welchem Ergebnis? Alle bisherigen
Versuche, schlüssige
Antworten zu finden, verhauchten mitsamt den Fragen im Ungewissen.
(Werner Fletcher; 09/2007)
Urs
Widmer: "Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch
dies und das.
Frankfurter Poetikvorlesungen"
Diogenes, 2007. 160 Seiten.
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